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Die Weisheiten des Herrn Gurinowitsch

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29.01.2004
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Die Weisheiten des Herrn Gurinowitsch

Wir waren spät dran. Der Vortrag hatte schon begonnen. So leise wie möglich schob ich Johanna mit ihrem Rollstuhl an den von ihr gewünschten Platz am Rand einer Stuhlreihe und setzte mich auf den freien Stuhl neben ihr. Der Saal des Gemeindehauses war nicht voll besetzt aber doch erstaunlich gut besucht. Der untersetzte grauhaarige Herr auf der Bühne stand gerade mit dem Rücken zum Publikum vor einem Gemälde und zählte: "... 15 ... 20 ... 25 ... 30 ... 31 ... 32 ... 34 ... - 34 Meter. Die Wirkung dieses Bildes reicht 34 Meter weit." verkündete er dem Publikum und ließ die Wünschelrute in seinen Händen sinken.

Ich schaute Johanna von der Seite fragend an, sie zuckte unschlüssig mit den Achseln. Ich zählte die Sitzreihen vor uns, um unsere Entfernung zu dem Bild abzuschätzen - 25 Meter? Wir saßen also innerhalb seiner Reichweite. Schön für uns. Jedenfalls konnten wir es gut sehen.

Das Bild kannte ich schon. Es war eine träumerische Vision aus der Heimat des Malers, Nigeria. Frauen in Landestracht mit Wassergefäßen auf dem Kopf, von warmem farbigem Dunst umgeben. Ich hatte Johanna einmal zu einem Besuch bei ihrem lieben Freund Ambaly, dem Maler, begleitet. Seine Wohnung war voll von ähnlichen Bildern, voll von dieser Sehnsucht nach der Heimat.

Während ich die Hinterköpfe vor mir nach Ambaly absuchte, vermaß der Dozent noch einige andere Bilder, indem er mit gespannter Wünschelrute vor dem Bild zählte, bis die Rute ausschlug. Die kleinen Tuschezeichnungen erreichten nur Werte von sieben, neun, höchstens zwölf Metern, was mir spontan einleuchtete, da ich von meinem Platz aus garnichts erkennen konnte. Mit diesen erschöpfenden Erkenntnissen wurde das Publikum schließlich in die Vernissage in der Aula entlassen.

"Wenn Kunden kommen, muß ich mich verstecken. Sie sollen nicht den schwarzen Mann sehen, der die bayrischen Blumen malt."
Johanna hatte Ambaly in einer kleinen Traube von Gratulanten entdeckt, wo er gerade von seinem Brotjob als bayrischer Bauernmaler im Hinterzimmer einer Galerie erzählte. Er begrüßte uns herzlich.

Ich ging für Johanna und mich etwas zum Trinken holen. Weißwein für mich, O-Sekt für Johanna. Als ich mit den Stielgläsern zwischen den Fingern einer Hand, einem Schinkenbrötchen samt Serviette in der anderen Hand und meinem Käsebrötchen zwischen den Zähnen zurückkehrte, war Johanna sofort damit einverstanden, daß das Käsebrötchen meines war.
Ambaly lieferte sich einen lebhaften Abtausch mit einer schwarzhaarigen Dame über den Vorbereitungsstreß vor der Ausstellung.

"Auf einmal waren's zu wenig Bilder."
"Roswitha, du wolltest doch das große Bild an die hohe Treppenwand hängen. Und dann mußten wir alles wieder umhängen."
"Und ein Bild war noch nicht trocken. Ich hab's zu spät gemerkt."

Roswitha trug auffallend individualistische Ohrringe mit anthroposophischem Touch. Sie hatte wohl als Kulturbeauftragte der Gemeinde mit der Ausstellungsorganisation zu tun. Mir fiel auf, daß sie ihn immer wieder mit leuchtenden Augen ansah. Auch seine Augen leuchteten auf, wenn ihre Blicke sich trafen.

"- Oh, Herr Gurinovitsch, das war ein schöner Vortrag."
Der Dozent steuerte mit einer kleinen Jüngerinnenschar auf uns zu, Johanna fest im Blick. "Ich habe dich vorhin schon gesehen und spüre, daß du ein böses Karma hast" ,ließ er sie wissen. Vor Schreck verschluckte ich mich an meinem Wein und kämpfte mit einem üblen Hustenanfall.

Er mußte inzwischen das Leuchten zwischen Ambaly und Roswitha bemerkt haben, denn er zog flugs ein kleines Pendel aus seiner Jackentasche, legte die Hände der beiden zusammen und ließ darüber sein Pendel schaukeln. "Ihr wart in einem früheren Leben verheiratet." Die beiden lachten fröhlich. Sie waren wohl mit dieser Vergangenheit ganz zufrieden.

Schließlich nahm er Johannas und meine Hand und legte sie zusammen. "Ich bin mir nicht sicher, ob ich das wirklich wissen will", murmelte ich, aber er ließ sich nicht stören. "Ihr wart mal Brüder", lautete seine Botschaft. "Puh", machte ich und erntete einen gespielt beleidigten Blick von Johanna. Dann mußten wir beide grinsen.

 

Verdammt, ist das lange her, daß ich Erlebnisaufsätze zu Themen wie "Als ich einmal Angst hatte" oder "Mein schönstes Geschenk" verfaßt und mit einem grünen GeHa-Füller zu Papier gebracht habe, oft genug mit eher lustlosem ghostwriting-support durch Mutter oder Vater, weil mal wieder der Abgabetermin drohend näher rückte.
Diese Geschichte ist verdammt schwer zu erzählen. Irgendwie kommt kein Erzählfluß auf. Eigentlich besteht sie aus mehreren Parallel-Geschichten. Zwei hab' ich sogar schon rausgekürzt, war mir zu kompliziert.
Über die richtige Kategorie bin ich mir auch nicht im Klaren. Vielleicht sollte man mal eine Kategorie "Esoterik" oder "Bizarres" einrichten?

Grüße
sowieso

 

Nein, nein, sowieso, deine Geschichte ist Alltag. Und wenn nicht Alltag, dann ist sie wenigstens gut erfunden. Weiter so. Ich meine auch mit dem kürzen, denn die Geschichte enthält immer noch zu viele Dinge, die nichts zum Fortgang der Geschichte beitragen und nicht einmal schmückendes Beiwerk sind. Beispiele:

"Auf einmal waren's zu wenig Bilder."
"Roswitha, du wolltest doch das große Bild an die hohe Treppenwand hängen. Und dann mußten wir alles wieder umhängen."
"Und ein Bild war noch nicht trocken. Ich hab's zu spät gemerkt."
Der Dialog ist ebenso entbehrlich wie der folgende
"Na gut, Brüderchen", sagte Johanna, "wenn jemand frech zu dir ist, schick' ihn zu mir. Ich verhau' ihn dann. Aber wenn du nochmal mein Käsebrötchen klaust, bist du fällig."
, der zudem in seinem letzten Satz für mich unverständlich ist und den Schluss der Geschichte verdirbt – ich würde die Geschichte mit dem Satz „Dann mußten wir beide grinsen.“ enden lassen.

Dion

 

Hallo Dion

danke für deinen Kommentar.

die Geschichte ist real 1 zu 1 so erlebt. Ich glaube auch, solche Leute kann man nicht erfinden.

Mit den beiden Stellen, die du zitiert hast, war ich auch nicht so glücklich. Ursprünglich war der Satz mit dem Grinsen der Schluß. Dann wollte ich wegen einer Kürzung darstellen, daß zwischen Johanna und "ich" tatsächlich so etwas ähnliches wie eine Bruderbeziehung besteht. Aber das ist vielleicht garnicht nötig, oder ich krieg's anders hin.
Mit dem Dialog Ambaly - Roswitha wollte ich die Beziehung zwischen den beiden betonen. Aber das geht wahrscheinlich besser mit kleinen, feinen Beobachtungen von "ich".

danke nochmal
sowieso

 

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