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Die Zauberin Kassandra
Es war einmal ein Mädchen namens Kassandra, das wollte unbedingt Zauberin werden. Doch keiner der Zauberer wollte sie als Schülerin nehmen, weil sie sagten, Mädchen taugten nicht zum Zaubern.
Nach langem Suchen fand sie endlich einen alten Zauberer, der so schwerhörig und fast blind war, dass er gar nicht bemerkte, dass er ein Mädchen unterrichtete.
Als die Lehrzeit zu Ende war, sagte der alte Zauberer:
„Kassander, deine Lehrzeit ist vorbei. Zieh nun hinaus in die Welt und suche dir einen Ort, an dem deine Künste gebraucht werden.“
Kassandra verabschiedete sich von ihrem Meister und zog in die nächste Stadt.
Dort ging sie zum Bürgermeister und sagte, dass sie Zauberin sei. Sicher habe er eine Menge Aufgaben für sie.
Der Bürgermeister blickte sie mit einem skeptischen Blick über seine silberne Brille hinweg an und sagte:
„Zauberin. Wirklich? Was könnt ihr denn?“
Darauf hatte Kassandra nur gewartet. Sie holte ihren Zauberstab unter ihrem blauen Umhang hervor, schwang ihn dreimal im Kreis und eine hell leuchtende Kugel schwebte im Raum. Sie war ziemlich hell, weil der alte Zauberer ja kaum noch etwas gesehen hatte.
„Das ist mir zu grell“, sagte der Bürgermeister und hielt die Hand vor seine Augen.
Kassandra schwang wieder ihren Zauberstab und machte die Lichtkugel dunkler.
„Wir haben einen Laternenmann“, sagte der Bürgermeister. „Der zündet die Lampen für zehn Groschen an.“
„Ich kann auch einen Feuerball zaubern“, sagte Kassandra schnell.
„Feuerball?“, fragte der Bürgermeister. „Keinesfalls! Ich möchte nicht, dass die Stadt abbrennt.“
So zog Kassandra frustriert wieder aus der Stadt hinaus. Sie hatte sich das Leben als Zauberin viel schöner vorgestellt. In der nächsten Stadt fragte sie den Bürgermeister: „Was benötigt ihr in dieser Stadt. Ich bin Zauberin und kann alles machen, was ihr wollt.“
Der Bürgermeister neigte seinen weißhaarigen Kopf zur Seite:
„Es gibt hier nur ein Problem: Ein Geist versperrt den Weg zu unserer wichtigsten Handelsstadt. Kein Händler will mehr dorthin fahren und wir bleiben auf unseren Waren sitzen.“
„Dann würdet ihr mir also eine Belohnung zahlen, wenn ich den Geist verjage?“
„Selbstverständlich“, sagte der Bürgermeister: „Sobald die Händler wieder durch den Eulenwald fahren, erhältst du zehn Goldtaler.“
Kassandra machte große Augen. Sie besaß gerade noch einen halben Silbertaler. Sofort marschierte sie mit ihrem Zauberstab in der Hand los und sah angestrengt zwischen die dunkelgrünen Nadelbäume. Allmählich wurde es dunkler und obwohl Kassandra keine Angst hatte, fühlte sie sich etwas bange. Sie wollte gerade ein Licht zaubern, als ein schreckliches heulendes Gespenst herangerauscht kam. Vor Schreck sprang Kassandra hinter einen Baum und zauberte auf gut Glück einen Feuerball in die Luft.
„Bums“, krachte es, doch das Gespenst war nicht im geringsten beeindruckt. Es flog eine Kurve und schwebte direkt auf Kassandra zu.
Hastig zauberte Kassandra einen neuen Feuerball auf das Gespenst: „Bums“, doch das Gespenst fing nur schaurig an zu lachen und wurde doppelt so groß. Grässliche grüne Zähne klapperten und Kassandra wurde eiskalt. Sie fasste ihren Zauberstab fester und ließ sie einen Windstoß auf das Gespenst los, doch auch das machte keinerlei Eindruck. Das Gespenst umkreiste Kassandra, ließ sie frieren und heulte ihr die Ohren voll. Der Zauberin blieb nichts anderes übrig, als wieder umzukehren, begleitet vom schaurigen Geheul des Gespenstes.
Zurück in der Stadt, erwartete sie bereits der Bürgermeister:
„Habt ihr es verjagt?“
Kassandra schüttelte den Kopf.
„Es ist ein wahrlich scheußliches Gespenst. Ich werde einen neuen Gespenster-Vertreib-Zauberspruch erfinden müssen. Könnte ich vielleicht einen Goldtaler Vorschuss haben, damit ich mir die notwendigen Bücher besorge?“
„Kommt gar nicht in Frage. Womöglich seid ihr nur ein Scharlatan.“
„Bin ich nicht!“ Kassandra zauberte erbost einen kleinen Feuerball.
„Gold gibt es auf jeden Fall erst, wenn das Gespenst vertrieben ist.“
Kassandra musste viele Leute fragen, ob sie ihr Geld borgen wollten, bis sie endlich einen reichen Händler fand, der ihr ein Zimmer und Geld gab, damit sie einen Gespenster-Vertreib-Zauberspruch erfinden konnte.
Kassandra studierte Bücher, kochte Tränke und ging einmal pro Woche in den Wald, um ihre neuesten Zaubersprüche gegen das Gespenst auszuprobieren.
Doch was immer sie auf das Gespenst zauberte, es ging einfach durch seinen durchscheinenden Körper hindurch.
Mittlerweile hatte Kassandra überhaupt keine Angst mehr vor dem Gespenst und hätte es, wenn es nicht so durchschienend gewesen wäre, am liebsten ordentlich verprügelt. Nach einem Monat voller Arbeit glaubte Kassandra, endlich den richtigen Zauberspruch gefunden zu haben:
Blitzgewitter, Krötenbrei
Gespenster kommt herbei.
Dass der Spuk ein Ende hat,
Befreit bist du von deiner Tat:
Ein Eissturm trägt dich fort,
erschein nie wieder an diesem Ort.
Mit wütender Stimme schleuderte sie diese Worte dem Gespenst entgegen, das sogleich herbeieilte, dann jedoch, als es weggeweht werden sollte, einfach innehielt, sich kurz lila verfärbte und dann wieder seine leicht grünliche durchsichtige Farbe annahm.
Wütend sprach Kassandra den Zauber ein zweites Mal. Sie merkte genau, dass ihre Worte eine Wirkung auf das Gespenst hatten, nur der letzte Teil wollte nicht klappen.
Sie knirschte mit den Zähnen.
„Und wenn ich hundert Jahre dafür brauche. Ich werde dich besiegen.“
Verfolgt von höhnischem Gelächter kehrte sie zurück in ihr Zimmer. Der reiche Händler kam ebenfalls gerade nach Hause.
„Gestern seid ihr so zuversichtlich losgeritten und heute ein hängender Kopf. Was ist passiert?“, fragte er.
„Ach“, sprach Kassandra, “es ist zum Heulen. Mein neuer Zauberspruch hat eine Wirkung auf das Gespenst. Es kommt herbei, doch ich kann es nicht fortschicken. Ich habe alle Arten von Feuer, Kälte, Wasser und Blitzen ausprobiert, doch das Gespenst merkt nicht das geringste davon. Zuletzt dachte ich, ich könnte es fortjagen, doch auch das hat nicht funktioniert.“
„Ein schwieriger Fall“, sagte der Händler und stützte seinen Kopf in große, dunkelfarbige Hände.
„Wenn ich ein Problem habe und meine Methoden funktionieren nicht, dann probiere ich es auf eine ganz andere Weise. Du wolltest das Gespenst zerstören oder wegjagen. Vielleicht kannst du es ja irgendwohin hinlocken, wo es keinen Schaden anrichtet.“
„Ja, das könnte klappen.“
Angestrengt überlegte Kassandra: Wenn sie das Gespenst einsperren könnte, würden der Wald wieder sicher sein. Aber worin schloss man ein Gespenst ein?
Kassandra war jetzt so arm, dass sie nur mehr ein einziges Glas voller Gurken zum Essen besaß und ein Stück Brot.
Das Gurkenglas war fest verschlossen.
„Ha!“, rief sie. „Das ist es!“
Sie leerte das Gurkenglas aus, und rannte wieder in den Wald. Als das Gespenst dieses Mal kreischend auf sie zuraste, sprach sie:
Blitzgewitter, Krötenbrei
Gespenster kommt herbei.
Dass der Spuk ein Ende hat,
Befreit bist du von deiner Tat:
Komm her, sei winzgklein,
lebst im Gurkenglas und bist jetzt mein.
Und schon war das Gespenst winzig klein und saß im Gurkenglas. Blitzschnell machte Kassandra den Deckel zu. Das Gespenst wollte wieder aus dem Gurkenglas heraus, doch Kassandra drückte den Deckel fest auf den Dichtgummi, und das Gespenst, das ja keinerlei Kraft hatte, hüpfte wütend im Gurkenglas hin und her.
Kassandra grinste das Gespenst an, das vor Wut heulte. Dann marschierte sie in die Stadt und zeigte das gefangene Gespenst dem Bürgermeister.
„Das Gespenst im Wald ist viel größer“ sagte er. „Für so ein Kleines bezahle ich nicht, auch wenn es ihm ähnlich sieht.“
Da ließ Kassandra das Gespenst heraus, das wütend auf den Bürgermeister losfuhr und ihm kreischend um den Kopf wirbelte. Der Bürgermeister machte den Mund auf, doch er brachte vor Angst kein Wort heraus. Das Gespenst war schrecklich wütend und wirbelte alle Papierblätter vom Schreibtisch durch den Raum. Heulend stürzte es sich dann auf Kassandra, doch die nahm ihren Zauberstab und zauberte das Gespenst zurück ins Gurkenglas.
Dort saß es nun und jammerte und heulte, während sich der Bürgermeister beeilte Kassandra ihre Belohnung zu zahlen. Der gefangene Geist machte sie auf einen Schlag berühmt und wenn immer irgendwo ein Gespenst auftauchte, wurde Kassandra gerufen. Schon bald hatte sie so viel Geld verdient, dass sie sich einen hohen Turm baute. Dort stand im größten Zimmer die gefangenen Geister in ihren Gurkengläsern, Töpfen oder Glasflaschen. Dort sprangen sie wütend hin und her, insbesonders wenn Kassandra sie den vielen neugierigen Leuten zeigte, die von weit her kamen, nur um die Gespenstersammlung der berühmten Geisterjägerin Kassandra zu sehen.