Die wirklichen Irrfahrten des Odysseus
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In der Küche sitzt mein Vater und verhandelt mit Krumm. So heißt er nicht wirklich, aber seine schiefe Haltung, mit den Jahren ein Buckel geworden, hat den neuen Namen den Arbeitern mit Hammer und Meißel ins Herz gerammt, dass es ihnen gar nicht möglich ist, ihn anders als so zu bezeichnen. Krumm weiß das, aber da seine Rolle im Stollen die des Vorarbeiters ist, dem Herrn der Minen ein treuer Untertan, kann er sich jeden Namen erlauben.
Würden sie ihn Stummelschwanz nennen, weil er mit den Füßen scharrt, sein Gesäß dabei anhebt und deshalb sein Rücken durch einen fast durchsichtigen Kittel, falsch herum an die Hüften gebunden, nach hinten ausbricht, dass die Knochen wie der Schwanz eines Hundes wedeln – es machte ihm nichts, denn ein Hund ist er, wie er dem Herrn auf Schritt und Tritt folgt, über die Spitzhacken und Schaufeln springt; bald kläfft er, leckt sich den Schritt oder fängt Flöhe, die er nicht hat.
Ich habe eine gute Sicht in die Küche, denn mein Zimmer ist ein Durchgang zwischen allen Räumen. Würde Krumm aufstehen, um das Bad zu benutzen, er müsste durch das Gewühl meiner vielen Bücher und Papiere steigen; käme er auf den Gedanken, meinem Vater zur Strafe die Rolle eines länger ihn auszuhaltenden Gastgebers aufzubürden, wieder liefe er an mir vorbei in das Schlafzimmer meiner Eltern – meine Brüder und meine Schwester laufen durch mein Zimmer, wenn sie zur Haustür eilen, und morgens ist es erste Station, da tatsächlich jeder Raum mit meinem auf eine geheimnisvolle Weise verbunden ist.
Das war nicht immer so. Als Vater vom Herrn der Minen die Wohnung in der Arbeitergasse bekam, lag mein Zimmer ganz am anderen Ende. Wie ein Schlauch lagen Flur, Küche, Bad und die Schlafzimmer vor meinem Raum. Auch die Stube, heute abgeschlossen, dass Krumm nicht länger bleibt oder sogar einen Umtrunk vorschlagen kann, sie war weit weg.
Erst war es das Bad, das sich aus der Verankerung der von mir geliebten Zustände löste, den Flur unter Wasser setzte, um gemütlich in die neue Lage zu fahren. Ich rief meinen Vater, aber er konnte die folgenden Änderungen nicht aufhalten. Die Stube kletterte, in Begleitung des ausdauernden Schlagens der Kuckucksuhr, dem Badezimmer nach; ihm folgte die Küche, damit Bad und Stube nicht hungern müssen – zuletzt gingen alle Schlafzimmer gemeinsam, denn sie bilden ohnehin eine geschlossene Gesellschaft. Mein Zimmer rührte sich nicht, da alle sich kreisförmig anfügten. Nur meine Tür, sie verabschiedete sich über Nacht.
Vater gab mir die Verantwortung. Es ist zu vermuten, dass dies die Wahrheit ist, denn seit ich die Tagebücher für mich entdeckt hatte, gab die Wohnung knarrende und unzufriedene Geräusche von sich. Mit jedem geschriebenen Wort wurde sie lauter, unruhiger – bis sie sich am Ende entschloss, mir einen Mittelpunkt zu schaffen, dass ich in alle Zimmer schauen kann.
Was mir ein Segen sein könnte, die umfassende Beobachtung, stellt sich an manchen Tagen als Unheil dar. Zum Schreiben benötige ich Ruhe, aber weil es eben keinen Augenblick der Stille gibt, jede Minute jemand durch meinen Raum stolpert, fasse ich einen Gedanken, der mir durch die Finger gleitet, doch nicht in das Oktavheft, sondern den Schreibtisch entlang, auf meine Füße, schnell durch die Dielen kletternd und fort für immer. Auch an stilleren Tagen geht es so, denn allein die Ahnung, dass jeden Augenblick Lärm entstehen könnte, lässt mich erstarren. Es ist ein Wunder, dass ich es jetzt schaffe, diese Zeilen zu schreiben.
Mutter ist auf einer kleinen Abendgesellschaft, und meine älteren Brüder treffen die Mädchen. Ich bin allein mit dem Heft, Vater und Krumm. Weil meine Schwester und Krumm sich verloben wollen, kommt es zu diesem Gespräch. Was sie reden, ist nicht von Bedeutung, denn am Ende wird Vater zustimmen; Krumm bietet ihm eine verantwortungsvolle Aufgabe an: zweiter Vorarbeiter.
Er kann nicht ablehnen.
Als meine Schwester gestern durch das Zimmer flog, das wallende Kleid ihr mühsam folgte, schaute ich von meinen Papieren auf, den Bleistift zwischen schmerzenden Fingern verkeilt, weil mir kein Wort einfallen wollte, da hätte ich sie fragen können, ob es nicht ein anderer als Krumm sein könnte. Sie, schon am Ende des Durchganges angekommen, blickte zurück, als hätte sie eine Ahnung meiner Last, lächelte und lächelt noch immer, wenn sie nachher in die Wohnung strömt, ein paar Falten mehr in Gesicht und Kleid, etwas Rotwein an den Lippen, weil ihre Freundinnen ihr gratulierten, trotzdem Krumm erst nach vielen Stunden eine Antwort meines Vaters bekommen hat. Sie schütteln die Hände, es ist besiegelt.
Krumm steht auf, wirft den Buckel mit wenig Mühe herum, setzt den Hut auf einen spitzen Kopf und nickt Vater zum Abschied – der Hut fällt zu Boden; Vater greift ihm nach, er entrinnt seiner Hand, landet – Krumm geht auf ein Knie, die Bretter schlagen auf und ab wie Klaviertasten, und der Hut hüpft in mein Zimmer, auf mein Tagebuch, verdeckt die letzten Zeilen, ich halte inne und träume.
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Wie ich über die Brücke laufe, den Kopf zwischen die Schultern gesteckt, schlägt die Turmuhr. Die Hände grabe ich tief in meine Taschen, dass sie dort von den fremden Ländern hören, die mein Mantel bereist hat. Ich habe ihn von einem Betrunkenen genommen. Da er am Hafen lag, ein Seemannslied gurgelnd, muss er wohl ein Matrose gewesen sein.
Ich stelle mir vor, wie er – von einer unglücklichen Bekanntschaft geplagt – eilig ins erste Schiff stieg, bei den Ratten schlief, von denen er die Lieder lernte, bis der Heizer ihn fand, seine Geschichte hörte und ihn in seine Dienste nahm. Gemeinsam sorgten sie für eine schnelle Fahrt, und die Kessel verstummten niemals. Die anderen Seeleute betrachteten den Burschen zunächst mit Argwohn, aber weil er die Sprache der Ratten gelernt hatte und die unliebsamen Mitreisenden überreden konnte, freiwillig ins Meer zu springen, schlossen sie Freundschaft mit ihm.
Bald war er beliebt bei der Mannschaft. Gemeinsam sangen sie, tranken und spielten mit gezinkten Würfeln. Der junge Seemann vergaß die glücklosen Umstände, die ihn an Bord geführt hatten.
Dass er ausgerechnet die Tochter eines reichen Geschäftsmannes verführt hatte, kam ihm nicht wie Unrecht vor, doch die Schwierigkeiten und Verwicklungen, die dieser Vorfall in der reichen Gesellschaft ausgelöst hatte, waren recht weitreichend gewesen; als Sohn eines Krämers hatte er nichts erwarten können – so war es dann auch gekommen. Das Mädchen hatte man verheiratet, und den Namen seines Vaters sprach man bis heute nicht mehr aus, ohne an den missratenen Sohn zu denken, der niemals Zeit oder Interesse für das kleine Geschäft des Vaters hatte aufbringen wollen.
Als sie in den fernen Orient kamen, wo die Menschen auf Teppichen flogen und mit den Schlangen sprachen, liefen alle Matrosen staunend an Deck, betrachteten die Palmen und hellblauen Ufer. Man teilte den Burschen in eine Gruppe ein, die Vorräte für die Weiterfahrt sammeln sollte.
Kaum dass sie an Land gegangen waren, verlor er seine Leute aus den Augen. Zu viele Eindrücke plagten ihn. Da war der weise Mann mit der Flöte, die eine Schlange hinaus lockte; sprechende Heuschrecken warfen ihre Larven wie Bälle in den Himmel, fingen sie, warfen sie in Kreise, derweil sie selbst einen Salto sprangen; in einer dunklen Kammer wohnte eine Wahrsagerin, bemalt mit Zeichen; lachende Kinder tanzten über brennende Kohlen – der Seemann konnte sich nicht satt sehen an den fremden Dingen.
Er bemerkte nicht, wie er die Hauptstraße schon verlassen hatte. Die Wege wurden immer enger und enger, und bald musste er wie eine Krabbe laufen, dass er nicht zerdrückt würde. Nach einer Weile war alles so schmal geworden, er kam nicht mehr vorwärts. Aber da war Gesang. Hatte der Steuermann nicht von den Prinzessinnen des Orients geschwärmt? Wie sie auf den Winden ritten und die Oasen fruchtbar machten, indem sie sich melken ließen?
In den Gesang der Prinzessin warfen sich die Rufe seiner Kameraden, die auf der Suche nach ihm waren. Trotzdem sie sich näherten, hörte er irgendwann nur die Stimme der Schönheit, die ihn lockte. Entschlossen kroch er wie ein Wurm durch die Gassen, die am Ende so eng wurden, dass es ihn erdrückte. War da nicht ihr Antlitz in der untergehenden Sonne zu sehen?
Weiter kam er nicht. Er fühlte, wie Blut und Schleim aus feinen Poren flossen. Statt seiner Beine und Arme trug er nur noch Stümpfe an einem glatten Leib. An einer der Mauern sah er den Schatten seines Kopfes, spitz und mit Mundwerkzeugen versehen. Wieder versuchte er, sich nach vorn zu drängen, aber der Haken einer Angel packte ihn; seine Kameraden warfen ihn in ein Netz und brachten ihn zurück an Bord.
Dort wohnte er in einem Fass und erzählte den anderen Aalen von der Begegnung mit der orientalischen Prinzessin. Erregt von seinem Bericht verschafften sich die neuen Bekannten Erleichterung, indem sie sich berührten und Blitze über den Rand des Fasses hinaus ins Meer warfen. Auch er konnte nicht an sich halten, würde er die Prinzessin doch niemals vergessen können.
Die Matrosen und der Steuermann rätselten, wie sie ihrem jungen Freund behilflich sein könnten. Der Kapitän, verärgert ob des närrischen Benehmens, sich in einen Fisch zu verwandeln, wollte den Seemann über Bord werfen lassen. Aber der Heizer, ein gutmütiger Mann, versprach, sich um ihn zu kümmern, bis sie im Heimathafen wären. Er nahm den Mantel, wickelte den Aal darin ein und legte ihn neben den Kessel, damit sein Freund sich aufwärmen konnte. Durch die Nähe zum Ofen wuchsen die Glieder wieder heran, und im Hafen konnte er wieder laufen. Zwar blieb er recht schmal und blass, aber die anderen Unannehmlichkeiten seines Irrweges verschwanden allmählich. Zur See, das beschloss er, würde er nie mehr fahren.
Den Mantel nahm er zur Erinnerung an die Reise mit, dann verabschiedete er sich. Weil er keinen Ort kannte, wo man ihn aufgenommen hätte, kaufte er sich von der Heuer eine Flasche Rum und wanderte fortan betrunken durch die Straßen, bis er einschlief.
Die Turmuhr schlägt. Meine Hände zittern. Ich habe ihn bestohlen, ihm seine Erinnerung an die Prinzessin genommen. Die Spaziergänger schauen mir nach, wie ich eilig umkehre. Aber wie ich auch laufe, die Brücke scheint immer weiter zu werden. Bald habe ich mich verirrt, sehe wie das Wasser in der Sonne glänzt, und die Fische rufen mich.
Ich grabe die Hände und den Kopf aus, steige über die Brücke hinweg wie ein fallender Koloss, werfe mich ins Meer, bis ich weit unten die Ratten finde, um mit ihnen die Lieder der Prinzessin des Orients zu singen.
Das Wasser schlägt über die Brücke, die ich im Ertrinken sehen kann. Bald haben die Wellen auch die Turmuhr verschluckt.
Schaue ich nach Stunden vom Durchgang in die Zimmer, ist es still. Der Hut ist fort.
Die Küche ist nicht mehr an ihrem Platz, die anderen Räume folgten der Nahrung, und mein Zimmer ist ganz weit weg.
Ob meine Schwester daheim ist, kann ich nicht feststellen. Wohin ich auch schaue, es hat sich alles verändert. Das Oktavheft ist durch die Wucht der wandernden Zimmer in Fetzen gerissen, und der Füllfederhalter zerbrach am Alleinsein.
Weil mein Heft ganz wertlos geworden ist, kritzle ich die letzten Sätze mit den Fingernägeln in den Tisch, bevor auch er wie alles andere verschwindet. Ich werde niemals einen Ausweg aus diesem Durcheinander finden.