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Die Welt in der Welt
Bill saß zusammengekauert an der Wand der stillen Zelle. Schummriges Licht fiel durch ein vergittertes Deckenfenster in den zimmergroßen Raum und seine schlafenden Insassen. Draußen musste es Abend sein. Leise Stimmen hallten den Kanalschacht zu ihnen hinab. Bill atmete die kalte, modrige Luft ein, die ihn davon abhielt, in tieferen Schlaf zu fallen.
So hielt sich sein Bewusstsein irgendwo zwischen dem wachen und schlafenden Zustand auf, wo die umgebenden Geräusche bizarrste Bilder in seinen Geist malten.
Das dauernde Tropfen machte ihn langsam verrückt und sein Kopf fühlte sich an, als wäre er ein Blecheimer. Das Standardgefühl, seitdem er hier unten in der Zelle saß.
Doch von einem Moment auf den anderen, hörte er etwas anderes. Ein leiser, heller Klang. Und bevor sein Bewusstsein überhaupt dazu kam, sich irgendein seltsames Bild auszudenken, um es in Bills Träume zu schicken, durchzuckte es ihn nocheinmal. Ein weißer Blitz, direkt vor seinem inneren Auge. Ein Klirren, das ihn endgültig aus seinen Träumen riss. Es schallte unangenehm in seinem Kopf nach, als Bill die Augen einen Spalt weit öffnete. Neugierig auf das, was ihn geweckt hatte.
Es war eine Münze, die da verloren auf dem nassen Beton lag. Sie schimmerte im diffusen Licht.
Die Lichtreflexe ließen auch Bills wirre Gedanken sich auf einen Punkt richten:
Wo kam diese Münze her und wem gehörte sie? Wollte eine höhere Macht im ein bisschen von seinem alten Leben zurückgeben? Ein Leben als Verbrecher. Zwischen den Gedanken flackerten Erinnerungen in ihm auf. Bilder von Banken, Tresoren, Bergen von Geld. Und da lag das Objekt der Begierde, dessen Brüder tausende Male durch Bills Hände gelaufen waren. Herrenlos. Geschenkt.
Der goldene Glanz weckte ein lange vergessen geglaubtes Gefühl in Bill. Eines, das schon lange nicht mehr gefüttert wurde und sich nun umso stärker in seinen Eingeweiden wand. Gier.
Er konnte das Metall riechen. Wie das Eisen im Blut eines Tieres.
Dieses Geld musste er haben. Ungeachtet aller Umstände.
Es platschte leise, als er seine Hand neben ihm auf dem Boden absetzte. Er erschrak bei dem Geräusch und der Kälte, die durch seine Nervenbahnen fuhren und ihn mit einem Satz in die Realität zurückholten.
Die Tropfen tropften, die leisen Stimmen von der Oberfläche sprachen und seine Zellenkumpanen schnarchten immer noch ihr altes Lied.
„Langsam, Bill“, ermahnte er sich in Gedanken.
Vorsichtig nun, setzte er sich auf. Sein Rücken weigerte sich, der gekrümmten Position zu entweichen und knackte protestierend. Unbeholfen hievte er seinen schlanken Körper weiter nach vorn. Immer die Münze im Blickwinkel behaltend, damit sie ihm ja keiner wegschnappte. Zentimeter für Zentimeter. Es war nur noch ein kurzes Stück, bis er sie greifen konnte...
Doch plötzlich spürte er, wie eine große, starke Hand seinen Oberarm umgriff und ihn festhielt. Ertappt fährt sein Kopf herum.
„Du hattest wohl gedacht, das kannst du ganz für dich haben?“, spottete Ed und lachte dreckig als er Bill's verwundertes Gesicht sah.
Dieser aber, von der Gier beflügelt, nutzte die Ablenkung seines Gegners, drehte er sich um und streckte blitzartig den Arm nach der Münze aus. Er fasste das Metall und zog es mit dem Gedanken an sich, es nie wieder loslassen zu wollen.
Zu Bills großem Entsetzen hatte sich Ed's Hand aber nicht von seinem Arm gelöst! Sie hielt ihn immer noch an der gleichen Stelle fest und …
Ohne zu wissen wie ihm geschah, brach auch Ed's massiger Körper über ihn herein. Das Gewicht drückte die Luft restlos aus Bill's Brustkorb und für einen Augenblick wurde ihm schwarz vor Augen. Seine Gelenke knackten und unbeabsichtigt entglitt die Münze seiner Hand. Mittlerweile musste jeder in dieser verdammten Zelle wach sein.
Bill blieb nicht viel Zeit sich zu regenerieren, denn im nächsten Augenblick durchfuhr ein tausendfaches Stechen seine Kopfhaut und trieb ihm die Tränen in die weit aufgerissenen Augen. Ed zog ihn brutal gen Himmel. Nein. Da war kein Himmel. Nur die in den Fels gehauene Zellendecke. Der Himmel lag dieses Mal, so nah wie noch nie, direkt vor ihm auf dem Boden! Doch er entfernte sich immer weiter von ihm, als Ed ihn an den Haaren von dem Gold wegzog. Durch diesen Gedanken fasste Bill seine letzte Kraft, und versuchte, seine Ellenbogen nach hinten in Ed's Bauch zu rammen. Doch er gab sein Vorhaben im nächsten Moment auf, als er erkannte, was Ed vorhatte!
Sein Kopf war jetzt ein ansehnliches Stück vom harten Beton entfernt, dessen raue Oberfläche gefährlich glitzerte ... Als wollte sie sich im nächsten Moment vernichtend auf Bill stürzen ...
Verzweifelt versuchte er nun die Hände vor sein Gesicht zu bekommen bevor sich Ed dazu entschied, sein Gewicht ein kleines Bisschen zu verlagern und die kleine Fliege Bill auszulöschen. Im entscheidenden Moment, Bill war in Gedanken schon im Himmel angekommen, kam etwas dazwischen. Er konnte sich nicht mehr ganz daran erinnern. Nur, dass sein Kopf grob zu Seite gerissen und dann sogar ganz losgelassen wurde. Sein Schädel prallte ungebremst auf den Boden. Für einen Augenblick nahm die Welt eine schwarze Farbe an.
Als er seine Augen wieder öffnete und sein Gehirn wieder dazu bereit war, Informationen zu verarbeiten, durchzuckte ihn ein mörderisches Kopfweh. Die Zelle drehte sich und Geräusche drangen von allen Seiten auf ihn ein. Seine rechte Gesichtshälfte klebte von Blut.
Einmal mehr roch es nach Metall. Da war der Gedanke wieder da. Mit unverminderter Stärke. Er hatte sie verloren. Wo war sie?
Bill rappelte sich auf, ignorierte die pochenden Schmerzen, und suchte auf dem Boden hastig nach der Münze.
Da! Er schnappte sich das glänzende Ding und verbarg es zitternd in seiner Faust.
Von der Helligkeit flüchtend, schleppte er sich an die Zellenwand.
Erst jetzt fand er Zeit, sich nach dem Geschehen umzudrehen.
Es sah so aus als hätten die anderen Gefangenen Ed von seinem Rücken hinuntergestoßen, denn er lag, umringt von Menschen, auf der anderen Seite des Raumes. Bill kauerte sich weiter zusammen, in der Hoffnung den Blicken der Mitgefangenen zu entgehen. Dennoch erreichte ihn nach kurzer Zeit das Wort ihres Anführers. „Spinnt ihr eigentlich!?“, schimpfte dieser. „Was habt ihr euch dabei gedacht, euch gegenseitig die Köpfe einzuschlagen!?“
Es war Nepumuk, der sprach.
“Warum streitet ihr euch?“, fuhr er mit unverändertem Ton fort.
Hätte Nep nicht den Rest der Gefangenen hinter sich gehabt, hätte Bill seinen Worten schon längst ein Ende gesetzt. Er sollte sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern.
Noch sprach Nep mehr zu Ed, dem offensichtlich Schuldigen und Bill drückte sich noch tiefer in den Schatten. Doch zu seinem Missfallen hob Ed nun den Kopf, schaute Bill direkt in die Augen und knurrte:
„Er hat die Münze ganz für sich allein haben wollen! Der Geizhals!“
„Ach daher dieses Geräusch…“ bemerkte Nep und blickte zu Bill.
„Ist das wahr?“, nun mit ruhigerem Tonfall.
Als sich ihre Blicke kreuzen, wendete Bill sofort seine Augen ab und schwieg.
„Warum streitet ihr euch wegen einer Münze??“, fragte er weiter.
Nun sahen sie ihn verwirrt an. War es nicht richtig, sich Geld beschaffen zu wollen?
„Warum?! Was meint ihr, bringt es euch denn für einen Vorteil?“, fragte er harsch, „Was wollt ihr euch damit kaufen?“
„Aber es ist doch Geld. Geld kann man immer brauchen...man könnte den Wärter bestechen...“, wendete Ed ein, “...oder wir benutzen es nach dem Gefängnis und …“
Nep unterbrach ihn grob: „Der Wärter wird uns alle zusammenschlagen und das Geld wegnehmen. Niemand wird es ihm verbieten.
Habt ihr denn vergessen, wo wir sind? Wer weiß, wann wir aus diesem Loch wieder rauskommen!?“
Seine Worte verhallten im Raum.
„Wir sind in keiner Welt, in der es Sinn macht, sich um Geld zu streiten“, sprach er weiter, jedes einzelne Wort betonend. „Jeder Klumpen Gold, ist hier nicht mehr Wert als irgendein Stein. Aber er richtet weit mehr Schaden an. Er vergiftet unsere Gesellschaft!“
Es war still in der Zelle.
Und langsam, ganz langsam dämmerte ihnen die Wahrheit. Sie sickerte durch Bills Bewusstsein, zerfraß seine Gier und ließ klare Flächen zurück.
Diese enge dunkle Welt hier unter hatte nicht viel gemein mit der weiten, hellen dort oben …
Bill saß durch die starken Worte niedergeschlagen an der Wand. Seine Augen blickten, weit aufgerissen und mit klarer Sicht, auf das auf einmal wertlos gewordene Metall in seiner Hand. Die lange Zeit der Pein und des Wartens, hatten den Boden für diese Erkenntnis bereitet. Geld war hier nichts wert. Geld war eine Illusion. Sein ganzes Leben hatte er dieser Illusion geopfert, die ihn letztendlich hinter Gitter gebracht hatte und ihm fast alles geraubt hatte. Was hatte dieses Stück noch Gutes an sich?
Er hob den Kopf und ließ die Finger locker werden, bis die Münze auf den Boden fiel. Das Klirren vertrieb die letzten kapitalistischen Schwaden aus seinem Bewusstsein und er hob das erste Mal an diesem Tag die gebrochene Stimme:
„Du hast Recht, Nepumuk ... nimm das weg. Ich will … nicht mehr zulassen, dass sie mein Leben in Gefahr bringt.“
Nep tat wie geheißen, betrachtete die Münze noch einen Moment und warf sie dann in eines der vielen Kanalrohre. Klimpernd verschwand sie in der Röhre und ließ die Männer in ihrem dunklen Gefängnis zurück.