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Die Zahnbürstenhexe
Timo will nicht einschlafen. Letzte Nacht hatte er einen schrecklichen Traum. Eine fürchterlich aussehende und noch viel fürchterlicher grinsende Hexe hatte ihn, auf einem ausgefransten Besen, bewaffnet mit einer Zahnbürste, die ganze Nacht verfolgt. Schlimm war das. Ganz schlimm. Fast noch schlimmer als die allabendliche "Zähneputz"-Prozedur.
Timo, drei Jahre alt, hasst Zähne putzen. Warum nur braucht man Zähne? Und wenn sie halt nun mal da sind, weshalb müssen sie so sauber sein, dass man sich praktisch drin spiegeln kann. Völlig unnötiger Zeitaufwand. In dieser Zeit könnte man viel Vernünftigeres erledigen: Eis essen, die Katze erschrecken, Schnecken einsammeln und in unserem Briefkasten zu einer grossen Familie zusammenführen. Lauter ganz wichtige Dinge, die wegen solchem Firlefanz wie Zähneputzen auf der Strecke bleiben.
Jedenfalls weiss Timo eines: Diese Nacht will er unter keinen Umständen, auf keinen Fall, nie und nimmer, absolut nicht einschlafen. Dieser Zahnbürstenhexe will er nicht nochmals begegnen. Wenn er nur an die krumme Nase, das hämische Grinsen und überhaupt...er schaudert. Ganz viele Sekunden, das weiss er sicher, hat er es schon geschafft, seine müden Augen offen zu halten. Nicht mehr lange und die Nacht ist vorbei. Er rollt sich zur Seite. Nur ganz kurz, da wird schon nichts passieren. Die Hexe hat bestimmt schon Feierabend gemacht, als sie gesehen hat, wie tapfer sich Timo gegen den Schlaf wehrt.
Plötzlich sieht er eine große, schwarze Zahnbürste mit riesigen, kratzigen Borsten hinter einem dichten Busch hervorlugen. Dahinter hört er eine sehr unangenehme Stimme, die etwas noch viel unangenehmeres sagt: "Komm zu mir lieber Timo. Komm zu mir! Komm!!"
Timo ist zwar klein und unerfahren, aber dumm ist er nicht. Natürlich bleibt er wo er ist und hofft inständig, dass die Zahnbürstenhexe da bleibt, wo sie hingehört: Weit weg von Timo.
Plötzlich bewegt sich unmittelbar neben unserem tapferen, kleinen Mann eine Gestalt. Die Hexe! Timo versucht zu schreien, aber da er ja träumt, hört sich dieses Schreien eher wie ein heiseres Krächzen an. Er traut sich kaum, den Kopf auch nur für ein paar Millimeter zu drehen. Die Angst, in dieses fürchterliche Gesicht schauen zu müssen, ist viel zu groß.
Eine kleine, zottelige Gestalt bewegt sich in Richtung Busch. Zu der riesigen Zahnbürste.
Es ist nicht die Hexe. Es ist der innigstgeliebte Teddy Purzel. Sein kuscheliger, treuer Gefährte, der all die drei langen Jahre mit ihm durch dick und dünn gegangen ist. Zugegeben, er liegt lieber, aber wenns sein müsste, da ist sich Timo sicher, würde er auch gehen. Ausgerechnet jetzt steht er auf, sein kuscheliges Bärchen. In der Stunde der grössten Gefahr, wo liegenbleiben eigentlich das einzig Richtige wäre, ausgerechnet jetzt steht er auf und läuft möglicherweise direkt in die Arme der bösen Hexe.Das kann Timo nicht zulassen. Er muss ihn retten! Tausend Gedanken gehen ihm durch den Kopf. Doch bevor er eine Entscheidung fällen kann, verschwindet Purzel hinter dem Busch. Es ist zu spät! Er ist verloren! In den Fängen der schrecklichen Zahnbürstenhexe.
Timo erwacht. War alles nur ein Albtraum? Oder schreckliche Wirklichkeit? Er greift neben sich und hofft ganz ganz fest, das zu ertasten, was ihm am liebsten ist. Da spürt er es. Etwas flauschig, weiches, vertrautes, angenehmes...Juhuuu! Es war nur ein Traum! Er knuddelt seinen knuddeligen Purzel, küsst ihn ganz lange und bettet ihn anschliessend weich und warm unter die eigens für Purzel gekaufte Decke. Timo wartete noch ein Weilchen, bis er sicher ist, dass sein Teddy schläft. Für die anschliessende Mission kann er ihn nicht brauchen. Da muss er alleine durch. Ihn fröstelt beim Gedanken an sein geradezu heldenhaftes Vorhaben.
Er steigt aus seinem Bett und und tastet sich im Dunkeln zur Türklinke. Er öffnet die Türe und erreicht den hell erleuchteten Korridor.
Im Wohnzimmer schauen Mama und Papa fern.
"Hallo Mama, hallo Papa! Ich geh' nur schnell die Zähne nochmals putzen. Ich glaube, sie sind noch nicht ganz sauber!"
In den offenen Mündern sieht Timo schnell, dass auch seine Eltern ein Fall für die Zahnbürstenhexe wären. Na egal, es geht um wichtigeres. Um ihn und um Purzel.
Lange, lange, elend lange putzt und putzt sich Timo die Zähne. Beim Spülen sieht er sogar Blut vom wundgescheuerten Zahnfleisch. Eigentlich ein gutes Zeichen. Die müssen jetzt wirklich porentief sauber sein.
"Gute Nacht Mama, gute Nacht Papa." Hoffentlich erkälten sie sich nicht. Ihre Münder stehen immer noch ganz weit offen.
Timo steigt ins Bett und nimmt Purzel in die Arme. Jetzt kann sie kommen, die böse Hexe.
Sie ist nie wieder gekommen, weder an diesem, noch an allen drauffolgenden Abenden, an denen er, zwar nicht gerne, aber fast immer freiwillig, seine Zähne geputzt hat.
Schließlich hat die Zahnbürstenhexe mit den Kindern, die sich allabendlich gegen das Zähneputzen wehren, bestimmt mehr als genug zu tun. Oder?