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- 07.02.2004
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Die wilde Jagd
Die Wilde Jagd
Desiree hatte einen Tick: Sie liebte die alten Göttersagen. Hauptsächlich waren es die Nibelungen, die sie gefesselt hielten und immer wieder las sie abends in ihrer Studentenbude die uralten Geschichten. In ihren Träumen sah sie sie: Hagen im Kampf, mit den Totenblumen um den Hals, bleich und unheilbringend auf dem Schlachtfeld, den munteren und allzu sorglosen Sigfrid, den blonden Hühnen, dem es an Urteilskraft gebrach und die Frauen: Gudrun, Brünhild, Krimhild...... Desiree´s Blick verklärte sich, wenn sie nur daran dachte. Schauer rieselten ihr über den Rücken, wenn sie an die alten und grausamen Götter der Germanen dachte. Wodan der Göttervater, der ein Auge opfterte um die Allwissenheit zu erlangen, Wodan, auf dessen Schultern die beiden Geisterraben Hugin und Munin - der Gedanke und die Erinnerung – saßen und ihm leise ins Ohr flüsterten, was war, was ist und was sein wird.
Thor oder Donar, der Donnerer, der in seinem von den Ziegenböcken Zähneknirscher und Zähneknisterer gezogenen Streitwagen über den Himmel fuhr und mit seinem Hammer Mjölnir den Donner rief. Ebenso natürlich Loki, den Listigen, den Feurigen, den hinkenden Gott, der mit List und Tücke die Befehle seines Herrn und Bruders Wodan ausführte - leider nicht immer zum Wohle der Menscheit. Oder wie....
„Heee Desi, bist du da? Träumst du schon wieder? Typisch!Immer dasselbe mit dir!“ Julia, Desi´s WG Mitbewohnerin kam mit gerunzelter Stirn hereingestürmt. „Du bist mit der Küche dran. Wann gedenkst du denn mal endlich anzufangen? Es sieht aus wie bei Hempels unterm Sofa.“ Desi verzog das Gesicht. Mist! Das hatte sie ganz vergessen. Wie schon so oft.
Jetzt wurde es langsam peinlich. „Entschuldige, ich fange sofort damit an. Tut mir echt leid.“ Julia wartete, bis Desi sich erhoben und in die Küche begeben hatte. Sie blieb diesmal sogar einige Zeit in der Tür stehen um sicherzugehen, das Desi auch wirklich ihre Pflicht tat.
Oh mann, fiel ihr das schwer! Als Desi vor einem Jahr das Elternhaus verlassen hatte, um Geschichte und Germanistik zu studieren, hatte sie nicht gewußt, auf was sie sich da eingelassen hatte. Ihre Eltern waren reich und Desi hatte zu Hause nie einen Finger krumm zu machen brauchen, das hatte alles die Wirtschafterin erledigt. Und jetzt? Do it yourself! lautete die Devise und Julia sorgte mit ihrer eigenen Art und mächtig viel Vehemenz dafür, das sie es lernte. Regeln waren nunmal notwendig, auch wenn diese ihr garnicht paßten. Seufz!
Nun ja, morgen war Samstag und diesmal fuhr sie für vier ganze lange Tage zu ihren Eltern in den Odenwald. Desi freute sich schon. Sie wußte, das ihre Eltern sie wieder mal ordentlich verwöhnen würden und sie liebte es nunmal, sich von ihnen verwöhnen zu lassen. Das sah man leider Desi´s Figur nur zu gut an. Am Schlankheitsideal des 21. Jahrhunderts schoß sie jedenfalls um Meilen bzw. Größen vorbei. Was solls? Kann ja nicht jeder wie ein wandelndes Skelett aussehen. Desi´s Selbstvertrauen war ungebrochen.
Endlich verzog sich der Wachhund namens Julia sodaß Desi in Ruhe weiterarbeiten konnte.
Sie haßte es, wenn ihr jemand beim Arbeiten auf die Finger sah. Aber leider war das die beste Methode, um sie zum Dienst an der WG zu bringen. Eine öde lange Stunde später war auch der lästige Küchendienst rumgebracht. Desi verschwand in ihrem Zimmer um noch ein wenig zu packen.
Als es dann noch später endgültig dunkel geworden war, öffnete Desi das Fenster, stellte eine rote Kugelkerze – das häßliche Ding war ein Verlegenheitsgeschenk einer Komilitonin gewesen – in die Öffnung. Sie zündete sie an und begann, mit ihrer Anrufung Wodans, wie sie es jeden Abend tat. Vielleicht würde er sie ja heute nacht endlich erhören! Die alten Götter waren launisch, da konnte man nie wissen.
„Wodan, allmächtiger! Allwissender“flüstere Desi in die Nacht „ höre mein Gebet! Ich rufe dich an! Du der du in Walhalla bist, umgeben von deinen Wallküren, reite in die Nacht hinaus. Reite auf deinem sturmgrauen Hengst durch die Welten. Von Asgard nach Midgard und nach Utgard. Sieh auf deine Kinder herab. Gib uns deinen Segen und verschone die Welt. Wenn die Zeit gekommen ist, die Zeit der Götterdämmerung kämpfen wir an deiner Seite.
Befehle und wir werden gehorchen. Rufe und wir werden kommen. Oh Wodan, allwissender! Wann wirst du zu uns kommen und dich uns offenbaren?“ Desi lauschte in den Wind doch es geschah nichts. Sie seufzte und wandte sich ab. Vielleicht lag es am Gebet? Es war eine Eigenkreation - sie wußte nicht, ob sie es richtig machte.
„Huuu Huuu ich bin Wodan, der allwissende. Oh sterbliches Wesen ich höre dich“ Desi zuckte zusammen. Was soll das denn? Eine weibliche Stimme, die vor Hohn und Spott nur so troff? Scheiße! Stefanie! Diese blöde Kuh hatte sie belauscht. Sie war die dritte im Bunde und zog Desi auf, wann immer es ging. „Ach halt die Klappe, Steffi.“ Wütend fauchte Desi aus dem Fenster aber kam nur Gelächter als Antwort. Desi hatte es mal wieder geschafft, sich lächerlich zu machen. Was solls? Desi schloß das Fenster und legte sich schlafen.
Unterwegs im Zug zu ihren Eltern überlegte Desi ernsthaft, die WG zu verlassen und sich eine eigene Bude zu mieten. Sie wollte es zwar ohne ihre Eltern schaffen, aber bei der Besetzung.....unmöglich. Julia ging ja noch aber diese bekloppte Steffanie. Neee, wohl oder übel mußte sie in den sauren Apfel beißen. Nochmal in eine WG wollte sie dann doch nicht. Wer weiß, was da alles passieren würde?
„Nächster Halt Erbach im Odenwald. Endstation! Bitte alles aussteigen!“ Die Stimme des Lokführers mit dem herrlichsten sächsischen Dialekt riß sie aus ihren Überlegungen und brachte sie zum lachen. Sie war wieder zuhause.
Als sie aus dem Zug ausstieg roch sie die würzige Luft des umliegenden Waldes. Tief atmete sie ein. Welch ein Genuß und welch ein Unterschied zur miefigen abgasverpesteten Stadtluft.
Wunderbar! Sie schnappte ihre Tasche und überquerte die Straße um dann den kleinen kiesgestreuten Weg hinunter zur Ortsmitte zu gehen. Sie schaute sich intensiv um und ließ die vertraute und geliebte Umgebung auf sich wirken. Wie hatte sie das alles vermißt!
Sie ließ sich Zeit und bummelte erstmal gemütlich durch den alten Stadtkern. Den liebte sie besonders. Er ließ durch alte kleine Gäßchen und den hübschen mittelalterlichen Häusern
mit dem Schloß im Zentrum die von ihr so heißgeliebten alten Zeiten wieder auferstehen.
Erst nach über einer Stunde machte sie sich endgültig daran, zu ihrem Elternhaus zu kommen.
Da ihr Vater Professor an der Uniklinik in Heidelberg war, hatte er sich eine kleine Villa im exklusivsten Viertel von Erbach leisten können. Sie lag oben am Hang – von dort hatte man einen phänomenalen Blick über ganz Erbach.
Obwohl ihr Vater sich locker ein Haus in Heidelberg hätte leisten können, brachte er es doch nicht übers Herz, von hier fortzuziehen. Lieber fuhr er jeden Tag die Strecke.
Es war wie jedesmal: Ihre Eltern begrüßten sie wie immer überschwenglich, herzten und küßten sie fast zu tode, ihre Mutter rannte wie immer in die Küche um das Essen zu holen und ihr Vater zerrte sie wie immer ins Wohnzimmer, um sich mit ihr zu unterhalten.
Die Themen waren immer dieselben. Die Uni, die WG, das Krankenhaus, Mutters Bandscheiben, Vaters Hüfte, Onkel Marius´Frau, die wieder mal weggelaufen war, die Nachbarn und so weiter. Es gab wie immer Desi´s Lieblingsgericht, Entenbrust mit Rotkohl und Knödeln und die Gewißheit des immer auf die selbe Art stattfindenden Tagesablaufes hüllte Desi in ein wohliges Gefühl. Die Zeit verrann wie im Flug. Eh´sie es sich versah, war auch schon der Samstag vorrüber. Wie immer sahen ihre Eltern die Superhitparade der Volksmusik – Bäh!!! – und wie immer verkroch sich Desi vor dem schrecklichen Getöse – wie sie es nannte – in ihr altes Zimmer und wie jeden Abend betete sie am offenen Fenster zu Wodan und wie jedes Mal erhielt sie keine Antwort.
Sehr früh am nächsten Morgen wachte Desi auf und fröstelte. Das Fenster war aufgegangen und eisiger Wind fuhr herein. Die Gardinen bauschten sich und die Bäume vorm Haus raunten in die Nacht und schienen mit unsichtbaren Wesen zu flüstern. Desi trat ans Fenster. Es war Vollmond und die Nacht schien einen samtenen mitternachtsblauen Schleier auf die Welt zu legen. Desi erbebte. Doch nicht durch die Kälte. Nein, es war etwas anderes das sie schauern machte.
Sie mußte raus! Plötzlich von einer rastlosen Unruhe erfaßt zog sie sich an und rannte los.
Den Berg hoch, am Pferdehof vorbei in den pechschwarzen Wald. Der Wind peitschte jetzt wild. Die Bäume ächzten und knarrten, die Äste schlugen um sich und in den Blättern war ein Jagen und Tosen, das nicht von dieser Welt war.
Wie in Trance war Desi jetzt. Sturmgraue Wolken waren hoch am Himmel und eine ungeheure Kraft brach sich Bahn. Vom Wirbeln am Himmel aufgepeitscht zogen dunkle Ströme einer uralten Macht aus der Erde gen Himmel. Desi zog sich die Schuhe aus und mit bloßen Füßen spürte sie die Kraft aus der Erde durch ihren Körper ziehen. Dunkel und kühl war sie, so wie die Erde selbst es ist. Es blitzte. Wie ein greller Speer zerteilte er die nächtliche Finsternis, zerriß den Schleier der Nacht und erhellte für einen Moment die Nacht. Die Wolken waren nicht mehr zu bändigen. Voll tosender Kraft jagten sie dahin und dann sah sie sie!
Angezogen durch die entfesselten Kräfte des Himmels und der Erde, aufgepeitscht durch die Ströme der uralten Macht gewann die Wilde Jagd an Macht in dieser Welt. Desi sah den sturmgrauen Hengst im wilden Galopp mit den Wolken jagen, Wodan mit gezogenem Schwert auf seinem Rücken und die Gier nach Blut im verzerrten Antlitz.. Die Walküren, die wilden Frauen Wodans auf ihren Wölfen, deren Heulen Desi Schauer des Entsetzens durch den Körper pulsieren ließ. Sie sahr Hagen, den Finsteren, den Mörder Sigfrids auf einem nachtschwarzen Pferd reiten. Die Totenblumen glühten fahl im widernatürlichen Feuer an seinem Hals und ließen seine Haut noch bleicher wirken. Die Klingen der Krieger und die Speerspitzen der Walküren gleißten im matten Licht des Todes und die Macht ihrer Gegenwart durchströmte Desi und raubte ihr fast das Bewußtsein.
Die Kräfte in ihrem Körper waren zur Unerträglichkeit gesteigert und Desi riß den Kopf empor gen Himmel und schrie. Ein greller Blitz durchstieß ihren Körper und schien sie von innen zu verbrennen. Sie flog empor. Urplötzlich fand sie sich im wilden Getümmel wieder. Sie saß auf einem Pferd und als sie nach links sah, blickte sie Hagen ins verzerrte Gesicht.
Bleich wie der Mond war seine Haut und Schwarz wie die tiefste Mitternacht sein Haar, das in wirren Flechten seine Stirn umpeitschte. Die Totenblumen an seinem Hals gleißten heller und verderbter als zuvor.
Sein grauenhaftes Lachen durchstieß schauerlich die tobenden Winde und als die Walküren sein Gelächter mit dem ihren beantworteten und die Wölfe zu heulen anhoben, war es für Desi, als ob sich die Pforten zur Hölle geöffnet hätten. Ein Teil von ihr sehnte sich zurück in die Welt der Lebenden doch ein anderer Teil von ihr wußte: Es gab kein Zurück.
Etwas strahlte Kälte aus an ihr. Benommen sah sie an sich herab und bemerkte ein fahles Licht an ihrem Hals. Entsetzt wurde ihr klar, was das war: Jetzt trug auch sie die Totenblumen!
Das letzte was sie hörte, war Hagen´s schauriges Gelächter.