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Die Zeit danach (Neubearbeitung)
Eine neuere Version befindet sich weiter hinten in diesem Thread: Direktlink
Die Dämmerung ist eingekehrt. Die Schatten werden zunehmend größer und bald würden auch die letzten Sonnenstrahlen von der Finsternis verschluckt werden.
Kira geht gemächlich die menschenleere Straße entlang. Mit betrübtem Blick sieht sie zu Boden. Der eisige Dezemberwind schlägt ihr beißend entgegen und Schneeregen nieselt herab. Doch das achtzehnjährigen Mädchen stört es nicht, von ihm getroffen zu werden. Nicht mehr.
Aus der Ferne ertönt leise die erste Strophe von "O du fröhliche ...". Es ist wenige Tage vor Heiligabend. Kira kommt es beinahe grotesk vor, die friedvollen Töne des Weihnachtsliedes zu hören. Sie sind nicht angemessen, findet sie. Nicht nach alledem, was in den letzten Jahren geschehen ist.
Ihre glasigen Augen starren ausdruckslos den meist verlassenen und oftmals zerstörten Gebäuden entgegen. Die Erinnerungen schmerzen und die Bilder der Furcht und des Elends gehen ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Damals, als der Krieg vor fünf Jahren begann, war Kira zusammen mit ihrer Mutter und ihrem jüngeren Bruder Stefan aus Angst vor Anschlägen von zu Hause geflüchtet. Ihr Vater war zu dieser Zeit schon lange an einem Auslandseinsatz der Bundeswehr tätig.
Er wird noch immer vermisst.
Im Laufe des ersten Kriegsjahres, als sich neben mehreren europäischen Staaten auch die USA an den Auseinandersetzungen beteiligten, geriet die Familie in einen Hinterhalt. Seitdem war Kira auf sich alleine gestellt.
Die Weihnachtsmusik erklingt nur noch gedämpft. Kira hört sie gar nicht mehr richtig, als sie an den kahlen Bäumen am Straßenrand entlang geht. Geistesabwesend und beinahe zögernd nähert sie sich der Kaiserbrücke, die in das ehemalige Neubaugebiet der Stadt führt.
Vier Monate vergingen, in denen das Mädchen niemanden an ihrer Seite hatte.
Dann kam es zu den gefährlichsten und folgenschwersten Anschlägen, die die Bevölkerung je erlebt hat. Kernwaffen waren zum Einsatz gekommen.
Und während in dem vorsätzlichen Akt der Vernichtung Millionen von Menschen das Leben genommen wurde, lernte Kira ein Mädchen kennen, das ein ähnliches Schicksal wie sie selbst durchmachen musste.
"Egal, was geschieht", sagte sie einmal zu ihr, "wir dürfen niemals die Hoffnung aufgeben. Die Hoffnung auf Frieden."
Kira fiel es schwer, Zuversicht zu empfinden.
Als die beiden sechs Monate später über Fieber, Kopfschmerzen und Bauchweh zu klagen hatten, endete ihre gemeinsame Reise in einem behelfsweise eingerichteten Pflegeheim für strahlenkranke Kinder, das sich mit solchen und weiteren aufgetretenen Symptomen wie Magen- / Darmstörungen und inneren Blutungen auseinander setzt. Die Mädchen sind bis heute dort und die Zeit in der Anstalt ist für Kira unerträglich geworden. Es fällt ihr schwer, das Wehklagen und Weinen der anderen, oftmals jüngeren Kinder noch zu ertragen.
Mehrere Monate ist es nun her, seit 2036 nach fünf Jahren Gewaltherrschaft offiziell das Ende der Auseinandersetzungen erklärt wurde. Der Krieg ist vorbei, aber Kira kann nur wenig Erleichterung empfinden, sondern fühlt vielmehr eine tiefe, nie gekannte Leere in sich.
Die Musik ist verklungen. Unbeirrt setzt Kira ihren Weg durch den Schneematsch fort. Sie ist in eine Pfütze getreten, aber sie merkt es nicht. Noch immer wird sie von den gleichmäßig fallenden Tropfen des verseuchten Strahlenregens getroffen.
Die Ärzte schätzen Kiras weitere Lebenserwartung auf drei bis acht Jahre.
Sie weiß nicht, wie viele Millionen Menschen in den letzten Jahren getötet wurden. Die Zahl der Betroffenen musste ein noch nie da gewesenes Ausmaß angenommen haben. Die meisten fielen der atomaren Massenvernichtung zum Opfer.
Bedenkt man die strahlenkranken Menschen, die im Laufe der Jahre durch die Spätfolgen von Leukämie und den weiteren Krebsarten zu Grunde gehen werden, wird sich die Dunkelziffer der Verstorbenen noch vervielfachen.
Es fällt dem Mädchen schwer, zu begreifen, was geschehen ist. Häuser und Bauwerke liegen in Schutt und Asche; Boden, Luft und auch Nahrungsmittel sind für Jahrzehnte durch die ionisierte Strahlung verseucht. Tatsachen, die Entsetzen in Kira auslösen und sie fragt sich, was das Leben jetzt noch für einen Sinn haben soll.
Das leukämiekranke Mädchen trägt eine hellblaue ausgewaschene Jeanshose, eine weiße verschmutzte Bluse und eine dicke Winterjacke. Ihr Kopf ist mit einer Wollmütze bedeckt, die ihr einst ihre Mutter gestrickt hat und die sie seit ihrem Haarausfall, einer Nebenwirkung der Chemotherapie, oft trägt.
Eine Glatze zu haben ist kein Einzelfall, doch Kira erträgt den Gedanken nicht, ihr restliches Leben so herumlaufen zu müssen. Einige Male spielte sie mit dem Gedanken, eine Perücke zu tragen, doch sie verwarf die Idee jedes Mal gleich wieder. Kein künstliches Haar der Welt kann echtes ersetzen. Vielmehr verharmlost es nur die schreckliche Tragödie und bestärkt das Vergessen an die geschehenen Grausamkeiten.
Scheinbar unendlich weit zurückliegende Erinnerungen an die Zeit vor dem Atomkrieg kommen in Kiras Gedanken auf und sie denkt an ihre glückliche Kindheit zurück.
Wie sie mit ihren Eltern und Stefan einen gemeinsamen Fahrradausflug ins Grüne unternahm und die Familie im Wald picknickte, wie sie mit ihren Freundinnen heimlich im Nachbargarten Kirschen klaute oder wie sie und ihre Klasse an heißen Sommertagen eher Schulschluss hatten und ins Freibad gingen.
Sie entsinnt sich an die unternommenen Urlaubsreisen nach Rom oder Kreta, an den Strand und das Meer. Ihre Hobbys wie Schwimmen, Tischtennis spielen und Lesen, mit denen sie viel Zeit verbrachte, fallen ihr wieder ein und ein melancholisches Lächeln gleitet über ihre Lippen.
Kira kann nicht glauben, dass seitdem nur wenige Jahre verstrichen sind. Jahre der Angst, des Terrors und der Trauer. Und die sinnlose und quälende Frage nach dem Warum bleibt unbeantwortet.
Ihr Bruder Stefan starb im Mai 2034; ihre Mutter drei Monate später.
Die Hoffnung, ihren Vater wiederzusehen, hat das Mädchen aufgegeben. Wenn man sich als Soldat inmitten eines brodelnden Krisenherdes befindet, steht die Chance auf Überleben gleich null. In Gedanken sieht Kira seinen Namen bereits auf einem Gedenkstein für die gefallenen Kriegsopfer stehen.
Mittlerweile hat sie die Mitte der hohen Betonbrücke erreicht und starrt in den Horizont. Die Sonne ist bereits gänzlich verschwunden. Abgesehen von den klopfenden Regentropfen herrscht Stille.
Dann klettert das Mädchen mit pochendem Herzen über das massive Brückengeländer. Die sich dort angesammelten Schneeflocken fallen lautlos in die Tiefe. Noch immer laufen die vergangenen Lebenserinnerungen wie ein Film an ihrem geistigen Auge vorbei.
Sie ist nicht schwindelfrei und hastig versucht sie, den gefährlichen Gedanken, nach unten zu sehen und es sich im letzten Moment anders zu überlegen, zu verdrängen.
Doch es gelingt ihr nicht.
Sie schafft es nicht, zu springen.
Mit Tränen in den Augen steigt sie zurück auf den schmalen Gehsteig am Rande der Brücke.
Lange Zeit blickt sie verzweifelt in die unendliche Ferne und fragt sich, warum sie es nicht über sich gebracht habe.
Scheint tief in ihrem Herzen dennoch ein Funken Hoffnung zu keimen? Hoffnung auf eine bessere Zukunft?
© by Michael
Februar / September 2002