Mitglied
- Beitritt
- 21.04.2016
- Beiträge
- 36
Die Zeit und das kleine Mädchen
Die Zeit und das kleine Mädchen
„Hanna, wo steckst du? Hockst du etwa wieder in deinem Zimmer und liest, anstatt nach draußen auf den Spielplatz zu gehen?“ „Mama, ja ich bin in meinem Zimmer und habe einfach keine Lust, nach draußen zu gehen. Mein Buch ist gerade so spannend.“ „Du hast es mir aber gestern versprochen, dass du heute an die frische Luft gehen wirst. Es kann doch wohl nicht sein, dass du die ganzen Ferien im Haus verbringst. Hurtig, mach dich auf den Weg und keine Widerrede.“ Missmutig schnappt sich Hanna ihren kleinen Stoffhasen, zieht ihr Cloqs an und stiefelt ohne ein weiteres Wort davon – aber nicht zum Spielplatz sondern zum Park.
Da sitze ich nun gemütlich auf einer Parkbank. Habe die Beine von mir gestreckt. Schaue in den fast blauen Himmel und begebe mich auf einer kleinen Wolke auf die Reise. Langsam, ganz langsam atme ich tief ein und aus. Ich wäre darüber fast eingeschlafen. Wäre schlecht. Denn wenn ich schliefe, stünde doch die Welt still. Oder nicht?
Mitunter schleiche ich mich leise an die Menschen heran. Auf manche wirke ich geheimnisvoll. Kann aber auch durchaus mahnenden Charakter annehmen.
„Hey, Alte, was sitzt du denn da so versonnen? Scheinst ja mächtig Zeit zu haben.“ Ein pickeliger, schlaksiger Bengel schmeißt sich neben mich auf die Bank, dass diese nur so im Gebälk kracht und ich Angst habe, mit ihr – samt pickeligem Burschen – umzukippen.
„Ich habe nicht nur mächtig Zeit, nein, ich bin die Zeit persönlich.“ Mein Nebenan reißt die Augen auf und starrt mich fassungslos an. „Ay, das ist ja krass. Ich wusste gar nicht, dass die Zeit gestreifte Pullover trägt. Und überhaupt, seit wann kann die Zeit reden? Ich glaub, mein Schwein pfeift.“ „Mal nicht so lässig junger Mann. Hast du schon einmal darüber nachgedacht, was ihr ohne mich tätet? Die Welt würde im Chaos versinken. Nichts käme mehr zusammen. Ihr Menschen könntet einander nicht mehr verabreden und euch somit nicht mehr treffen und heute, morgen, nächste Woche oder das Jahr. All´ das gäbe es nicht. Wie sollte denn dann noch etwas funktionieren?“
Der Bursche neben mir springt auf, reißt sein Skateboard an sich, bedenkt mich mit mitleidigen Blicken und murmelt im Weggehen: „Die Alte hat den Schuss wohl nicht gehört. Die ist ja völlig irre. Hoffentlich ist die nirgendwo entwichen.“
Traurig blicke ich ihm nach. Der hat nichts begriffen.
„Nanu, was zupft an meiner Jacke?“ Ich sehe mich um. Ein kleines Mädchen steht hinter der Bank, nimmt meine langen, grauen Haare in seine kleinen Händchen und sieht mich mit großen, neugierigen Kinderaugen fragend an. „Wer bist denn du? Dich habe ich hier noch nie gesehen. Du kommst mir sehr klug und weise – und vor allen Dingen – sehr alt vor. Musst du bald sterben?“
„Setz dich zu mir, dann werde ich deine Fragen beantworten. Zuerst einmal, ich bin die Zeit und ich bin alt, sehr alt. So alt wie die Menschheit. Sterben werde ich dann, wenn es keine Menschen mehr geben wird. Denn dann braucht mich Niemand mehr. Klug, ja ich bin sehr klug. Ich kann mich auf jede Situation einstellen. Mich gibt es überall. Auf der Erde, im Himmel, auf den Bergen, in Baumwipfeln, im Puppenwagen, in der Schule, am Arbeitsplatz und sogar im Kindergarten. Überall, wo die Menschen sind, da bin auch ich. Mir gehorchen die Menschen, die meisten jedenfalls. Ich bin sehr mächtig. Allerdings gibt es auch Menschen, in der Hauptsache Kinder, die mich missachten oder sogar nicht mögen. Was ich aber gar nicht verstehen kann: warum könnt ihr nicht mit mir umgehen? Schließlich habt ihr mich geschaffen. Ihr habt mir eine Norm gegeben. Mich eingeteilt in Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Monate und Jahre. Ich will euch helfen. Ich bin für euch da, nicht ihr für mich. Und immer wieder hört man von euch Menschen: ich habe keine Zeit. Das stimmt doch aber nicht. Ich bin immer da. Also hat man auch Zeit. Wenn jemand sagt, er habe keine Zeit. So ist das einfach nur ein Zeichen dafür, dass er nicht sinnvoll mit mir umgehen kann.“
Das kleine Mädchen blickt mich an, tippt sich an die Stirn und sagt: „Ich glaube, ich habe dich verstanden. Du willst uns helfen, uns im Alltag zurechtzufinden und sinnvoll mit dir umzugehen. Das find ich gut. Jetzt muss ich aber nach Hause. Meine Mama wartet mit dem Mittagessen auf mich. Wenn ich zu spät komme, gerät sie wieder in Panik. Adieu.“ Das Mädchen steht auf, umarmt mich und macht sich fröhlich hüpfend von dannen, blickt auf ihr Häschen und sagt: „ Hasi, wenn ich es vergessen sollte, wie man richtig mit der Zeit umgeht, wirst du mich sofort daran erinnern. Versprochen?“
Nachdenklich blicke ich dem Kind hinterher. Ob es mir wohl gelungen ist, einem Menschenkind den richtigen Umgang mit mir nahe zu bringen? Ich strecke meine dünnen Beine, stehe auf und schüttele mich ein wenig. Jetzt mache ich auf in eine andere Stadt. Ich habe eine große Mission zu erfüllen.
„Mama, ich bin wieder zu Hause. Es war sehr schön draußen, und ich hab was ganz Tolles erlebt. Auf einer Parkbank hat die Zeit gesessen und ich habe mich wunderbar mit ihr unterhalten. Ich weiß jetzt, wie man richtig mit der Zeit umgeht.“ „Hanna, jetzt halt doch mal deine unbändige Fantasie im Zaum und wasch dir vor dem Mittagessen die Hände.“