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Die Züge fahren pünktlich

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13.07.2006
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Die Züge fahren pünktlich

Feddersen führte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben.
Er lebte nach der Uhr. Er stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit in sein Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen.
An einem Donnerstag im Juli 1944 verstaute Feddersen die Dienstwaffe vorschriftsmäßig in der dafür vorgesehenen abschließbaren Schublade. Er prüfte den Sitz seiner Uniform im Spiegel und verließ zur gewohnten Zeit das Büro in der Wilhelmstraße 101.
Nachdem er die üblichen drei Minuten an der Haltestelle gewartet hatte, stieg Feddersen in eine leere Straßenbahn der Linie 60. Seit die jüngeren Fahrer eingezogen worden waren, saß der Pensionär Willy Otremba hinter dem Steuer.
Der Mann stammte aus dem Wedding, hatte sich trotz seiner zweifelhaften Herkunft aber bislang als pünktlich und zuverlässig erwiesen.
„Heil Hitler“, sagte Feddersen.
Otremba sah ungewöhnlich blass aus. „Wat denn? Hamse det noch nich jehört, Herr Sturmbannführer?“
„Wie meinen?“ Wenn der Alte ein Schwätzchen halten wollte, würde der Fahrplan nicht eingehalten. Feddersen zog seine Taschenuhr aus dem Uniformrock.
Otremba wackelte mit dem Kopf. „Se ham ihn umjenietet. Den Führer! Menschenskind, nee… Die janze Stadt weeß det schon… Auffer Wolfschanze!“
Feddersen klopfte gegen das Uhrengehäuse. „Der Fahrplan…“
„Sagense! Wat wollnse mir jetz mittem Fahrplan? Der Führer is tot!“ Otrembas rundes Gesicht lief rot an.
„Unpünktlichkeit ist Sabotage.“ Feddersens Finger trommelten gegen sein Hosenbein.
Otremba holte tief Luft. „Nee, wollnse mir jetz drohn?“
Er kniff die Augen zusammen. „Weeßte, Herr Sturmbannführer. Det kann schon sein, detse dat ja nich mehr können.“
Feddersen steckte seine Uhr ein. Seine Mundwinkel zuckten. „Ich werde nun Platz nehmen, Herr Otremba. Und Sie werden fahren. Mittlerweile haben Sie zwei Minuten Verspätung.“
Otremba kletterte vom Fahrersitz und stellte sich Feddersen in den Weg. Er reichte dem Sturmbannführer gerade bis zum Kinn. „Nee, so nich. Respekt, weeßte. Respekt verlang ich.“ Er tippte Feddersen mit ausgestrecktem Zeigefinger gegen die Brust. „Et läuft nischt mehr, ohne euren Adolf. Erstmal abwarten, ob det für euch weiter jeht!“
Feddersen schaute sich um. Auf dem Gehweg schlenderte ein Gendarm entlang. Feddersen winkte den Mann heran.
„Kann ich helfen?“ Der Polizist musterte Feddersens schwarze Uniform.
„Heil Hitler, heißt das“, sagte Feddersen. „Ihre Waffe.“
Der Schutzmann steckte die Hände in die Hosentaschen.
„Ja, ja, Heil… Was ist mit meiner Pistole?“
Feddersen streckte die Hand aus. „Geben Sie mir Ihre Waffe.“
Otremba blickte mit offenem Mund von einem zu anderen.
„Was wollen Sie damit?“ Der Polizist kaute auf seiner Unterlippe. „Herr Sturmbannführer?“
Feddersen deutete auf den Fahrer. „Sabotage.“
„Bei allem Respekt, aber so einfach…“
Feddersen fischte seinen Dienstausweis aus der Hosentasche und hielt das Dokument vor die Nase des Polizisten.
„Reichssicherheitshauptamt“, las der Gendarm laut.
„Gibt’s das denn jetzt noch? Wissen Sie, die Lage ist ziemlich undurchsichtig, Herr Sturmbannführer.“
„Möchten Sie ausprobieren, ob es uns noch gibt?“
Der Gendarm seufzte und überreichte seine Dienstwaffe.
Otremba setzte sich wieder. „Wat jetz? Wollnse mir verhaften?“ Er lachte humorlos. „Oder gleich erschießen?“
Feddersen entsicherte die Pistole und schoss.
Otremba sackte über dem Steuer zusammen.
„Das geht doch nicht…“, stammelte der Polizist.
„Kluge Entscheidung, Amtshilfe zu leisten.“ Feddersen lächelte. „Wissen Sie, unsere Züge fahren nämlich pünktlich… ob nach Dachau oder Bergen-Belsen.“

Feddersen erreichte seine Wohnung mit fünfzehn Minuten Verspätung. Wie gewöhnlich machte er sich selbst etwas zu essen. Anschließend setzte er sich ins Wohnzimmer und lauschte bis 23.00 Uhr dem Volksempfänger, dann ging er ins Bett.

 

Die Züge fahren pünktlich
entführt uns in eine ferne Zeit, da der öffentl. Nah- und Fernverkehr noch nicht privatisiert und eher auf preußische Tugenden denn Gewinn war - lange vor mehdornigen Wegen - und hat dennoch nix Nostalgisches an sich
Feddersen führte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben.
Er lebte nach der Uhr. Er stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit in sein Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen.

Die einleitenden Sätze geben mehr übers Regime her, als man glaubt! Es ist die Disziplin, die das Fabriksystem der Großen Industrie braucht – wie Marx sie bezeichnete – und selbst Dahrendorf noch in „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“ verstand (seine „Betriebssoziologie“, mit der er bekannt wurde, war da eher auf Systemloyalität der "sozialen" Marktwirtschaft Eucken & Co. eingestellt), da lernt man auch kurz und knapp etwas über Eichmann & Co.,

lieber Udo,

und so etwas wie die „Banalität des Bösen“ aus Pflichtbewusstsein heraus, ohne dass der moralische Zeigefinger darauf hinweist. Zugleich ist das mal ein Stückchen wider „Hitlers willige Vollstrecker“ und zudem „udopisch“ im Verhalten des Bus"Führers" (dem buchstäblich „kleinen“ Mann) und dem Polizeibeamten (der durch seinen Schiss ein ambivalentes Verhalten an den Tag legt).

Zu mäkeln hätt ich an sich nix, will aber meiner Krämerseele ein bissken Freiraum lassen:

Feddersen führte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben.
Sicherlich nicht falsch, das „wohl geordnet“. Ich erwähn’s aber, weil die Zusammenschreibung sozusagen sowas wie einen Genitiv explicativus erzeugt, durch den selbst Substantive in den Genuss von Steigerungsformen kommen wie z. B. bei der Bibel, dem „Buch der Bücher“: wohlgeordnet ist also mehr als geordnet, sozusagen die geordnete Ordnung – wie sie den Nazi-Fü(h)rsten wohl in deren Sinne vorschwebte.

Feines Kleines!

Gruß & schönes Wochenende vom

Friedel

 

Hallo Udo,

ein bißchen zu zynisch finde ich Deine Geschichte; die Figuren bleiben schemenhaft. Dieser Satz fällt aus der Geschichte heraus:

Wissen Sie, unsere Züge fahren nämlich pünktlich… ob nach Dachau oder Bergen-Belsen.“

Das ist der bissige Kommentar des Autors, bestimmt nicht eine stimmige Antwort des Prot. Wenn der nur so denken würde, würde er anders handeln. Es schwächt die Geschichte, wenn man dem bösen Prot. so derb etwas unterjubelt, was nicht paßt. Damit will ich nicht die Debatte "Wer hat wann etwas gewußt?" anzetteln, sondern nur sagen: hier ist eine zynische Distanz, die nicht zur Zeit und nicht zur Handlung paßt.

In "Kinderliebe" hast Du diese Menschen deutlicher und stimmiger dargestellt.

Gruß Set

 

Hallo Set!

Es ist interesant, dass immer wieder neue Herangehens- und Sichtweisen auftauchen, wenn man nur lange genug wartet.

Ich muss Dir Recht geben, Feddersens letzter Satz läßt ihn aus der Rolle fallen. Es ist mein Satz, nicht seiner.
Das war bisher offenbar niemanden sonst aufgefallen.
Der Satz muss ohne die Erwähnung von Dachau und bergen-Belsen auskommen. Die Erwähnung der opünktlichen Züge hingegen macht den Kern von Feddersen aus.

Er hat einen zunächst einmal positiv besetzten Wert zur höchsten Priorität, zum Dreh- und Angelpunkt seines Lebens gemacht und damit pervertiert.
Er ist sozusagen die absolut destruktive Seite des Busfahrers Diehsel aus "Schulfrei", einer anderen meiner Geschichten.
Feddersen ist eindeutig ein Psychopath. Diehsel aber auch?

In "Kinderliebe" hingegen gibt es, zumindest in meiner Intention, gar keinen Bösewicht.

Gruß
Udo

 

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