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Die Züge fahren pünktlich
Feddersen führte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben.
Er lebte nach der Uhr. Er stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit in sein Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen.
An einem Donnerstag im Juli 1944 verstaute Feddersen die Dienstwaffe vorschriftsmäßig in der dafür vorgesehenen abschließbaren Schublade. Er prüfte den Sitz seiner Uniform im Spiegel und verließ zur gewohnten Zeit das Büro in der Wilhelmstraße 101.
Nachdem er die üblichen drei Minuten an der Haltestelle gewartet hatte, stieg Feddersen in eine leere Straßenbahn der Linie 60. Seit die jüngeren Fahrer eingezogen worden waren, saß der Pensionär Willy Otremba hinter dem Steuer.
Der Mann stammte aus dem Wedding, hatte sich trotz seiner zweifelhaften Herkunft aber bislang als pünktlich und zuverlässig erwiesen.
„Heil Hitler“, sagte Feddersen.
Otremba sah ungewöhnlich blass aus. „Wat denn? Hamse det noch nich jehört, Herr Sturmbannführer?“
„Wie meinen?“ Wenn der Alte ein Schwätzchen halten wollte, würde der Fahrplan nicht eingehalten. Feddersen zog seine Taschenuhr aus dem Uniformrock.
Otremba wackelte mit dem Kopf. „Se ham ihn umjenietet. Den Führer! Menschenskind, nee… Die janze Stadt weeß det schon… Auffer Wolfschanze!“
Feddersen klopfte gegen das Uhrengehäuse. „Der Fahrplan…“
„Sagense! Wat wollnse mir jetz mittem Fahrplan? Der Führer is tot!“ Otrembas rundes Gesicht lief rot an.
„Unpünktlichkeit ist Sabotage.“ Feddersens Finger trommelten gegen sein Hosenbein.
Otremba holte tief Luft. „Nee, wollnse mir jetz drohn?“
Er kniff die Augen zusammen. „Weeßte, Herr Sturmbannführer. Det kann schon sein, detse dat ja nich mehr können.“
Feddersen steckte seine Uhr ein. Seine Mundwinkel zuckten. „Ich werde nun Platz nehmen, Herr Otremba. Und Sie werden fahren. Mittlerweile haben Sie zwei Minuten Verspätung.“
Otremba kletterte vom Fahrersitz und stellte sich Feddersen in den Weg. Er reichte dem Sturmbannführer gerade bis zum Kinn. „Nee, so nich. Respekt, weeßte. Respekt verlang ich.“ Er tippte Feddersen mit ausgestrecktem Zeigefinger gegen die Brust. „Et läuft nischt mehr, ohne euren Adolf. Erstmal abwarten, ob det für euch weiter jeht!“
Feddersen schaute sich um. Auf dem Gehweg schlenderte ein Gendarm entlang. Feddersen winkte den Mann heran.
„Kann ich helfen?“ Der Polizist musterte Feddersens schwarze Uniform.
„Heil Hitler, heißt das“, sagte Feddersen. „Ihre Waffe.“
Der Schutzmann steckte die Hände in die Hosentaschen.
„Ja, ja, Heil… Was ist mit meiner Pistole?“
Feddersen streckte die Hand aus. „Geben Sie mir Ihre Waffe.“
Otremba blickte mit offenem Mund von einem zu anderen.
„Was wollen Sie damit?“ Der Polizist kaute auf seiner Unterlippe. „Herr Sturmbannführer?“
Feddersen deutete auf den Fahrer. „Sabotage.“
„Bei allem Respekt, aber so einfach…“
Feddersen fischte seinen Dienstausweis aus der Hosentasche und hielt das Dokument vor die Nase des Polizisten.
„Reichssicherheitshauptamt“, las der Gendarm laut.
„Gibt’s das denn jetzt noch? Wissen Sie, die Lage ist ziemlich undurchsichtig, Herr Sturmbannführer.“
„Möchten Sie ausprobieren, ob es uns noch gibt?“
Der Gendarm seufzte und überreichte seine Dienstwaffe.
Otremba setzte sich wieder. „Wat jetz? Wollnse mir verhaften?“ Er lachte humorlos. „Oder gleich erschießen?“
Feddersen entsicherte die Pistole und schoss.
Otremba sackte über dem Steuer zusammen.
„Das geht doch nicht…“, stammelte der Polizist.
„Kluge Entscheidung, Amtshilfe zu leisten.“ Feddersen lächelte. „Wissen Sie, unsere Züge fahren nämlich pünktlich… ob nach Dachau oder Bergen-Belsen.“
Feddersen erreichte seine Wohnung mit fünfzehn Minuten Verspätung. Wie gewöhnlich machte er sich selbst etwas zu essen. Anschließend setzte er sich ins Wohnzimmer und lauschte bis 23.00 Uhr dem Volksempfänger, dann ging er ins Bett.