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Die Wohngemeinschaft
Man hörte es, wenn im Treppenhaus jemand lief. Man hörte es, wenn unten geklingelt wurde, wenn irgendwo im Haus die Toilette gespült wurde, wenn der Nachbar, der über mir wohnte, etwas auf den Boden fallen ließ. Man hörte alles, denn die Wände ließen den Schall durch, als wären sie aus Karton. Vielleicht waren sie in anderen Wohnungen auch aus Karton, aber andere Wohnungen waren mit eigenen Geräuschen gefüllt, deshalb hörte man dort keine fremden. In unserer Wohnung war es unheimlich still. Im langen, leeren Flur prallte jedes Wort von den Wänden ab. Doch man hörte selten ein Echo, denn meine Mitbewohner redeten fast nie.
Unsere Wohnung befand sich im Erdgeschoss. Das Zimmer, das ich gemietet hatte, war klein und dunkel, wie ein Erdloch. Wegen der hohen Decken hatte man tatsächlich das Gefühl, in einer Höhle zu sitzen. In mein Zimmer drang nur wenig Tageslicht, denn direkt vor meinem Fenster stand ein großes, weißes Müllhäuschen aus Beton, das jegliche Sicht versperrte und die Hälfte der Lichtstrahlen absorbierte, die mir für meine Monatsmiete zustanden. In dem Müllhäuschen waren Mülltonnen. Sie hatten wesentlich bessere Lebensbedingungen als ich.
Das Müllhäuschen musste jedes Mal abgeschlossen werden, um den Müll vor den Pennern zu schützen, hatte mir meine Vormieterin erklärt. Die Penner kamen trotzdem, immer einzeln, und versuchten, sich an dem Müll zu vergreifen. Meistens gelang es ihnen nicht, dann gingen sie weg, traurig, mit gesunkenem Kopf. Manchmal stand das Müllhäuschen jedoch offen, dann trugen sie gelbe Mülltüten raus, entleerten ihren Inhalt auf den Boden und sammelten Pfandflaschen ein. Die Penner taten mir leid, mich quälte ein schlechtes Gewissen, wenn ich das Müllhäuschen absperrte.
Man konnte von außen in mein Zimmer reinschauen, wenn man an unserem Haus vorbeilief. Auch wenn es keiner tat, beunruhigte es mich. Ich öffnete den Rollladen sehr selten, nur, um zu lüften. Das Licht brannte in meinem Zimmer Tag und Nacht, denn ich hatte Angst, im Dunklen zu schlafen. Da ich nicht mehr aus dem Fenster sehen konnte, besorgte ich mir als zusätzliche Licht- und Unterhaltungsquelle einen gebrauchten Fernseher. Abends nach der Uni schaute ich immer fern, den Fernseher stellte ich so leise, dass man ihn gerade noch hören konnte. Meine Mitbewohner mochten keinen Lärm, und ich wollte sie nicht stören.
Die Wohnung war eine Wohngemeinschaft, die drei anderen Mieter hatte ich erst nach meinem Einzug kennengelernt. Meine Mitbewohner waren zwei Psychologiestudentinnen, Niki und Susi, und ein dünner, pickeliger junger Mann, den ich in der ganzen Zeit, seitdem ich eingezogen war, nur zweimal gesehen hatte. Niki und Susi studierten zusammen, trotzdem schienen sie nicht befreundet zu sein. Vielleicht waren sie still befreundet, und ich bekam es nicht mit. Ich bekam auch sonst nichts von ihnen mit, denn sie waren nicht gesellig. Sie verließen ihre Zimmer nur, um auf die Toilette zu gehen. Wenn ich sie dabei im Flur traf, liefen sie schnell an mir vorbei und schauten auf den Boden. Niki sagte manchmal „hallo“ zu mir. Susi sagte nichts.
Meine erste und bisher einzige Unterhaltung mit Susi war sehr kurz. Sie hatte an jenem Tag stattgefunden, als ich eingezogen war.
„Wir teilen die Seife im Bad nicht“, hatte Susi gesagt. „Kauf dir eine eigene.“
Das einzige, was geteilt wurde, war das Klopapier, es wäre wirklich unpraktisch, jedes Mal eine eigene Rolle auf die Toilette mitzunehmen.
Etwas später hatte ich von Niki erfahren, dass sie und Susi zusammen Psychologie studierten und dass es einen Putzplan gab, den man lieber einhalten sollte. Seitdem hatten weder Niki noch Susi ein Gespräch mit mir angefangen, und ich wusste auch nicht, was ich zu ihnen sagen sollte. Wenn eine von ihnen in die Küche kam, eilte ich raus, damit keine peinliche Stille entstand. Mit der Zeit lernte ich die Begegnungen mit ihnen zu vermeiden. Bevor ich mein Zimmer verließ, schaute ich, ob die Luft rein war. Wenn eine Tür knallte, wusste ich, dass jemand aus dem Zimmer ging. Knallte die Tür nochmal, bedeutete es, dass die Person wieder in ihrem Zimmer saß und ich rausgehen konnte.
Als ich an einem Abend fernsah, klopfte jemand an meine Zimmertür. Ich zuckte kurz zusammen. Es musste etwas Schlimmes passiert sein, sonst würden sie nicht klopfen. War der Fernseher zu laut? Aber man konnte es doch kaum hören. Vorsichtig öffnete ich die Tür. Susi und Niki standen da und schauten mich grimmig an. Sie sahen nebeneinander lustig, wie Dick und Doof, redete ich mir ein. Niki war klein und dick, mit rundlichen Gesichtszügen, und Susi war groß und dünn, sie hatte eine spitze Nase und einen bedrohlichen viereckigen Unterkiefer. Davon abgesehen waren sie erstaunlich ähnlich. Sie standen beide entschlossen und aufrecht, mit zusammengepressten Lippen, wie eine sehr kleine Armee, die nur aus zwei Soldaten bestand.
„Wir müssen mit dir reden“, sagte Susi ernst. Das heißt, sie hatten es davor geplant, sie waren Verbündete. Gegen einen gemeinsamen Feind muss man sich wohl oder übel verbünden.
„Was gibt’s?“, fragte ich sie so locker, wie ich konnte, aber es klang ziemlich angespannt.
„Seitdem du eingezogen bist, geht das Klopapier viel schneller aus“, erklärte Susi.
Dann entstand eine lange Pause.
„Das kann nicht sein“, antwortete ich endlich. „Ich bin am Wochenende nie da.“
Ich fuhr am Wochenende immer zu meinen Eltern, weil ich mich alleine nicht wohl fühlte.
„Aber es ist so, das ist uns beiden aufgefallen. Wir haben beschlossen, dass du extra Klopapier kaufen sollst, wenn du so viel verbrauchst. Wir haben einfach keine Lust, für dich mitzuzahlen“, sagte Susi gereizt. Niki schwieg und nickte.
„Ok“, antwortete ich. Dann schloß ich vorsichtig die Tür. Ich wollte keinen Streit mit ihnen haben, es war viel einfacher, ihnen zuzustimmen und einen Konflikt zu vermeiden. Natürlich würde ich kein zusätzliches Klopapier kaufen, und sie würden es vergessen. Ich verstand nicht, was Leute dazu bewegte, das Klopapier zu messen, aber ich wollte nicht mit ihnen diskutieren.
Ich entwickelte allmählich Verständnis für den pickeligen Jungen, der nie aus seinem Zimmer rausging. Dem Putzplan hatte ich entnommen, dass er Hans-Jörg hieß, man sah ihn jedoch nie putzen. Die Existenz dieses jungen Mannes war mir ein Geheimnis. Es war unbekannt, was er den ganzen Tag machte, es war sogar unklar, wovon er sich ernährte. In seinem Kühlschrankfach lag seit Monaten eine vertrocknete Zitrone.
Der Kühlschrank war in vier Fächer aufgeteilt, eins für jeden. Es fiel mir auf, dass aus meinem Fach Lebensmittel verschwanden. Einmal verschwand die letzte Scheibe Wurst, die ich mir für das Frühstück aufgehoben hatte. Ein anderes Mal sah ich, dass eine nagelneue Packung vom kräftigen Käse, den ich so liebte, offen war, das obere Stück Käse hatte jemand angebissen und zurückgelegt. Der unbekannte Übeltäter mochte wohl keinen kräftigen Käse.
Eines Tages erwischte ich Hans-Jörg in der Küche beim Kirschtomaten essen. Diese Kirschtomaten hatte ich kurz davor in Susis Fach gesehen.
„Tschuldigung“, sagte ich leise zu ihm, „sind es deine?“
Hans-Jörg schaute mich verwundert, gar beleidigt an, holte eine noch ganze Kirschtomate aus dem Mund und legte sie zurück in den Kühlschrank.
„Nö“, antwortete er.
„Nimm nicht Susis Essen, sie wird ausrasten“, sagte ich und schaute unwillkürlich in den Flur. „Nimm lieber meine Sachen, sie sind da unten.“
„Ich dachte, es sind deine.“
„Ne, meine sind unten.“
„Ok“, erwiderte er apathisch und ging in sein Zimmer.
Am nächsten Morgen um sieben Uhr klopfte jemand an meine Zimmertür. Mein Herz blieb kurz stehen. Was wollten sie um die frühe Uhrzeit von mir? Ging es um die Tomaten? Ich öffnete ein bisschen die Tür und schaute raus, vor dem Zimmer standen wieder Susi und Niki.
„Kaufst du es jetzt oder nicht?“, fragte Susi in einem aggressiven Ton.
„Was?“, fragte ich verdutzt. Es ging doch nicht um die Tomaten.
„Das Klopapier. Du hast gesagt, dass du es kaufst.“
Ich spürte plötzlich, wie mein ganzes Blut vom Kopf in die Füße floss. Mir wurde schwindelig.
„Ich habe es vergessen“, nuschelte ich unsicher. Es stimmte nicht, ich hatte mich die ganze Zeit daran erinnert, und sie sahen bestimmt, dass ich log. Die Mädchen sagten nichts mehr, und ich auch nicht. Da offenbar keine Fortsetzung der Unterhaltung folgen würde, schloss ich leise die Tür.
„Du brauchst hier nicht mit der Tür zu knallen“, zischte Susi aus dem Flur.
Seit diesem Vorfall drehten sich Susi und Niki demonstrativ weg, wenn sie mich sahen. Daran änderte sich auch nichts, nachdem ich drei Packungen Klopapier gekauft hatte. Ich kam absichtlich immer später abends nach Hause. Die meiste Zeit verbrachte ich in der Universitätsbibliothek, wo ich für die Prüfungen lernte. In der Bibliothek war es ruhig, hell, dort waren viele Studenten. Wenn man sich vom Lernen ablenken wollte, konnte man lesende Menschen beobachten oder einen interessanten Roman aus einem Regal holen. Die Bibliothek war in der ganzen Uni, sogar in der ganzen Stadt mein Lieblingsort.
Für das Medizinstudium konnte man nicht genug lernen, und je früher man damit begann, desto besser fielen die Klausuren aus, deshalb hatte ich immer etwas zu tun. In der Bibliothek hatte ich einen Stammplatz neben dem Fenster, wo ich immer ein Lehrbuch liegen ließ, damit der Tisch von keinem besetzt wurde. Abends nahm ich das Lehrbuch wieder mit, um es am nächsten Morgen wieder auf meinen Platz zu legen.
Oft saß ein Junge mir gegenüber, der mit mir zusammen studierte. Ich erkannte ihn an seinen lockigen Haaren, an seinen Namen konnte ich mich jedoch nicht erinnern, ebenso wenig wie an die meisten anderen Namen. Ich hatte noch nie mit ihm geredet, aber er nickte mir manchmal zu, wenn er sich auf seinen Stammplatz setzte. Da wir uns schon seit Monaten fast täglich sahen, überlegte ich mir, ihm „hallo“ zu sagen. Es ist natürlich unhöflich, fremde Menschen anzusprechen, aber wir waren uns ja nicht ganz fremd. Ich schaute ihn manchmal an, wenn er das Anatomiebuch las, und wenn er seinen zerstreuten Blick vom Buch hob, drehte ich mich schnell weg.
Was denkt ein Junge, wenn er von einem unbekanntem Mädchen begrüßt wird? Dass es ihn anmacht? Das sollte er nicht denken, das wäre mir peinlich. Was würde er mir antworten? Vielleicht gar nichts. Aber nichts zu sagen war auch nicht gut, wir sahen uns ja fast täglich, und er nickte mir zu. Vieleicht wollte er mich ja begrüßen, aber traute sich nicht, weil ich wie eine überhebliche Streberin wirkte.
Ich entschied mich schließlich, ihn zu begrüßen. Als er einmal kam und das Anatomiebuch auf den Tisch legte, sagte ich ihm „hi“.
„Hi“, antwortete er überhaupt nicht überrascht, als ob wir gute Bekannte wären. Dieser selbstverständliche Ton ermutigte mich.
„Lernst du Anatomie?“, fragte ich, obwohl ich sah, was er lernte.
„Ja“, bestätigte er und fing an zu lesen.
Für das erste Mal war die Unterhaltung sehr gelungen, sie war locker und nicht zu lang, und ich hatte ihn nicht abgelenkt. Jetzt konnte man sagen, dass wir uns kannten, und vielleicht würden wir beim nächsten Treffen sogar ins Gespräch kommen. Ich versuchte, weiter zu lesen, aber die Buchstaben tanzten vor meinen Augen, deshalb packte ich das Buch ein und ging nach Hause.
Nachdem ich am nächsten Morgen aufgestanden war, sah ich, dass das Bad frei war. Normalerweise war das Bad morgens durch Susi besetzt, und es war zwecklos darauf zu warten, dass sie das Bad verließ. Sie blieb stundenlang drin, was sie dort machte, blieb ein Geheimnis.
Die Möglichkeit, um sieben Uhr morgens das Bad zu betreten und die gestrige Unterhaltung mit dem Jungen versetzten mich in eine verspielte Stimmung. Mir fiel ein gemeiner Witz ein, den ich sofort ausführte. In einer wahnsinnigen Anwandlung sperrte ich das Bad von innen ab, warf meine Tasche aus dem Fenster und kletterte auf das Fensterbrett. Es war nicht hoch, deshalb sprang ich ohne Bedenken runter auf die Straße. Nach dem Sprung taten mir jedoch beide Füße weh, ich war wohl ungünstig gelandet.
Meinen Einfall fand ich noch einige Sekunden lang gut, bis ich verstand, dass man unmöglich von außen in das Bad reinklettern konnte. Ich blieb unbewegt stehen und bohrte meine Nägel in die Handflächen. Das Bad würde für immer zugesperrt bleiben, es sei denn, jemand würde die Tür eintreten.
Susi und Niki würden schnell darauf kommen, dass das Bad leer war, dann würden sie den Hausmeister oder gar die Polizei rufen. Es gäbe inen Skandal, und ich müsste wahrscheinlich eine Strafe zahlen. Das schlimmste wäre aber zu gestehen, dass ich diesen vandalischen Akt geplant und ausgeführt hatte. Am liebsten würde ich nie wieder dieses Haus betreten, die verhassten Mitbewohner mit dem verschlossenen Bad zurücklassen und sofort zu meinen Eltern nach München fahren.
Stattdessen fuhr ich zur Uni und blieb dort einige Stunden. Ich versuchte vergeblich, den Vorlesungen zu folgen, doch das einzige, woran ich denken konnte, war das verschlossene Bad und der bevorstehende Streit mit Susi. „Warum hast du das gemacht?“, würde sie mich fragen. Tatsächlich, warum hatte ich das gemacht?
Als ich zurückkam, hatte ich fast erwartet, das zu sehen, was ich sah, aber trotzdem zog sich mein Herz zusammen, und mein Atem stockte. Susi und Niki standen vor dem verschlossenen Bad, ihre Gesichter waren ausdruckslos- offenbar standen sie dort schon seit längerer Zeit.
„Sag mal, hast du was mit der Tür gemacht?“, fragte mich Niki überraschend ruhig.
„Nein, was ist denn mit der Tür?“, erwiderte ich mit zitternder Stimme. Meine Wangen brannten, und doch hatte ich Gänsehaut. Die Heizung war im ganzen Haus schon abgestellt worden, aber draußen lag noch Schnee, und in der Wohnung war es unerträglich kalt.
„Die ist zu“, seufzte Niki. „Schon seit heute Morgen.“
„Es muss Hans-Jörg sein, wenn du es nicht warst. Was macht er dort bloß so lange? Der war ja auch sonst immer so komisch.“ Susi schaute die verschlossene Tür fragend an, offenbar versuchte sie sich vorzustellen, wozu man das Bad für eine so lange Zeit beanspruchen könnte.
„Der Freak hat sich bestimmt erhängt oder so“, beschloss sie.
„Meinst du?“, fragte Niki erschrocken.
„Was weiß ich, vielleicht hat er sich auch die Pulsadern aufgeschnitten. Der wird auf jedem Fall nicht öffnen, ruf mal lieber den Hausmeister an. Oder die Polizei. Ja, genau, ruf gleich bei der Polizei an, um die kommen wir jetzt eh nicht rum. Oder nein, warte, gib mir das Telefon, ich mach das.“
Ich hätte sie davon abhalten sollen, aber ich tat nichts. Susi rief bei der Polizei an, schilderte ihren Verdacht, dass Hans-Jörg sich umgebracht haben könnte, und diktierte unsere Adresse. Das ganze Gespräch dauerte weniger als eine Minute. Ich hatte gehofft, dass die Polizei sich nicht mit solchem Unfug beschäftigen würde, doch sie tat es, in etwa zehn Minuten würden sie da sein, sagten sie. Mein Herz schlug unnatürlich schnell, ich bekam plötzlich Angst, dass es auseinander reißen würde.
Es war noch nicht zu spät, die Polizei anzurufen und zu sagen, dass die Sache sich erledigt hatte.
„Wartet“, sagte ich, „vielleicht ist er nicht drin. Vielleicht ist er woanders.“
„Ich hab bei ihm geklopft, er hat nicht reagiert“, antwortete Susi genervt.
„Ich gucke mal rein“, flüsterte ich zu mir selbst. Ich hatte keine Ahnung, warum ich zu seinem Zimmer lief und was ich ihm sagen sollte. Es wahr wohl das Beste, zuzugeben, dass ich die Tür abgesperrt hatte, es wäre immer noch weniger peinlich, als dasselbe der Polizei zu erklären. Ohne zu klopfen, öffnete ich die Tür, die mit einem Matrix-Poster geschmückt war, und betrat sein Zimmer. Dort stand ein fauler, widerlich-süßlicher Geruch, offenbar wurde hier selten gelüftet. Es war noch kälter, als im Flur. Auf dem Schreibtisch lagen die Reste einer angebrannten Pizza und zwei leere Colaflaschen. Mein erster Wunsch war, sofort wieder rauszugehen, denn Hans-Jörg war nicht drin. Dann sah ich ihn. Er lag neben seinem Bett in einer seltsam verdrehten Pose, seine nackten Füße waren gelb und abgestorben, wie vertrocknete Obstschalen, und er schien kleiner, als sonst, obwohl ich nicht genau wusste, wie groß er früher gewesen war. Das Gesicht sah man zum Glück nicht, es war nach unten und zur Seite gerichtet, die weiter von mir entfernt war. Ich schaute schnell weg und starrte die Wand an, aber ganz weggehen konnte ich nicht, meine Beine gehorchten mir nicht mehr. Wie gut, dass die Polizei nicht umsonst kommt, dachte ich.
„Meine Güte, es stinkt so übel“, hörte ich Susis Stimme hinter meinem Rücken. Sie schaute sich im Zimmer um, hielt sich demonstrativ die Nase zu und atmete durch den Mund. Als sie die Leiche sah, erstarrte sie kurz. „Na super, der Freak hat sich bestimmt umgebracht, habe ich mir doch gedacht. Und das in einer WG. Ich will nicht wissen, wie lange er schon da liegt, ist ja eklig“, kommentierte sie gereizt.
Niki stand einige Zeit lang teilnahmslos im Türrahmen, dann lief sie plötzlich zum Fenster, öffnete es und rannte wieder raus, ohne die Leiche anzusehen. Sie hielt sich sowohl die Nase als auch den Mund zu, ihr rundes Gesicht schien blass, wie eine Kugel aus Teig. Ich schaute abwechselnd Susi, Niki und die verbrannten Pizzareste an und zwang mich dazu, nicht auf Hans-Jörg zu blicken.
Dann standen wir schweigend im Flur und warteten auf die Polizei. Keiner traute sich, in das eigene Zimmer zu gehen, es wäre in dieser Situation einfach unangebracht. Aber auch das gemeinsame Warten war sehr bedrückend, vom langen Stehen taten mir die Füße weh. Ich starrte die Eingangstür an und versuchte, leise zu atmen.
Nach einigen Minuten drehte sich Niki zu mir, gleichzeitig erschrocken und erfreut über eine plötzliche Erleuchtung. In der Stille hallte ihre Stimme: „Du hast die Badetür von innen abgesperrt!“
Die Polizisten packten Hans-Jörgs Leiche in einen Sack ein und trugen ihn raus, das ging alles ziemlich schnell. Dann befragten sie uns, wann und wie die Leiche entdeckt worden war. Dass der Tod eines Mitbewohners so lange unbemerkt geblieben war, wollten sie uns nicht so recht glauben, aber es war die Wahrheit, deshalb trugen sie es schließlich ins Protokoll ein und stellten uns keine Fragen mehr.
Die Eltern von Hans-Jörg kümmerten sich nicht darum, sein Zimmer zu räumen, worüber sich der Vermieter sehr ärgerte. Er bestellte einen Entsorgungsdienst und stellte der Familie eine Rechnung dafür aus. Der Vermieter erkundigte sich nach der Todesursache des ehemaligen Mitbewohners, es stellte sich heraus, dass Hans-Jörg sich nicht umgebracht hatte, sondern an einem Hirnschlag verstorben war. Wenn es an einem öffentlichen Ort passiert wäre, hätte jemand den Notarzt gerufen, und Hans-Jörg wäre nicht gestorben. In der Wohngemeinschaft war sein Hirnschlag aber niemandem aufgefallen, und auch sein Tod blieb einige Tage lang unbemerkt. Früher oder später hätten wir die Leiche aber auch ohne den Aufruhr wegen des abgesperrten Bades entdeckt, denn Tote fangen irgendwann an, sehr stark zu riechen.
Ich wollte in eine andere WG umziehen, doch nach einer langen Suche fand ich kein anderes Zimmer zu einem angemessenen Preis, deshalb blieb ich vorerst in der Wohngemeinschaft. Es war gar nicht so einfach, ein gutes Zimmer in Tübingen zu finden. Kurz nachdem Hans-Jörgs Zimmer geräumt worden war, zog noch eine Psychologiestudentin dorthin ein, sie war sehr ruhig und schaute mich aus irgendeinem Grund immer herablassend an. Vielleicht kam es mir auch nur so vor.
Ich wohne immer noch in der Wohnung und schaue mir ab und zu WG-Anzeigen an, aber richtig ansprechend fand ich bisher keine. Die Geschichte mit dem abgesperrten Bad und dem toten Hans-Jörg erzähle ich nicht gern, aber zum Glück bittet mich auch keiner darum.