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Die Xanthoria-Archive III: Sigur, der Abenteurer
Im Jahre 905 nach der Großen Reise
Meridos-é-Kwist war die älteste Stadt, die von den Menschen aus den Westenlanden hier in Xanthoria erbaut war. Sie lag im äußersten Westen des Kontinents, direkt am Trennenden Ozean. Der Name bedeutete soviel wie Meridos an der Küste und wurde meist einfach nur Meridos genannt. Das bekannteste Bauwerk war ein Leuchtturm, an dessen Spitze es eine Aussichtsplattform gab, die einen atemberaubenden Blick auf das Meer hinaus bot.
Sigur, ein Junge, der mit seinen Eltern in einem kleinen Dorf in der Nähe wohnte, besuchte mit seiner Mutter Iben die Hafenstadt, da neue Vorräte gekauft werden mussten. Glücklicherweise fand gerade das Mírfest statt, um dem Meeresgott Kelt für seine Gaben zu danken. Glücklicherweise deshalb, weil die Straßen Meridos' nun mit allen möglichen Ständen überfüllt waren. Der übliche Markt viel daher aus, Handelnde waren auch so reichlich vorhanden. Da gab es Schneider, die ihre Stoffe feil boten, Bauern, die Wurst, Eier und Obst verkauften und Müller, die Brot mitgebracht hatten. Vor allem aber gab es die unzähligen Reisenden, die ihr Geld damit verdienen wollten, den Menschen ihre Künste darzubieten. Jongleure, Puppenspieler, Feuerschlucker, Clowns, Schlangenbeschwörer ... Sigur hüpfte vor Freude. Die Luft wurde von allerhand Gerüchen durchdrungen wie zum Beispiel unterschiedlichsten Gewürzen, gebratenem Fleisch aber auch Süßem.
„Mama!“, rief er. „Darf ich mir Süßigkeiten kaufen und ein Puppenspiel ansehen?“
Seine Mutter schaute sich gerade interessiert das Obstangebot eines Bauern an. „Ach, Sigur. Du weißt doch, wir haben nicht viel Geld. Wir haben viel Essen eingekauft, ich glaube nicht, dass wir genug übrig haben.“
„Aber Mama!“ Wütend stampfte Sigur mit dem Fuß auf.
„Ich hätte gerne zwei Pfund von Euren Äpfeln, Herr“, wandte sich Iben an den Händler.
„Wie Ihr wünscht“, antwortete der Mann und wog die gewünschte Menge ab.
„Bitte“, flehte Sigur. Warum nur hatten seine Eltern nie Geld für Süßigkeiten? Das war nicht gerecht!
„Ich bekomme zwanzig Kupferpennies“, verlangte der Händler.
Iben kramte das Geld aus ihrer Tasche und bezahlte. „Leg die Äpfel bitte in den Tragekorb auf meinem Rücken, Sigur“, bat sie ihren Sohn und kniete nieder. Dieser tat, wie ihm befohlen, allerdings nicht, ohne enttäuscht vor sich hin zu murmeln.
Schließlich gingen die beiden weiter, Richtung Stadttor. Der Korb war bis oben hin voll und der Tag neigte sich außerdem langsam aber sicher dem Ende zu. Trotzdem war auf den Straßen noch ziemlich viel los. Nicht selten wurde Sigur von anderen angerempelt.
„Stoffe, edle Stoffe!“ rief ein dicker Mann mit langem Bart hinter seinem Stand. „Allerfeinstes Material aus dem fernen Cinhtárien! Wolle, Seide, alles, was das edle Herz begehrt und alles zum absoluten Sonderpreis!“ Der Mann zeigte auf seine Ware, die fein säuberlich nebeneinander gereiht zum Verkauf bereit stand.
Sigur und Iben gingen weiter.
„Süßigkeiten! Leckere süße Süßigkeiten! Ich habe alles, was das Kinderherz begehrt! Na, wie wär's, Lust auf eine zuckersüße Zuckerstange, junger Mann?“ brüllte der nächste Händler und wandte sich mit der Frage an Sigur. „Sie kostet nur fünf Kupferpennies“, fügte er hinzu und hielt ihm die Stange hin.
„Tut mir Leid, werter Herr, aber wir haben leider kein Geld dafür“, erklärte Iben.
„Och, bitte, Mama, bitte!“
„Nein!“ Die Stimme duldete keine Widerrede.
„Du bist gemein!“
„Ja, sicher.“ Sie packte ihren Sohn am Arm und zerrte ihn weiter. Erst nach einigen Schritten ließ sie ihn wieder los.
Sie kamen an einem Puppentheater vorbei. Wild entschlossen, sich das nicht entgehen zu lassen, blieb der kleine Junge stehen.
„Ich schau mir das jetzt an“, erklärte er mit fester Stimme.
Iben verdrehte die Augen. „Also gut“, meinte sie resigniert.
Glücklich gesellte Sigur sich zu den zahlreichen anderen Kindern, die sich das Stück bereits anschauten und auch er bekam leuchtende Augen.
„Hinfort mit Dir, oh böse Hexe! Hinfort, oder ich lasse mein edles Schwert sprechen!“ sagte in diesem Moment eine Puppe in Ritterrüstung mit erhobener Stimme. Sie hielt ein kleines Holzschwert in der rechten Hand.
„Hihihi!“ lachte krächzend eine zweite Puppe mit krummer Nase und alten Kleidern. „Glaubst Du wirklich, Dein Schwert kann mir etwas anhaben? Es besteht doch nur aus Holz!“
Sigur und die Kinder lachten vergnügt.
„Was spielt das schon für eine Rolle, Hexe?“ fragte der Ritter herausfordernd. „Allein der gute Wille zählt und somit werde ich Dich in die tiefsten Abgründe von Xhorols Reich verbannen!“ fügte er mit altkluger Stimme hinzu und ließ sein Schwert auf die Hexe hinabsausen.
Die Hexe schrie auf. „Aua! Das tat ganz schön weh!“ Mit diesen Worten drehte sie sich um und lief davon. Der Ritter indes wandte sich zu den Zuschauern und verneigte sich.
„Und so besiegte der tapfere Ritter Franz die böse Hexe und wenn er nicht gestorben ist, so lebt er auch noch heute“, erklärte der Puppenspieler, nachdem er sich hinter der Holzwand erhoben hatte.
Die Kinder jubelten und lachten und schrien.
„Jaaaa! Du hast die Hexe vertrieben, Franz!“
„Toller Ritter!“
Auch Sigur jubelte mit, aber er war ein wenig enttäuscht. Er hatte fast das ganze Stück verpasst.
„Gut, jetzt lass uns nach Hause gehen, mein Sohn.“
„Ist gut“, meinte Sigur und so gingen sie weiter. So schritten sie durch das Tor von Meridos, welches von zwei Statuen flankiert wurde, die dreimal so groß wie ein Mensch waren. Beide sollten Fischer darstellen, denn die Fischerei war eine geschätzte und wichtige Arbeit hier.
Das Dorf lag eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt hinter einem Hügel. Und wie die beiden sich auf den Weg dorthin machten, reifte in Sigur ein Plan.
Inzwischen waren einige Tage ins Land gezogen. Sigur war seit dem Mírfest nicht mehr in der Stadt gewesen und nun war es Nacht. Der Junge saß in seinem Zimmer auf dem Bett und packte verschiedene Dinge in einen Beutel. Kleidung, einen Apfel und ein Stück Kuchen, dass er am Abend erfolgreich in sein Zimmer geschmuggelt hatte.
Ein großer Abenteurer würde er werden!
Sigurs Herz klopfte vor Aufregung und schließlich band er den Beutel an einem langen Stock fest. Leise ging er zur Tür und öffnete sie vorsichtig. Der Gang dahinter war dunkel und er hörte keinerlei Geräusche. Also schloss er die Tür hinter sich und schlich nach rechts zur Holztreppe, die ins Erdgeschoss führte. Stufe für Stufe ging er nach unten, doch die vorletzte gab einen knarrenden Ton von sich.
Verflucht! Daran hatte er nicht gedacht.
An Sigurs Stirn bildeten sich kalte Schweißperlen und sein Herz pochte noch stärker. Sein Mund wurde ganz trocken. Einen Moment blieb er regungslos auf der Treppe stehen und lauschte angestrengt. Unten war nur das Schnarchen von seinem Vater zu hören. Niemand schien aufgewacht zu sein. Trotzdem hielt er noch ein paar weitere Sekunden inne, um verräterische Geräusche zu hören. Doch da war nichts.
Erleichtert stieß er den Atem aus, den er angehalten hatte und ging die letzten zwei Stufen hinunter. Gleich links von ihnen war die Eingangstür. Diese jedoch war verschlossen, das wusste Sigur. Er hatte in den letzten Nächten das Haus nach dem Schlüssel durchsucht, lange Zeit ohne Erfolg. Schließlich hatte er ihn dort gefunden, wo er ihn am wenigsten vermutet hätte, weil es so nahe an der Tür war. Seine Eltern versteckten den Schlüssel unter einer schweren Vase, die neben der Tür in einer Ecke stand. Er legte seinen Stock mit dem Beutel auf den Fußboden. Mit einiger Mühe hob der Junge mit einer Hand das Gefäß an, während er mit der anderen den Schlüssel hervorfischte. Als er ihn endlich hatte, ließ er erleichtert die Vase wieder zu Boden. Sein Arm tat ihm jetzt ganz schön weh. Leise schloss er die Tür auf und nahm seine Sachen.
Draußen war es frisch, der Himmel wolkenverhangen. Ein kräftiger Wind umwehte Sigur. Schweigend blieb er stehen. Das Dorf, in dem er lebte, bestand nur aus einigen Häusern, die den Handelsweg nach Meridos flankierten. Nirgendwo schien noch ein Licht aus den Gebäuden, die in der Dunkelheit nur als schwache Silhouetten zu erkennen waren. Seufzend setzte sich der kleine Junge auf die unterste der drei Stufen, die zur Haustür führten und wartete.
Er schien in Gedanken versunken gewesen zu sein, denn plötzlich hörte er leise Schritte links von sich näher kommen. Erschrocken sprang Sigur auf und gewahrte einen kleinen Schatten.
„Mann, Du hast mich erschrocken!“, flüsterte er erregt.
„Tut mir Leid“, antwortete der Schatten. Es war Gunnar, Sigurs bester Freund. Mit ihm hatte er seinen Plan besprochen, von zu Hause wegzugehen, um Abenteurer zu werden.
Nervös blickte sich der Neuankömmling um. „Hat uns jemand gesehen?“
„Nein, natürlich nicht. Glaubst Du etwa, dann würde ich hier noch auf Dich warten?“ erwiderte Sigur. „Und außerdem“, fügte er stolz hinzu, „bin ich ganz leise gewesen. Niemand hat mich gehört. Hast Du Deine Sachen dabei?“
„Ja. Lass uns los“, meinte Gunnar noch immer flüsternd und ging zurück in die Richtung, aus der er gekommen war.
„Hey!“
Gunnar, der wieder nur noch als Schatten zu erkennen war, blieb stehen. „Was?“
„Wo willst Du hin? Wir müssen da lang!“ Sigur zeigte mit seinem kurzen Arm nach rechts. „Nach Osten!“
„Oh.“
Und so gingen die beiden Freunde los.
„Mir tun die Füße weh!“
„Mhm.“
„Wollen wir nicht wieder umkehren?“
„Du spinnst wohl! Wir haben das so lange geplant und jetzt willst Du aufgeben?“ Sigur war wütend. „Das kommt gar nicht in Frage.“
„Aber ich kann nicht mehr!“ jammerte Gunnar. „Lass uns wenigstens eine Pause machen, ja?“
Einen Moment gingen die beiden noch weiter. Der grobe, kiesige Sand knirschte unter ihren Schuhen. Inzwischen war es schon heller geworden, die Dämmerung hatte eingesetzt.
„Na gut“, antwortete sein Freund schließlich.
Beide setzten sich an den Wegesrand auf das Gras. Sigur öffnete seinen Beutel und kramte nach seinem Essen. Endlich hatte er den Apfel und das Stück Kuchen gefunden und überlegte einen Augenblick. Dann entschloss er sich für den Kuchen und griff danach. Den Apfel würde er sich für später aufheben. Auch Gunnar hatte sich was zu essen genommen. Eine mit Wurst belegte Scheibe schwarzes Brot.
„Was glaubst Du, was wir wohl für Abenteuer erleben werden?“, fragte er kauend.
Sigur dachte kurz nach. „Nun, wir werden Riesen treffen. Und Trolle. Und vielleicht gibt es ja sogar Elfen!“
„Meinst Du?“
„Natürlich!“, erwiderte er. Plötzlich war er ganz aufgeregt. „Meine Mama hat sogar mal erzählt, es gäbe ein Volk, dass von Drachen abstamme!“
„Wirklich?“ Gunnar verschluckte sich fast.
„Wenn ich's Dir doch sage! Die sollen ganz weit weg im Süden leben.“ Sigur sprang auf und schnappte sich seine Sachen. „Komm, lass uns weiter! Da gehen wir zuerst hin, ja?“
„Okay.“
Auch Gunnar stand wieder auf, schwang sich seinen Beutel über die Schulter und die zwei Freunde gingen weiter.
„Mir tun die Füße immer noch weh“, maulte Gunnar.
Sie hatten die weiten Felder inzwischen hinter sich gelassen und gingen durch ein kleines Waldstück. Die Wolken am Himmel hatten der Sonne Platz gemacht, die sich inzwischen der Erde näherte, aber so richtig warm wollte es dennoch nicht werden.
Sigur erwiderte nichts und Gunnar blieb stehen.
„Was ist denn? Komm, wir müssen weiter! Wir kommen bestimmt bald zu diesen Drachenmenschen!“
„Aber wir laufen ja noch nicht einmal in die richtige Richtung!“ erwiderte Gunnar. „Schau, wir laufen der Sonne davon und die wird schon bald untergehen.“
„Wenn wir dem Weg weiter folgen, kommen wir bestimmt bald in die nächste Stadt und da fragen wir die Leute einfach.“ Sigur war ganz stolz über den Einfall.
Gunnar schüttelte entschieden den Kopf. „Ich habe Hunger und wir haben kaum noch was zu essen. Ich gehe nach Hause.“
„Blödsinn! Komm!“, munterte sein Freund ihn auf und ging weiter. Nach einigen Schritten bemerkte er, dass er alleine weiterging und drehte sich abermals um. Gunnar war umgekehrt.
„Hey!“, schrie er ihm hinterher. „Warte auf mich!“ Wenn er jetzt nach Hause zurückkehren würde, bekäme er riesigen Ärger. Niemals! Ich bleibe hier. Gunnar aber reagierte nicht auf das Rufen und entfernte sich weiter.
Und so setzte Sigur sich an den Wegesrand, aß seinen Apfel und legte sich in der voranschreitenden Dämmerung schlafen. Schließlich brach die Nacht über ihn und den Wald hinein.
Was waren das bloß für Geräusche? Sigur hatte bisher nicht einschlafen können und zitterte unter seiner kleinen Decke vor Kälte. Jedenfalls redete er sich das ein. In Wirklichkeit war es zwar frisch, aber der Herbst hatte gerade erst begonnen und sein Zittern rührte eher von der Furcht, die er spürte. Die Nacht war nicht still. Eulen klagten dem Wald ihr Leid, die Äste der Bäume raschelten durch den Wind, manchmal war auch ein entferntes Grunzen und Knurren zu hören.
Irgendwo aus dem schwarzen Wald hörte Sigur ein Rascheln und hin und wieder einen Zweig, der unter Schritten zerbrach. Wer oder was auch immer dort zwischen den Bäumen umherstreifte, machte sich nicht ernsthaft die Mühe, leise zu sein. Die Gedanken des Jungen überschlugen sich. War es ein Riese? Nein, dann wäre das Rascheln sicherlich lauter. Vielleicht ein Tier? Ein Raubtier? Es könnte auch ein Drachenmensch sein, gekommen, um Sigur zu entführen! Plötzlich kam ihm in den Sinn, dass er gar nichts über diese Menschen wusste. Als seine Mutter mal von ihnen erzählt hatte, hatte er ganz selbstverständlich angenommen, dass die Südländer freundliche Menschen seien. Doch vielleicht streiften sie ja auch durch die Welt, nahmen kleine Kinder mit und aßen sie dann auf! Sigurs Herz pochte und schien zerbersten zu wollen.
Das Rascheln kam immer näher und nun konnte der Junge bei jedem Schritt Äste knacken hören. Und auch ein leises Schnaufen. Die Luft füllte sich mit einem stechenden, tierischen Wildgeruch. Das Tier, oder was auch immer ihn da besuchte, musste ihm schon ganz nah sein ... und dann ertönte ein Brüllen.
Sigur konnte nicht anders. Ein hoher, spitzer Schrei des Entsetzens entwich seiner Kehle und er konnte gerade noch dem Impuls widerstehen, aufzuspringen und wegzurennen. Stattdessen zog der seine Beine noch höher an die Brust, so dass sie sein Kinn berührten und blieb still liegen. Der nächtliche Besucher stieß seinerseits ein lautes Knurren aus und dann entfernten sich die Schritte schnell, bis Sigur nichts mehr hören konnte. Nur noch die klagenden Eulen und den Wind, der die Bäume in stete Unruhe versetzte. Er fühlte, wie sich nasse Wärme in seinem Schritt ausbreitete. Obwohl er alleine war und niemand ihn sehen konnte, schoss ihm die Schamesröte in sein Gesicht.
Schließlich schlief er doch noch ein und bevor dies geschah, bildete sich der junge Abenteurer ein, die Nacht würde ihn beschützen, so, wie der Leib seiner Mutter ihn beschützt hatte, ehe er geboren war.
Am nächsten Morgen, als die ersten Sonnenstrahlen ihn wachkitzelten, nahm er seine Sachen und rannte so schnell er konnte zurück. Zurück in sein Dorf.