Die Zeit dazwischen
Im Alter von zwölf Jahren änderte sich das Leben von Jan grundlegend. Dabei blieb alles, was er kannte so, wie es war. Er führte seit Jahren das Leben eines hochbegabten Wunderkindes, studierte bereits am Konservatorium und verbrachte den größten Teil seiner Kindheit und Jugend am Klavier.
Seine ältere Schwester, die eine Vorliebe für Haflinger und eine Abneigung gegen seine Etüden hatte, bildete sich ein, als begnadete Schauspielerin in die Annalen der Kinogeschichte einzugehen. Doch seine Eltern, verhext von den fließenden Melodieströmen, die von seinen Fingerspitzen tropften, ignorierten ihre dramatische Tochter und förderten nur ihren Sohn.
Die Veränderung begann schleichend und betraf ein von ihm bisher wenig beachtetes Organ. Zu seinem Leidwesen wurde er nicht von einem Tag auf den anderen zu einem richtigen Mann. Im Gegenteil, seine Stimme erstrahlte noch im glockenreinsten Sopran und die ersten Bartstoppeln lagen Meilen von seiner Hautoberfläche entfernt, in der Tiefe seines vorpubertären Körpers. Auch die ersehnte Reife der anderen, noch wichtigeren Körperpartien trat nicht über Nacht ein. Nur das, was er bisher nicht gekannt hatte, veränderte sich. Sein Bewusstsein. Es war so, als würde ihm etwas davon abhanden kommen. Zuerst fehlte ihm nur die Millisekunde, die ein Augenlid benötigt, um die Hornhaut zu befeuchten. Doch aus dem Wimpernschlag wurde eine Sekunde, dann wurden es zwei, bis ihm plötzlich auffiel, dass ihm ganze Worte oder Satzfetzen der anderen entgingen.
Seine Familie merkte lange nichts, denn Jan entwickelte geschickte Strategien, die von seinen Aussetzern ablenkten. Mal täuschte er Unaufmerksamkeit vor, mal akustische Verständnisprobleme. Doch es wurde immer klarer, dass ihm Zeit fehlte. Oder das Bewusstsein der Zeit. Er spielte beispielsweise seiner Klavierlehrerin gerade ein Stück vor und wunderte sich über ihren empörten Blick. Hatte er doch eine Note zu lange gehalten oder eine falsche Pause gemacht und dann einfach weiter gespielt. Dazwischen fehlte ihm ein Stück. Filmriss, Time-out oder Black-out, wie auch immer er diese Aussetzer nannte, sie begannen, ihm allmählich Angst zu machen.
Eines Morgens, als er sich beim Zähneputzen gerade über das Waschbecken beugte, fand er sich im nächsten Moment darunter liegend, mit Blick auf das prosaisch gebogenes Edelstahlgemächt. Das Gesicht seiner Schwester, das üblicherweise den gleichzeitig groben und treuherzigen Ausdruck eines Pferdes innehatte, blickte mit vor Schreck geweiteten Nüstern auf ihn herab. „Mamiiii!“, erscholl ihr gellendes Gewieher und damit wusste nun die gesamte Familie Bescheid. Ein Anfallsleiden wurde diagnostiziert, doch das half ihm auch nicht weiter. Die Medikamente machten ihn müde und so nahm er sie nur unregelmäßig. Viel mehr beschäftigte ihn, was wohl in seinem Gehirn in der Zeit dazwischen passierte, und wozu das alles gut sein sollte. Seine Eltern waren alarmiert. Sie kontrollierten ihn von früh bis spät und machten sich gegenseitig Vorwürfe.
Eines Tages entdeckte er, dass er die Anfälle auch selber provozieren konnte. Es war während eines dieser elenden Konservatoriumskonzerte, bei denen sich jeder Student profilieren will. Er begleitete eine walkürenhafte Blondine, die eine Mozartarie vortrug. Das Mädchen war ein einziger Klangkörper. Ihr üppiger Busen vibrierte, während sie mit Leidenschaft ihren Kehlkopf die Tonleiter hinauf und wieder hinunter hüpfen ließ. Ihre aus der Hochsteckfrisur gelösten Haarsträhnen standen energiegeladen und zitternd vom Kopf ab, während ihre penetrante Stimme sich spitz durch Jans Trommelfelle bohrte. Als sie während einer Solopartie seine Gehörgänge wiederholt mit fiependen hohen Cs traktierte, hielt er in seinen zehn Takten Pause einfach die Luft an. Pünktlich auf seinen Einsatz fiel er mit der Nase auf die Tasten und beendete damit ihren Vortrag und seine Karriere. So schien es.
Er hatte eine mächtige Waffe im einsamen Kampf um seine Freiheit entdeckt und er nutzte sie häufig. Was ihm vorher wie verloren gegangene Zeit erschien, war nun die beste Investition seines Lebens. Je höher die Frequenz seiner Anfälle, desto geringer die der Übungsstunden. Die dunklen Minuten zwischen seinen Realtime-Abschnitten wurden ihm tausendfach in Freizeit vergolten. Seine Eltern drängten ihn nicht mehr, seine Lehrer wurden nachsichtig. So verbrachte er die nächsten Jahre seines Lebens zwar weiter mit Musik, aber in einer Art, die ihm besser lag, Freude machte und ihn von den Widrigkeiten in seinem Leben ablenkte. Sein Testosterongedopter Körper suchte nach bunten, weich wippenden Ablenkungen, sein Geist revoltierte in der Erwachsenenwelt. Wenn es hart auf hart kam, sei es mit den Eltern oder mit seinen Musiklehrern, hielt er einfach die Luft an und zog sich hinter seine heftig pickelnde Stirn zurück
Nach jahrelanger Übung, als sein Bart die Wangen mit ansehnlichen Kotletten zierte und die Tonlage seiner Sprechstimme sicher den Bariton erreicht hatte, wollte er die musikalische Diktatur seiner Klavierlehrerin, die ihn mit Klassik zu knebeln versuchte, für immer beenden. Doch solange er auch die Luft anhielt, sosehr er auch auf die hypnotisierend auf und ab springenden schwarz-weißen Tasten unter seinen Händen starrte, der Anfall blieb aus.
„Was guckst du denn so komisch?“ fragte sie nur.
„Ach nichts“, war seine enttäuschte Antwort.
Genauso unerwartet, wie sie aufgetreten, so waren seine Anfälle also wieder verschwunden. Von einem Tag auf den anderen.
Was blieb war seine musische Gabe und seine innere Freiheit.
Und eine glänzende Zukunft als gefeierter Jazzpianist.