Die Wurzel
Sarah Stopschinski
Die Wurzel
Angst, Angst hat sie, als sie vor dem mit Bronze beschlagenen Tor steht. Sie macht die Augen zu und öffnet sie erst wieder, als sie durch das Tor hindurch ist.
Stockdunkel ist es auf dem Friedhof. Vereinzelt brennen ein paar Grablampen. Irgendwo ruft ein Uhu. In der Ferne hört man das laute Heulen einer Sirene. Es ist eine windige, kühle Nacht.
Sie fröstelt und zieht ihren langen, schwarzen Mantel enger an sich. Wieder kommen Tränen. Sie leckt die salzigen Tropfen von ihren Lippen. Es ist jedoch nicht der Wind, der ihr die Tränen in die Augen treibt.
Ängstlich sieht sie sich um , dann geht sie zögernd den schmalen Weg zwischen den Gräbern entlang.
Es scheinen Stunden vergangen zu sein, seit sie ihn erstochen haben. Dabei hatte er nicht die Polizei geholt. Er war noch nicht einmal in der Nähe, als seine Freunde...
Sie erschreckt bei dem Gedanken. Waren es wirklich Freunde? Nein!
Freunde waren es, bevor drei von ihnen beim Friedhofsschänden erwischt und angezeigt wurden . Sie hatten ihn in Verdacht, sie verraten zu haben, denn er war als Einziger von Anfang an dagegen. Es gab Streit. Da zog einer das Messer und...
Ihr wird schwindelig, alles dreht sich. Sie sieht die Bilder vor sich: Ihr Freund in einer roten Pfütze, erstochen von seinen besten Freunden.
Sie will die Bilder verdrängen, doch es geht nicht.
Dann kam die Polizei und ein Krankenwagen. Irgendwer musste sie verständigt haben. Sie alle rannten in verschiedene Richtungen davon. Doch sie konnte sich nicht bewegen. Steif stand sie da, die Augen auf das Messer gerichtet. Sie wollte schreien, doch es ging nicht.
Ihre Eltern kamen und ihre Blicke zeigten kein Mitgefühl, sondern Hass. <<Warum >>,flüsterte ihre Mutter, <<Warum hast du das getan?>>
<<Nein>>, schrie sie, als ein Polizist sie grob in einen Polizeiwagen schubste. Doch ohne zu zögern stieß sie die Wagentür auf und rannte.
Sie kannte sich gut aus in den schmalen Gassen und so konnte sie den wütenden Polizisten entkommen.
Sie wusste nicht, warum sie gerade auf den alten Friedhof flüchtete.
Langsam setzt sie sich auf den kühlen, nassen Boden. Ihr linker Arm schmerzt. Eine große Scherbe neben sich. Daran hat sie sich also geschnitten. Der Schmerz wird immer heftiger. Ihr Mantel färbt sich dunkelrot. Jetzt fließen die Tränen unaufhörlich.
Wo sollte sie jetzt hin? Keiner würde ihr glauben. Sie hatte keine Freunde mehr. Plötzlich kommt sie sich klein und verlassen vor.
Ist der Tod nicht das Einfachste? Sie hat Angst vor den Tod. Was kommt nach den Tod? Was ist der Tod?
Sie nimmt einen Stift und ein Stück Papier aus ihrer Tasche und schreibt:
<<Bitte glaubt mir, ich war es nicht, sondern...>>.Sie zögert. Sollte sie wirklich verraten, wer es war? Sie hatten ihren Freund ermordet, aber ist das Gewissen nicht schon genug Strafe? Aber was, wenn er gar kein Gewissen hat? Nein, sie kennt den Mörder ihres Freundes gut.
Sie stellt sich ihn vor. Die Augen tränenverschmiert, immer wieder haut er mit den Kopf gegen die Wand. Das macht er immer, wenn er sauer oder traurig ist.
Ja, er muss Gewissen haben. Plötzlich tut er ihr leid.
Sie nimmt den Fetzen Papier, knüllt ihn zusammen und wirft ihn weg, dann nimmt sie erneut ein Stück Papier und schreibt: <<Ich habe es getan- Bitte verzeih mir!>> Sie steckt den Zettel zurück in ihre Tasche .
Plötzlich ist er da. Ein Polizist steht neben ihr und packt sie unsanft an ihren verletzten Arm. Der Schmerz ist gewaltig.
Sie will weg, nur noch weg. Sie schlägt um sich und auf einmal ist sie frei. Immer schneller rennt sie, gefolgt von dem Polizisten.
Sie kann nicht mehr. Ihre Lungen scheinen zu platzen. Eine große Wurzel quer über dem Weg. Sie sieht sie nicht. Der Aufprall ist hart. Sie schmeckt Blut.
<< jetzt ist es aus >>, denkt sie noch, dann ist alles schwarz.