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Die Zeit der Ratten
„Findest du nicht, dass du ein bisschen übertreibst?“, fragt Papa.
Jedes Mal wenn wir zusammen Essen gehen wieder das selbe Thema.
„Der Klimawandel bringt uns alle noch ins Grab. Das Wetter wird immer extremer und ein großer Sturm kann im ganzen Land den Strom ausfallen lassen“, erwidert Mama.
Ich lasse die Schultern hängen und schaue auf mein Essen. Das Lamm erscheint mir spannender als die Gespräche.
„Jetzt mach dem Jungen doch nicht solche Angst“, deutet Papa meine Körperhaltung falsch und steckt sich eine Gabel Fleisch in den Mund.
„Er muss beim Gespräch teilhaben. Es ist schließlich seine Zukunft.“, meint Mama, wird aber von Papa unterbrochen, der sich verschluckt hat. Er hustet und hustet und hustet…
Ich wache auf. Kurz muss ich mich orientieren. Die Erinnerungen an den Traum, an die Zeit vor dem Blackout verblassen. Immer noch hustet jemand. Ich drehe mich auf die andere Seite und sehe, wie sich Papa auf seiner schmutzigen Matratze schüttelt. Ich lege eine Hand auf seine Stirn. Glühend heiß! Endlich hört er auf zu husten und fällt zurück in sein mit Gestöhne durchsetztes Delirium. Ich greife nach der Flasche neben dem Bett. Das Wasser geht zur Neige. Später werde ich auch zum Fluss gehen, um es aufzufüllen. Ich flöße Papa langsam die letzten Tropfen in den Mund. Schluck für Schluck. Die Flasche hat längst kein Etikett mehr doch an der charakteristischen Form lässt sich erkennen, dass früher mal Cola darin war. Den Geschmack habe ich längst vergessen, obwohl es einst mein Lieblingsgetränk war. Das letzte bisschen Flüssigkeit verlässt die Flasche.
Ich packe sie in meinen Jutebeutel und gehe zum Ausgang. Neben dem Türrahmen liegt mein schwarzer Umhang, der mich schon lange begleitet und mich jede Nacht in der Finsternis verschwinden lässt. Ich werfe einen letzten Blick auf Papa. Lange hält er nicht mehr durch, denke ich und schleiche in die Dunkelheit.
Ohne Papa hätte ich nicht so lange überlebt. Er war Biolehrer. Früher hatte er mir alles mögliche über verschiedene Pflanzen, Biosphären und das Immunsystem erzählt. Ich erinnere mich noch genau daran, was er am letzten Abend vor dem Blackout alles sagte: „… und wenn der Körper von Bakterien befallen wird, dann heizt er sich auf, bekommt Fieber und tut alles, um die lästigen Biester loszuwerden, die versucht haben, ihn zu zerstören…“ Ich habe auf eine Schulaufgabe gelernt, doch die habe ich natürlich nie geschrieben.
Nachdem die Lichter ausgingen sind wir erst Mal in den Wald geflüchtet. Hier konnte Papa mit seinem Wissen über Pflanzen Punkten. Bis zum verhängnisvollen Tag blieben wir dort. Ich erinnere mich noch genau. Papa hielt gerade eine rote Beere hoch und erklärte mir: „Schau hier! Das ist eine Johannisbeere. Die ist zwar ein bisschen sauer aber nicht giftig“. Ich nickte und sah mir den Strauch genauer an, prägte mir die Form der Blätter ein, probierte auch ein paar Beeren. Wirklich verdammt sauer. Da hörte ich ein Rumpeln hinter mir. Ruckartig drehte ich mich um und sah Mama am Boden liegen. Papa war mit einem Satz bei ihr.
„Alles gut?“, fragte er aber Mama antwortete nur leise und sehr stockend:
„Mir … ist … schwindelig“
Viel länger schaffte sie es nicht. Das war vor drei Monaten. Doch nun hatte es auch Papa erwischt. Er hatte mir viel beigebracht, aber noch viel mehr wusste ich noch nicht.
Ich will gerade um eine Ecke gehen, als ich ein leises Geräusch höre. Ich luge an einer Wand vorbei und sah zwei rangelnde Gestalten. Einer der beiden hält ein Bündel in der Hand. Der Form und Größe nach vermutlich eine gebratene Taube.
„Du nimmst mir nicht mein Essen weg du kleiner …”. Weiter kommt der Mann nicht, denn der andere rammt ihm einen kleinen schimmernden Gegenstand in die Brust. Mit einem Grunzen geht er zu Boden und lässt die Taube fallen. Hoffentlich gibt sich der andere damit zufrieden, denke ich, dann könnte ich mich auch bedienen. Doch leider hat der andere die gleiche Idee. Er fängt an Stück für Stück Fleisch aus der Leiche zu schneiden. Schade! Dann muss ich mir wohl selber etwas zu essen suchen.
Wann hatte ich wohl zum letzten Mal etwas Leckeres gegessen? Wahrscheinlich vor dem Blackout. Vermutlich an jenem Abend, an dem alles zusammenbrach. Mama, Papa und ich saßen vor dem Fernseher und redeten über den Sturm, der gerade über das Land zog. In den Nachrichten wurde er als Jahrhundertsturm bezeichnet.
„Ist das nicht schon der vierte Jahrhundertsturm in den letzte zehn Jahren?” witzelte Papa. Tatsächlich wurde erstaunlich oft über Jahrhundertstürme berichtet. Ein Orkan schlug den letzten um Längen.
„Es wird immer schlimmer”, sagte Mama mit einem besorgten Blick.
Dann ging das Licht aus.
„Okay, dann hole ich Mal Kerzen aus dem Keller, damit wir was sehen bis die das wieder anschalten“, reagierte Papa ganz gelassen. Mama war nicht so überzeugt.
„Hol auch die Eimer. Füllen wir sie mit Wasser, so lange die Leitungen noch funktioniert“
„Jetzt sei doch keine Schwarzmalerin“, versucht Papa sie aufzuheitern aber Mamas Miene änderte sich nicht. Und nach einiger Zeit konnte auch Papa seinen Optimismus nicht mehr aufrecht erhalten.
Ich sehe eine kleine Bewegung. Still bleibe ich stehen und schaue zu der Stelle, wo ich die Regung gesehen habe. Da! Schon wieder! Ich erkenne das, wofür ich gekommen bin und lächle. Mit einer geübten Bewegung greife ich nach der Ratte. Sie zappelt in meiner Hand und versucht zu beißen aber mein Griff sitzt perfekt. Sie hat keine Chance, als meine Hand über ihr Genick fährt.