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Die Welt und ich

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22.03.2003
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Die Welt und ich

"Ich weiß nicht, ob Sie schon je verrücktere Geschichten gehört haben, aber meine ist absolut wahr. Ich verlange nicht, daß Sie sie glauben. Sie ist so wahr, wie ich vor ihnen stehe.

Der Tag an dem die Welt mich nicht mehr verstand, begann mit Sturm.

Meine Frau und ich waren in Dänemark. Sie liebte die Nordseeküste so, besonders im Herbst, wenn die Küste und wir mit ihr vom Sturm durchgepeitscht wurden. Stundenlang mußte ich mit ihr am stürmischen Strand oder an der böigen Promenade entlang wandern
An dem besagten Samstag marschierten wir die Promenade entlang. Der Sturm warf sich uns mit seiner ganzer Macht entgegen. Orkanartige Winde zerrten an den Hosen, Jacken, verwarfen Worte. Sandkörner wurden ins Gesicht geschossen. Jeder einzelne Sandkorn, der auf mein Gesicht prallte, tat entsetzlich weh, war wie ein Nadelstich.
Vor Schmerzen duckte ich mich vor den Böen, von meiner Frau ausgelacht, die aus lauter Freude an den Naturgewalten ihren ganzen Körper in den Wind warf. Entsetzlich!
Endlich konnte ich sie zu einer Pause in einer Caféteria, gleich an der Promenade gelegen, überzeugen. In einer siffigen Ecke dieses völlig überfüllten Cafés fanden wir auch einen halbwegs sauberen Tisch mit zwei kippligen Stühlen. Damit wir in Ruhe gelassen wurden, bestellten wir beide, kaum daß wir Platz genommen hatten, bei der aufdringlichen Bedienung je einen heißen Kakaotrunk. Um uns herum tobte das Leben, wurden Füße gescharrt, schrien irgendwelche Kleinkinder, donnerten Türen in die Schlösser oder wurden laut quietschend Stühle verschoben.
Während ich Sandkörner aus der Nase schnaubte und meine Frau ihre Jacke fein säuberlich auf ihrem Schoß zusammenlegte - jeder hat so seinen Tick - kam mir eine Idee, mit der ich ihr diesen aufgezwungenen Urlaub heimzahlen wollte.
"Laß uns doch ein Spiel spielen", drängte ich sie. "Bis der Kakao kommt."
"Deine Spielchen kenne ich." Wehrte sie ab.
"Ach komm. Ein kleiner Wettstreit unter Partnern."
"Und was bekommt der Gewinner? Ich kenn' dich doch. Du machst nie Sachen ohne Hintergedanken."
"Der Gewinner - - - kann den Termin der Heimreise bestimmen."
Sie lachte nur.
"Niemals."
Ich sah ihr tief in die Augen: "Na, komm."
"Ich spiele höchstens um eine Stunde. Früher oder später abfahren. Nicht mehr."
"Gut. Einverstanden. Um eine Stunde." Vorsichtig pulte ich mir einen Sandkorn zwischen den Zähnen heraus.
"Und wie geht das Spiel?"
"Wer am längsten die Luft anhält, hat gewonnen."
Da lachte sie laut auf.
"Du bist mir ein Verrückter. Na gut. Um eine Stunde. Und wer gibt das Signal?"
"Wenn du willst?"
Immer noch lachend, stimmte sie nickend zu.
"Gut. Also. Dann laß mich mal zur Ruhe kommen."
Und sie atmete langsam aus.
"Fertig?"
Ich nickte feierlich.
"Auf die Plätze - fertig - los!"
Und wir atmeten beide ein und lächelten uns an. Wie oft hatte sie bei diesem Spiel schon gewonnen. Auch jetzt lächelte sie mich atemlos und spitzbübisch an.
In diesem Augenblick geschah etwas mit mir, in mir. Ich behielt die Luft in mir - und ich brauchte sie nicht mehr. In mir fing es an zu schweben. Die Gedanken wurden klarer, der Druck entwich aus dem Kopf, ohne daß ich atmen mußte. Der Wettstreit wurde Nebensache. Ein schönes Gefühl breitete sich in meinem Körper aus. Vorsichtshalber berührte ich meinen Bauch. Nichts bewegte sich. Auch sonst wurde es in mir immer ruhiger. Aber auch um mich herum. Je ruhiger ich wurde, um so mehr ebbte der Lärm ab. Der klebrige Tisch störte nicht mehr. Ich wurde glücklich und zufrieden, auch ohne Atem. Wobei alles um mich herum immer leiser wurde, bis jeder Lärm erstarb. Auch die Zeit schien sich zu verändern. Alles wurde langsamer, Hände schwebten sanft durch die Luft und zischten nicht mehr stakkatohaft in die Höhe. Ich sah alles mit ruhigerem Blick. Auch meine Frau, die schon bläulich anlief und vor dem Aufgeben war.
Sie quälte sich mit dem Luftanhalten, an ihrer Stirn quollen schon kleine Äderchen hervor - und ich: Ich mußte nicht atmen. Ich brauchte es nicht. Ich genoß es. Auch dann noch, als die Kellnerin unseren Kakao brachte und uns kurz dabei ansah. Ihr Blick blieb an meinem Gesicht hängen. Irgendetwas mußte sie gestört haben, jedenfalls sah ich einen Schrei aus ihrem Mund hervorquellen - ohne ihn zu hören, und dann den Kakao auf meinen Pullover gießen, ohne ihn zu spüren.
Dann ging es - für mein Empfinden - unheimlich schnell. Menschen waren um mich, meine Frau war auf mich zugesprungen und rief mir irgendetwas zu. Jedenfalls spürte ich noch ihren Atem an meinem Ohr. Man riß mich vom Stuhl und stieß mich auf die Fliesen. Ich wollte sie abwehren, es war doch nichts los. Aber durch meine Versenkung waren alle meine Bewegungen noch langsamer geworden. Es nahm sie wohl auch keiner wahr, sie waren zu aufgeregt. Einer versuchte sogar, mir den Mund aufzureißen und in meinen Rachen zu blasen. Lachhaft! Ich brauche niemanden - ich kann alleine atmen! Auch ohne Hilfe! Aber: Ich will nicht. Jetzt schon gar nicht!
'Mit diesen groben Taten erreicht ihr nur das Gegenteil', wollte ich ihnen zurufen. Aber niemand schien mich zu hören. Ich hörte sie ja auch nicht mehr, noch spürte ich sie. Ich beobachtete sie nur, wie sie da krampfhaft etwas versuchten, was ihnen sichtlich nicht gelang. Was lachte ich mir da ins Fäustchen: Ich gewinne nicht nur die Wette, sondern mache Euch alle dazu noch lächerlich!
Die Welt schien sich immer langsamer um mich zu drehen. Das nächste, was ich sah, waren buntbejackte Sanitäter, die sich über mich beugten. Sie sahen aus wie "Pommes rot-weiß". Zum Piepen komisch. Und dann wurde ich auch schon in einen Wagen geschoben. Irgendeine Plastiktüte war mir auf den Mund gepreßt worden, aber auch damit brachten sie mich nicht aus der Ruhe. Und dann wurde es dunkel. Und wieder hell. Meine Frau kniete vor mir. Vor mir! Sie hatte Tränen in den Augen. 'Aha', dachte ich mir, 'dann habe ich ja wohl die Wette gewonnen.' Aber sicherheitshalber wartete ich mit dem Atmen noch ein wenig, nicht daß sie mich durch Übertreibungen zum Aufgeben zwingen wollte.
Und dann sah ich mich schweben und es wurde wieder dunkel. Lange dunkel.
Ich war der Sieger! Und atmete aus. Aber das schien keinen mehr zu interessieren.

Nun, Herr - wie war noch ihr Name? --- Herr --- Herr - Petrus. Dies ist meine Geschichte. Nichts davon ist erlogen oder dazu gedichtet. Kann ich jetzt endlich durch diese Tür? Die hinter mir drängeln schon."

 
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Hi Tagträumer,
zuerst einmal vielen Dank für Deine Mühe, den Text zu lesen.
Zu Deiner Frage: vielleicht . . . weil ich die Rubrik "Seltsam" übersehen habe? Wohl wahrscheinlich. Ich wüßte jetzt auch gar nicht, wie ich diese Geschichte "weggeschoben" bekommen könnte. Auf der anderen Seite habe ich auch absichtlich an "Gesellschaft" gedacht, da die Selbstzerstörung des Mannes in meinen Augen 'eine Flucht nach Innen' ist, eine Möglichkeit, von seiner Frau wegzukommen, welches ich nur etwas aufarbeitete, etwas 'zusammenzog'. Solch ein Versuch der 'Flucht' ohne Ausweg, dieses Abdriften in eine Situation, wo ein Partner vor dem anderen Partner sich in Sicherheit wiegen kann, stelle ich mir bei kaputten Beziehungen sehr real vor - besonders, wenn die Personen zu schwach sind, um tatsächliche Auswege aus einer verfahrenen Beziehungssituation zu finden. Gut, diese Story entwickelt sich aus einer normalen Situation in eine abstruse - durch die ausschließliche Innenansicht eines Protagonisten - auf der anderen Seite wies sie mir beim Schreiben, daß dieses von mir angesprochene 'Problem' sogleich und zu aller Zufriedenheit gelöst hätte werden können, wenn sich der Mann seiner Frau geöffnet hätte, ihr also gesagt hätte, was ihm nicht an ihr oder an der Gegend passe und was er eigentlich wolle. Das sich-Öffnen fällt jedoch einigen von uns Männern in Beziehungen sehr schwer, sie nutzen jede Gelegenheit, es nicht zu tun, verweigern sich bis zum Letzten. Dieses Problem war meine Triebfeder für diese Geschichte. Und dieses alltägliche, zwischenmenschliche Problem hat mich dazu gebracht, es eher zu "Gesellschaft", als zu irgendeiner anderen Rubrik zu bringen, die mehr mit "Fantasy"/Träumerei oder dergl. zu tun haben.
Aber du kannst recht haben, ich denke mal darüber nach.
Gruß
Ralph
PS: ich bin leider nicht firm mit der Abkürzung 'lg' -was heißt sie ?

 

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