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Die Welt und Herr Meinders
Das Telefon beendet abrupt meinen Schlaf.
Ich springe aus dem Bett und rudere heftig mit beiden Armen. So bin ich schlagartig wach und vermeide es gleichzeitig mit dem wegrutschenden Bettvorleger den Platz zu tauschen.
Derart erfrischt, begebe ich mich an den Apparat.
„Ja bitte?“
„Herr Meinders, ich grüße Sie an diesem wunderschönen Montagmorgen! Mein Name ist Michael Breitscheidt aus dem Traditionshaus Schulze und es ist mir ein besonderes Vergnügen ...“
Ich lege keinen Wert darauf zu erfahren, was dem Herrn solch ein Vergnügen bereitet und lege auf.
Nun ohnehin wach, schalte ich das Radio ein und beschließe zu frühstücken.
Fassungslos starre ich in die fast leere Kaffeedose.
Die meisten Menschen halten es für die schlimmste Katastrophe an einem solchen Morgen festzustellen, dass der Kaffee aufgebraucht ist. Ich weiß es besser: das vollständige Fehlen des Kaffees birgt die Möglichkeit der Kapitulation: hier gibt es nichts mehr zu tun, die Dose ist leer.
Ganz anders aber verhält es sich, wenn noch ein winziger Rest in der Dose ist. Der wache Verstand hat erkannt: hier ist jede Möglichkeit noch einen schmackhaften Kaffee zu bereiten vertan, während der Kleingeist darauf beharrt, dass noch nicht alles verloren ist, solange ein winziger Rest der gemahlenen Wohltat im Hause ist.
Das Telefon klingelt.
„Ja bitte?“
„Herr Meinders, ich grüße Sie an diesem wunderschönen Montagmorgen! Mein Name ist Michael Breitscheidt aus dem Traditionshaus Schulze, wir sind gerade unterbrochen worden. Herr Meinders ich gratuliere Ihnen!“
„Danke!“
Heute werde ich stark sein.
Ich weiß, dass die paar Krümel nicht einmal für eine ganze Tasse reichen würden.
Das Telefonklingeln reißt mich aus den Berechnungen, wie viele Löffelchen heißen Wassers aus dem kümmerlichen Pulverhäufchen die schwarze Köstlichkeit zaubern kann, nach der es mich verlangt.
„Herr Meinders, bitte legen Sie nicht auf! Mein Name ist Michael Breitscheidt und ich habe großartige Neuigkeiten für Sie! Unser Traditionshaus feiert dieses Jahr seinen 75. Geburtstag.“
„Verstehe, Glückwunsch!“
Das Telefon klingelt.
Meinen Kalkulationen zufolge sollte es tatsächlich für einen gefüllten Fingerhut genügen!
Etwas verzweifeltes mischt sich in das Telefongeräusch, also hebe ich ab.
„Bitte...! Nicht auflegen...! Hauptgewinn...! Sie...!“ weint jemand leise in den Hörer.
Mir ist bekannt, dass die Mitarbeiter eines Call-Centers heutzutage kaum noch richtig geschult werden, und unter enormem Druck arbeiten müssen. Es ist an jedem von uns, diesen Menschen eine helfende Hand zu reichen.
Und ich erkenne: hier ist eine Person in Not.
„Herr Breitscheidt! Sie sind doch Herr Breitscheidt, richtig? Es liegt mir fern, Ihnen vorzuschreiben, wie Sie Ihre Arbeit zu tun haben. Und doch möchte ich Ihnen gerne einige Kleinigkeiten ans Herz legen: Melden Sie sich mit Ihrem Namen. Sprechen Sie in vollständigen Sätzen. Sagen Sie, in wessen Auftrag und welcher Angelegenheit Sie anrufen: Firmenname, et cetera. Nennen Sie den Kunden beim Namen, das schafft Vertrautheit. Und Herr Breitscheidt: ein Lächeln in der Stimme und eine kleine Freundlichkeit öffnet Ihnen das Herz und das Ohr ihres Gesprächspartners, verstehen Sie?“
Er flüstert in den Hörer: „Mein Name ist Michael Breitscheidt, Meine Firma ist das Traditionshaus Schulze und ich rufe Sie an, Herr Meinders, weil Sie unser diesjähriger Hauptgew....“
„Na sehen Sie Herr Breitscheidt, das war doch gar nicht so schwer!
Herr Breitscheidt: Ich bedanke mich für Ihren Anruf und wünsche Ihnen einen schönen Tag!“
Es ist immer wieder erhebend, seine eigenen Sorgen beiseite zu wischen, um einem lieben Mitmenschen helfend zur Seite zu stehen.
Ich beschließe den Kaffee nicht zu filtern, sondern ihn auf italienische Art in einem kleinen Topf aufzukochen.
Tatsächlich gelingt es mir durch diesen kleinen Kniff einen ganzen Eierbecher zu füllen.
Kaffee! Einen ganzen Eierbecher voll!
Mit zitternder Hand stelle ich den leeren Becher beiseite und spüre: derart gestärkt bin ich bereit, es mit der Welt aufzunehmen!
Ich greife nach Geldbörse, Hut und Regenschirm und strebe frohen Mutes meinem Tagewerk entgegen.
Heimgekehrt aus dem nahegelegenen Supermarkt fülle ich meinen Einkauf sorgsam in die Kaffeedose.
Ich sinke auf den Küchenstuhl und wische mir kurz über die Augen, als ich eine erschütternde Sondermeldung im Radio hören muss:
„Trotz größter Mühen, gelang es dem Glücksboten der diesjährigen Geburtstagsverlosung von Möbel Schulze nicht, den Hauptgewinner dazu zu bringen, seinen Gewinn anzunehmen. Die Gründe sind bislang unklar. Der Glücksbote erlitt, wie uns die Firmenleitung mitteilte, einen Nervenzusammenbruch und befindet sich in ärztlicher Obhut.“
Was soll ich sagen?
Es steht schlecht um unsere Welt.
Schlechter, als ich bisher vermutete.
Unsereins ist dankbar für eine winzige Pfütze Kaffee, während anderen nicht einmal der Hauptgewinn genügen will.