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Die Weisheit des Silen
„Die verhindern morgen meine Geburt“, sagte er und klang fast ein wenig überrascht, so, als hätte er es gerade eben erfahren.
„Schön für dich.“ Richard rieb sich die Augen.
„Nein. Das ist nicht schön. Das ist beschissen. Beschissen ist das.“ Er ging nervös auf und ab, von einer Zellenwand zur anderen, schleppte seinen schweren Körper über das Neonlicht, das wie breitgetreten auf dem Boden klebte. „Und du? Was ist mit dir? Wirst du auch …“
„Warum sollte ich sonst hier sein?“
„Morgen?“
Richard nickte. Er hockte auf einer der beiden Metallbänke und betrachtete seine Hände, die nebeneinander in seinem Schoß lagen.
„Warum?“
„Warum was?“ Richard sah auf.
„Na ja, warum wirst … Wirst du … Warum macht man das mit dir?“
„Ist ne lange Geschichte.“ Er zuckte mit den Schultern.
„Erzähl’. Wir haben Zeit. Viel Zeit.“ Die Schuhsohlen des Dicken quietschten wie verreckende Ratten.
„Knapp fünfzehn Stunden“, sagte Richard leise. „Vielleicht weniger.“
Sein Zellengenosse blieb stehen, fuhr herum und starrte ihn an, als hätte er soeben die Weltformel auf seiner Stirn entdeckt.
„Fünf… fünfzehn … Stunden“, stammelte er. Sein Blick huschte durch die Zelle. „Fünfzehn … Das können die doch nicht machen. Das dürfen die nicht. Ich will …“ Er verstummte abrupt, stolperte zur Zellentür, warf sich dagegen, ballte die Fäuste, prügelte auf den Stahl ein, schlug sich die Knöchel blutig.
„Beruhig’ dich. Das bringt doch nichts.“
Der Dicke tobte weiter. Richard legte sich auf die Bank, verschränkte seine Hände hinter dem Kopf und wiederholte in mehr oder weniger regelmäßigen Abständen beruhigende Phrasen – leise und ohne Nachdruck, so, als würde er das nur aus Pflichtbewusstsein tun, einfach, weil die Situation es erforderte.
Irgendwann beruhigte sich der Dicke tatsächlich. Er schlich wimmernd zu seiner Bank und sank darauf nieder. Sein Gesicht war so blass, dass es sich kaum von den weißen Wänden abhob. Er sah aus, als wäre er kurz davor, sich im kalten Neonlicht aufzulösen. Richard hätte es nicht überrascht, wenn sein blauer Gefängnisoverall plötzlich in sich zusammen gesackt wäre.
„Na, alles klar?“
Der Dicke schwieg.
„Akzeptiere es einfach. Früher oder später muss jeder abtreten. Auch die Wärter da draußen.“ Richard schloss die Augen. Er hörte die schweren Atemzüge seines Zellengenossen. „So ist das halt. Im Gegensatz zu denen wissen wir aber genau, wann es geschieht. Ist doch eigentlich nicht übel. Die Ungewissheit macht einen fertig. Wo? Wie? Wann? Wir wissen es. Irgendwie beruhigend, findest du nicht?“ Der Dicke schnaufte. Richard wusste nicht, ob das Zustimmung oder Widerspruch bedeutete. Oder keins von beiden. Vermutlich hörte er ihm noch nicht einmal zu. Trotzdem fuhr Richard fort, denn es gab nichts, was er in diesem Augenblick weniger hätte ertragen können, als Schweigen. Stille füllte man mit Gedanken, und die Gedanken rannten auf dem Ziffernblatt herum, ließen den Abend hinter sich, liefen durch die Nacht, dem Morgen entgegen, stürmten aus der Zelle, die langen Gänge entlang, in den Raum hinein, in dem es passieren würde, stürzten sich ins Nichts, kletterten heraus und kamen zurück, mit Panik in ihren Taschen. Richard konnte es nicht verleugnen: er hatte Angst und versuchte, es zu verbergen. In erster Linie vor sich selbst. „Weißt du, wer Jack Hamford war?“, fragte er. „Der Collegeprofessor, der vor knapp zweihundert Jahren den Sohn des amerikanischen Präsidenten entführt und erwürgt hat? Weißt du, was er gesagt hat, kurz bevor man ihn mit Gift vollgepumpt hat? Berühmte letzte Worte. Vielen Dank. Das hat er gesagt. Hat sich für das Todesurteil bedankt. Und weißt du, warum er das getan hat?“ Der Dicke atmete. Richard sah zu ihm hinüber. Er hatte sich vorgebeugt und den Blick irgendwo zwischen seinen Füßen in den Boden gebohrt. „Kurz vor der Hinrichtung hat man ihn interviewt. Das Urteil sei das Beste gewesen, was … Erst dadurch hätte er sich wirklich lebendig gefühlt. Vorher sei sein Leben irgendwie … abstrakt gewesen. Hat er gesagt. Aber so ein Urteil … Der Tod ist dadurch keine verschwommene Möglichkeit mehr, sondern ein konkretes Datum, ein konkretes Ereignis. Unausweichlich. Deswegen hat Hamford auch nie Berufung eingelegt.“ Richards Worte wirbelten durch das leise Surren der Klimaanlage, seine Hände tanzten in der trockenen Luft. „Eigentlich ist ja jeder Mensch irgendwie zum Tode verurteilt. Aber die meisten verdrängen das. Sie leben einfach so vor sich hin. Gehen mit der Zeit um, als wenn sie unendlich viel davon hätten. Sie tun, was man halt so tut und tun es, obwohl sie es vielleicht überhaupt nicht tun wollen. Obwohl sie nicht glücklich dabei sind. Und wenn sie mal nichts tun, dann langweilen sie sich. Versuchen, irgendwie die Zeit totzuschlagen. Sie warten. Und wenn man wartet, dann wird … die Gegenwart natürlich total entwertet. Die Augenblicke kommen und gehen, und man will, dass sie gehen. So schnell wie möglich. Und die Lebenszeit fließt wie … wie Abwasser oder so davon. In den nächstbesten Gully. Aber wenn man nicht mehr wegsehen kann, wenn der eigene Tod als Gewissheit vor einem … Wenn … Dann wird das Leben plötzlich zu meinem Leben. Zu einer konkreten Zeitspanne. Zeit, die meine Zeit ist. Augenblicke, die nur ich erlebe. Die nur mir gehören. Dann wird jeder Moment irgendwie … kostbar. Intensiver. Man fängt an, wirklich zu leben. Bewusst zu leben. Das hat er gesagt.“
Richard räusperte sich. Dass Hamford in diesem Interview nicht nur das gesagt hatte, sondern auch, dass der von ihm erwürgte Präsidentensohn den Tod verdient gehabt hätte, da er jede Nacht in den Garten des Professors geschlichen wäre, um auf seine Rosenbeete zu urinieren, verschwieg er.
Der Dicke murmelte etwas. Er schien mit dem Boden zu reden. Oder mit seinen Füßen.
„Deswegen hat die Sache mit der Unsterblichkeit auch nicht funktioniert“, sagte Richard. „Die haben das später mit angeblichen Nebenwirkungen erklärt. Von dem Zeug, das den Alterungsprozess gestoppt hat. Aber ich glaube nicht, dass es daran … Die Unsterblichkeit an sich … Die ist es gewesen. Die hat diese Leute in den Wahnsinn getrieben. Zombies sind das am Ende gewesen. Total apathisch. Haben mit glasigen Augen herumgesessen und im Chor irgendeinen Schwachsinn erzählt. Ein Kollektiv von sabbernden Idioten. Sind ja auch nie aus ihrer“, Richard stockte, schluckte schwer und fuhr dann mit belegter Stimme fort, „Siedlung rausgekommen. Hundertfünfzig Jahre lang. Muss furchtbar öde sein sowas. Ich meine, alle haben die selbe Zeitspanne vor sich. Natürlich hat es Unfälle gegeben. Und Selbstmorde. Lässt sich ja nicht vermeiden. Aber diese Gewissheit, irgendwann sterben zu müssen, die hat denen natürlich gefehlt. Ich weiß nicht. Wenn alle ständig … dieselbe graue Mauer anstarren, dann entsteht irgendwann vielleicht das Gefühl, dass alle … dasselbe sehen. Dass es keine individuelle Wahrnehmung mehr gibt. Nur noch diese graue Mauer. Dann verschmilzt vielleicht alles irgendwie zu einer kollektiven Wahrnehmung. Das Individuum löst sich auf. Oder so. Kann ja sein.“ Richard strich sich über die Augenbrauen. „Die Unsterblichkeit besiegt die Zeit ja nicht. Ganz im Gegenteil. Das führt doch lediglich dazu, dass man ihr auf ewig ausgeliefert ist. Die Irrever… Irreversi … die Unumkehrbarkeit, das ist ja das eigentliche Problem gewesen. Unsterblichkeit verewigt die Fehler, die man gemacht hat. Die falschen Entscheidungen, die man getroffen hat. Daher hat man das Projekt irgendwann einfach eingestellt und alle verfügbaren Mittel auf die Zeitreiseforschung konzentriert.“ Richard klatschte in die Hände. „Und wie man sieht, hat es sich ja ausgezahlt.“
Der Dicke sah kurz auf. Sein glasiger Blick war zu schwach, um sich irgendwo mehr als ein paar Lidschläge lang festzukrallen.
„Wie heißt du eigentlich?“, fragte Richard.
*
Richard blinzelte in den Netzhautscanner. Die Stahltür wälzte sich beiseite. Sie tat es mit übertriebener Langsamkeit, wodurch sie massiver erschien, als sie in Wirklichkeit war.
Richard trat ein. Die Tür schloss sich hinter seinem Rücken wieder. Der Gang vor ihm war lang und hell erleuchtet. Klobige Selbstschussanlagen hingen wie Spinnen an der Decke, in zahllosen Wandnischen flimmerten holografische Projektionen des Visionärs. Leicht gebeugt standen sie da, als würde das Schicksal der Welt auf ihren Schultern lasten, mit kämpferisch in die Hüften gestemmten Fäusten, die ernsten Gesichter von Denkerfalten zerfurcht. Altmodische Fernrohre waren wie Gewehre auf ihre Rücken geschnallt. So standen sie da und starrten Richard mit halbdurchsichtigen Augen an. Von Bewegungsensoren gelenkte Blicke klebten an seinen Schritten. Er schlenderte an den Hologrammen vorbei. Am Anfang beeindruckte einen das hier alles, schüchterte ein, aber der Effekt nutzte sich schnell ab.
Ein weiterer Netzhautscanner piepste, eine weitere Stahltür öffnete sich schwerfällig. Gedämpfte Stimmen wehten Richard entgegen. Sie verstummten, als er den Saal betrat. Uniformierte Männer und Frauen saßen an einem runden Tisch, im Schatten eines gewaltigen Metallkastens, der fast so breit und so hoch war wie ein Einfamilienhaus; seine Front wurde von einem Monitor bedeckt, auf dem das Gesicht des Visionärs schwebte, mit geschlossenen Augen, wie eine computergenerierte Totenmaske, aus seinen Flanken wucherten Kabel und Rohre und Schläuche, die vibrierten, als würde man Bienenschwärme hindurch pumpen, wucherten der Decke entgegen, wo sie in zahllosen Öffnungen verschwanden: BLOCH. Sein Kern war lediglich ein kleiner Kasten, kaum größer als ein Schuhkarton, irgendwo innerhalb dieses überdimensionierten Gehäuses. Das wusste jeder hier. Die spektakuläre Verkleidung sollte vermutlich BLOCHs Autorität unterstreichen. Eine recht archaische Inszenierung von Macht. Der Visionär hatte nichts dem Zufall überlassen.
Richard salutierte und nahm am Tisch Platz.
„Entschuldigt meine Verspätung“, sagte er und blickte in blasse, angespannte Gesichter, über die ein Anflug von Verständnislosigkeit huschte, so, als wenn diese Aussage angesichts der Situation, in der sie getätigt wurde, viel zu banal gewesen wäre, um ihren Sinn zu erfassen.
BLOCH brummte monoton, Finger trommelten auf dem Tisch herum, ein Stuhl knarrte, jemand hustete. Bewaffnete Wachen, BLOCHs Gardisten, standen stumm im Saal herum, das Glimmen der phosphoreszierenden Wände im Rücken. Grünliches Zwielicht lag auf ihren Uniformen wie Patina auf Bronzeplastiken. Richard wischte sich mit dem Handrücken Schweiß von der Stirn.
„Jetzt wird’s langsam ernst, was?“, sagte er schließlich, um das Schweigen zu durchbrechen.
Eine junge Frau, die neben ihm saß, nickte, eine weitere lächelte verkrampft. Die beiden Männer murmelten zustimmend, während das Brummen plötzlich anschwoll. Ventilatoren heulten auf, der Boden vibrierte, die Schläuche schlugen klappernd gegen Kabel und Rohre. Das Antlitz des Visionärs öffnete die Augen – BLOCH war erwacht.
Guten Tag, sagte er mit der nasalen Stimme seines Erbauers. Sie dröhnte aus Lautsprechertürmen, die in jeder Ecke des Saales standen. Tempora mutantur.
„Nos et mutamur in illis“, erwiderten die Uniformierten im Chor.
BLOCHs stahlblauer Pixelblick senkte sich langsam herab, dem Tisch entgegen. Ich begrüße Sie, Einheit 1, im Namen unseres großen Führers. Ihre Ausbildung ist fast abgeschlossen. Sie sind kurz davor, zu Vergessenen Helden aufzusteigen. Daher ist die Zeit nun gekommen, Ihnen zu offenbaren, wozu man Sie ausgebildet hat. Das Gesicht verblasste, wich dem Bild eines hageren Mannes in einem zu großen Anzug, der vor einem Schreibtisch aus dunklem Holz stand und in die Kamera stierte, ein wenig verstört, als hinge er dem alten Aberglauben an, die Dinger würden einem die Seele stehlen. Aus seiner Brusttasche ragte ein schmales, braunes Einstecktuch. Diese Fotografie zeigt einen Mann namens Hans Schober. Ein Industrieller aus dem 22. Jahrhundert. Ihre Mission ist simpel. Sie werden die Zielperson eliminieren. Das Gesicht erschien wieder auf dem Monitor. Mir ist bewusst, dass die Liquidierung von Zivilisten etwas Neues für Sie ist. Aber ich versichere Ihnen, dass Skrupel unnötig sind. Denken Sie daran, dass die Zielperson bereits tot ist. Denken Sie daran, dass diese Mission niemals stattgefunden haben wird, sobald sie erfolgreich abgeschlossen ist. Denken Sie daran, dass Sie der Vision unseres großen Führers dienen. Das Gesicht lächelte sanft. Und denken Sie daran, dass jeder von Ihnen ersetzbar ist.
*
„Es ist wie ein Puzzle“, sagte Richard. Karl war wieder aufgestanden und hatte seine breite Stirn gegen die Zellentür gepresst. „Ein Puzzle, das sich verändert, sobald man ein neues Teil einsetzt. Der Visionär ist der einzige Mensch gewesen, der gewusst hat, wie es … Welches Bild es am Ende … BLOCH kennt es natürlich auch. Der baut es schließlich zusammen. BLOCH kennt den Weg. Aber BLOCH ist ja kein ….“ Richard räusperte sich. „Wahrscheinlich ist es ein schönes Bild. So schön und so prachtvoll, dass es alle anderen Bilder überflüssig macht. Zumindest so lange, bis man ernüchtert feststellt, dass das Ding eigentlich total langweilig ist. Wegen seiner Perfektion. Ich meine, Bilder ohne … ohne Fehler … und … und … Widersprüche oder Geheimnisse oder so stumpfen einen irgendwann ja total ab.“ Richard zuckte mit den Schultern. „Aber was weiß ich schon? Ich bin ja nur ein einfacher Mensch und kein genialer Weltverbesserer.“
„Wie läuft das eigentlich genau ab?“, fragte Karl.
„Was?“
„Unsere … Du weißt schon.“
Richard blähte die Backen, legte seine Hand in den Nacken und ließ die Luft dann zischend aus seinem Mund entweichen.
„Der Tag der Zeugung wird ermittelt, jemand reist zurück und sorgt halt dafür, dass du … Dass es nicht dazu kommt“, sagte er. „Mehr weiß ich auch nicht. Ist ja nicht meine Abteilung gewesen. Vielleicht tun die deinem Vater oder deiner Mutter einfach was in den Kaffee. Etwas, das einen kurzzeitig unfruchtbar macht oder so. Keine Ahnung.“ Richard winkte ab. „Ich weiß nur, dass BLOCH die Konsequenzen analysiert, die es haben würde, einen Delinquenten zu … Ihn aus der Weltgeschichte zu streichen. Und wenn er die für tragbar hält, dann …“
Richard verstummte und lehnte sich zurück. Die Klimaanlage surrte monoton. Wie eine Elektrosäge, die den Baum fällte, auf dem er hockte. Richard verstopfte sich die Ohren mit den Zeigefingern. Das Surren wurde dumpfer, aber es verschwand nicht. Er hörte es immer noch. Dieses unerbittliche Surren. Richard schüttelte sich. Man sagte, Zeit sei Veränderung, und das stimmte. Dennoch waren es fast immer die Dinge, die sich nicht veränderten, oder es zu langsam taten, um die Veränderung zu bemerken, die einen spüren ließen, dass die Zeit verging. Ganz gleich, ob es sich dabei um Felsen handelte, die beinahe aufgehört hatten, zu existieren, weil man sich an ihre Form gewöhnt hatte oder um Ideale, denen man langsam entwuchs oder dieses verdammte Surren, das Richard von Sekunde zu Sekunde stärker verabscheute. Diese Dinge blieben, was sie waren, während man an seiner Haltung ihnen gegenüber, die sich ständig veränderte, ablesen konnte, dass man älter wurde. Richard zog die Zeigefinger aus den Ohren. Die Klimaanlage surrte. Plötzlich kam es ihm vollkommen absurd vor, dass man gegen den Zeitstrom anschwimmen konnte. Hier drinnen schien die Sache mit den Tachyonen wieder so unwirklich zu sein, wie damals, als sie noch nicht viel mehr als eine Hypothese gewesen war.
„Was ist eigentlich mit dem Typen, den ich …“ Karl hatte sich von der Tür gelöst, stand jetzt mitten im Raum, zwischen den beiden Bänken. „Wird der dann wieder lebendig?“
„Nein. Denn er ist ja nie tot gewesen.“ Richard kniff die Augen zusammen. „Beziehungsweise wird er dann nie tot gewesen sein. Ist alles recht kompliziert, ich weiß. Die Tat wird quasi mit dem Täter ausgelöscht. Und die … die Hinrichtung … Wenn man das so nennen kann … Die Hinrichtung hat es dann auch nie gegeben. Ist doch toll, was? Niemand muss sich was vorwerfen. Moralisch ist da alles im grünen Bereich. Die Henker hören ja in dem Moment auf, Henker zu sein, in dem sie zu Henkern werden. Da gibt es natürlich auch keine Proteste mehr gegen. Diese ganzen Argumente, dass die Strafe eine Tat nicht ungeschehen macht und so, die kann man jetzt ja vergessen.“ Richard erhob sich, schob Karl sanft beiseite und ging in der Zelle auf und ab, während er gegen das Surren anredete.
„Du machst mich nervös“, sagte der Dicke und stellte sich ihm in den Weg.
*
Richard hatte seine Hände in den Taschen eines langen Offiziersmantels vergraben. Er folgte den Schienen, die aus dem aschgrauen Schnee ragten. In der Ferne kauerte der alte Bahnhof hinter einer Verwehung wie ein vergessener Infanterist vor Stalingrad. Oberleitungsmasten waren unter dem Gewicht tiefhängender Wolken eingesunken, standen schief neben der Trasse. Ein Waggon verrostete auf den Gleisen. Jemand hatte mit roter Farbe das Wort Bar auf seine Seitenwand geschmiert.
Richard blieb stehen, schob den Mantelärmel zurück und blickte auf seine Uhr: fünf vor Drei. Arthur war sicherlich schon da – der Kerl erschien immer mindestens zwanzig Minuten zu früh. Richard ließ den Arm sinken. Schneeflocken schmolzen auf seinem Gesicht. Er mochte es, erwartet zu werden und gab sich daher größte Mühe, nie als erster irgendwo aufzutauchen.
Richard ging weiter. Wenn er nach links blickte, sah er nichts außer der Einöde, die am Horizont mit dem Himmel verschmolz. Er hatte dann das Gefühl still zu stehen, weil es keine Orientierungspunkte gab. Der Schnee knirschte unter seinen schweren Schritten. Rechts von ihm, im Dunst jenseits der Schienen, lagen die Ruinen des alten Ghettos, zerklüftete Mauerreste, die um zerfallene Gebäude herumstanden; Gebäude, in denen früher die Unsterblichen gehaust hatten, lange bevor die Unproduktiven dort eingezogen waren, die Masse unvermittelbarer Arbeitsloser, die wie Blei in den Statistiken gelegen hatte, bis die damalige Regierung auf die Idee gekommen war, sie in diese Siedlung abzuschieben, dann hatte man die Tore geschlossen und geglaubt, das Problem gelöst zu haben.
Richard betrat den Bahnsteig, umkurvte einen ausgeweideten Fahrkartenautomaten, der auf dem rissigen Beton lag und öffnete die Tür, die in die Bahnhofshalle führte.
Warme Luft hüllte ihn ein, Gläserklirren, Stimmengewirr und das flackernde Licht von Neonschildern, die Namen von Biermarken ins Zwielicht brannten, die es längst nicht mehr gab. Richard streifte seinen Mantel ab, hing ihn an den gusseisernen Garderobenständer und schlich zur Theke. Ein glatzköpfiger Mann drehte sich zu ihm um und klopfte auf einen freien Barhocker.
„Du bist zu spät“, sagte er, während Richard sich setzte.
„Nein. Bin ich nicht. Es ist kurz vor Drei.“
„Du bist zu spät“, wiederholte Arthur. „Zu spät, um den letzten Zug noch zu erwischen.“
Richard nickte, lächelte und bestellte einen doppelten Wodka.
„Wie geht’s?“, fragte Arthur und nippte an seinem Glas, in dem träge Schaumpartikel auf einer gelblichen Plörre schwammen.
„Kann nicht klagen.“ Richard kippte den Wodka herunter und winkte den Barmann heran.
„Du wirkst angespannt.“
„So? Tu’ ich das?“ Richard trank.
„Stress auf der … Arbeit?“
„Versuch es erst gar nicht.“
Arthur grinste und deutete auf Richards Glas. Der Barmann schenkte nach.
„Komm schon. Jeder weiß, dass da irgendwas läuft“, sagte Arthur. „Ihr pfuscht irgendwie mit der Zeit herum. Stimmt doch, oder?“
„Ich hab dir schon zu viel erzählt.“ Richard leerte sein Glas, während er mit dem Daumennagel ein Zickzackmuster in die klebrige Schicht kratzte, die den Tresen bedeckte. „Du hättest eigentlich nie erfahren dürfen, dass man mich für diese Spezialeinheit …“
Der Barmann kam wieder angeschnauft und wollte gerade nach dem Schnapsglas greifen, als Arthur mit dem Kopf schüttelte, ihm die Flasche aus der Hand nahm und sie vor Richard abstellte.
„Hier“, sagte er. „Die geht auf mich.“
„Als wenn du dir das leisten könntest.“
Arthur blickte ihn mit stumpfen Augen an. Sein Grinsen war kollabiert.
„Ich könnte vielleicht, wenn du …“
„Hör auf.“
„Nur ein paar Details. Bitte. Mein Blog ist fast tot.“
„Nein.“
„Ich brauche Leser. Die Werbeeinnahmen reichen kaum für die Miete.“
„Ich kann wirklich nicht darüber reden. Ich darf nicht.“ Richard schob die Wodkaflasche zwischen seinen Händen hin und her. „Außerdem, selbst wenn ich dir was erzählen würde … selbst dann … dann hättest du nicht mehr allzu lange was davon.“
„Was soll das heißen? Was zur Hölle treibt ihr da?“
„Ich … ich meine …“, stammelte Richard. „Du weißt ja, was mit Blogs passiert, die zu groß werden.“
Arthur nickte zögernd. Er wusste es – jeder wusste es. Dennoch konnten die meisten Blogger schreiben, was sie wollten. Der Visionär hatte erkannt, dass es eine effektive Alternative zur Gleichschaltung gab, eine, die den Anschein von Freiheit wahrte: nicht nur, dass man eine eigene Meinung haben durfte, man wurde auch noch dazu ermuntert, diese zu äußern.
Der Geltungsdrang, der aus dem Widerspruch zwischen menschlicher Eitelkeit und dem Wissen um die eigene Nichtigkeit entstand, hatte schon vor Jahrhunderten dazu geführt, dass das Internet zu einem Selbstoffenbarungssumpf geworden war. Daran hatte sich nicht allzu viel geändert. Man zündete keine Tempel an, so wie Herostratos es getan hatte, sondern gründete Blogs. Man lebte nur noch, um darüber zu berichten, über jede noch so unbedeutende Kleinigkeit. Und da alle großen Nachrichtenportale verboten worden waren, war das Journalistentum in diesen Sumpf gestoßen worden und darin versunken – kaum jemand interessierte sich noch für Informationen, die über das Internet verbreitet wurden.
Jedoch kam es immer wieder vor, dass ein Blog, aufgrund echter oder, was vermutlich häufiger der Fall war, erfundener Meldungen, größere Aufmerksamkeit auf sich zog. Diese Blogs verschwanden irgendwann einfach. Der Meinungsmonopolisierung wurde rasch und zuverlässig entgegen gewirkt.
„Dann muss ich mir halt wieder was aus den Fingern saugen“, murmelte Arthur und leerte sein Glas.
„Aber nichts, was meinen … Job betreffen könnte.“ Richard schob die Wodkaflasche beiseite. „Es könnte ja zufällig wahr sein.“
„Keine Sorge.“ Arthur klopfte ihm auf die Schulter, etwas zu kräftig, als wollte er eine Fliege erschlagen, die auf Richards Achselklappe hockte. „Will dir ja keine Schwierigkeiten machen.“
Der Barmann brachte Arthur ein neues Bier, das der Glatzkopf schweigend trank, während Menschen kamen und Menschen gingen; ein kalter Hauch streifte Richards Nacken, sobald die Tür des Bahnhofsgebäudes geöffnet wurde.
Jemand hatte eine Münze in die Jukebox geworfen; ein Song staubte aus dem Lautsprecher, knisternd wie trockenes Laub, das man zwischen den Fingern zerrieb. Richard kam die Melodie bekannt vor und diese brüchige Stimme, die in einer Sprache sang, die er nicht verstand. Er versuchte, sich an den Titel des Liedes zu erinnern, lehnte sich zur Seite, der Ecke entgegen, in der es wie ein zerbrechlicher Greis neben der Jukebox stand und nicht wagte, in dieses fremde, jugendliche Stimmengewirr, das einer anderen Generation entstammte, einzutauchen. Richard schüttelte den Kopf. Die Jukebox verstummte. Irgendwo hinter ihm zerbrach ein Glas.
Richard stützte seine Ellenbogen auf die Theke und legte das Kinn auf seine aneinander gepressten Fäuste. Er dachte darüber nach, was sich alles verändern würde. Er dachte über Arthur nach und darüber, dass diese Freundschaft höchstwahrscheinlich verschwinden würde, was Richard bedauerte. Zumindest glaubte er das. Zwei Jahre seines Lebens, der Tag, an dem sie in die Kaserne gekommen waren und ihm gratuliert hatten, als wenn er bei einem Preisausschreiben gewonnen hätte, die Ausbildung, die Besuche in dieser Bar, das alles würde überschrieben werden. Vielleicht würde man ihn wieder auswählen. Für die nächste Mission, die dann natürlich die erste sein würde. Jede Mission war stets die erste Mission.
Eine Frau mittleren Alters hatte sich neben Arthur an den Tresen gesetzt. Richard konnte ihr Parfüm riechen. Es hatte den Dunst aus Alkohol und verbranntem Tabak erschlagen.
Sie bestellte mit leiser Stimme einen Tequila Sunrise, was der Barmann offensichtlich überhört hatte, denn er fuhr ungerührt fort, mit entrücktem Gesichtsausdruck den Zapfhahn zu befingern. Die Frau wiederholte ihre Bestellung nicht, sondern rutschte nervös auf dem Hocker herum.
„Sie müssen lauter sprechen“, sagte Arthur. „Der Kerl ist schwerhörig.“
Die Frau sah kurz auf. Ein Lächeln lugte hinter ihrem knallroten Lippenstift hervor.
„Arthur.“ Er reichte ihr seine Hand. Die Frau griff zögernd danach.
„Freut mich“, sagte sie.
„Kommen Sie oft her?“
„Nein. Eigentlich nicht.“
Arthur stupste Richard mit dem Ellenbogen an. Richard seufzte leise. Er wusste, was nun folgen würde.
„Sie trinken Tequila Sunrise?“, fragte Arthur.
„Das hatte ich jedenfalls vor.“
„Darf ich Ihnen einen ausgeben?“
Die Frau schwieg. Richard sah ihre lackierten Fingernägel, die wie grellgelbe Käfer über den Tresen huschten.
„Wenn Sie wollen“, sagte sie schließlich.
Arthur stupste Richard erneut an, bevor er sich wieder der Frau widmete: „Nein, will ich nicht.“ Er machte eine kurze Pause. „Nicht mehr.“
Die gelben Käfer hüpften vom Tresen, in den Schoß der Frau.
„Wie meinen Sie das?“
„Ich will Ihnen einfach nichts ausgeben.“
„Aber gerade haben Sie mich doch noch gefragt, ob …“
„Da hab’ ich aber noch nicht gewusst, dass Sie sich tatsächlich von mir einladen lassen würden.“
„Aber …“ Die Frau verstummte, als Arthur abwehrend seine Hand hob.
Richard sah weg. Er hörte, wie der Hocker der Frau quietschte, hörte das Rascheln ihres Kleides, das Klacken hoher Absätze, dann spürte er den kalten Hauch in seinem Nacken und Arthurs Ellenbogen, der seine Hüfte berührte.
„Die hast du verscheucht“, sagte Richard.
„Ja. Offensichtlich.“
„Du hättest ihr `ne Chance geben sollen.“ Richard reichte sein Glas dem Barmann, der es achtlos ins Spülbecken warf. „Hat doch ganz nett ausgesehen.“
„Stimmt. Aber schau mich doch an.“ Arthur breitete die Arme aus. „Frauen, die sich auf mich einlassen würden, müssen wirklich total verzweifelt sein. Die müssen Probleme haben. Niemand, der sich was leisten kann, kauft im Secondhandladen ein.“
„Und daher würdest du nur was mit Frauen anfangen, die dich abblitzen lassen.“ Richard bohrte sich die Spitze seines Zeigefingers ins Stirnrunzeln. „Weißt du eigentlich, wie bescheuert das ist?“
Arthur zuckte mit den Schultern.
„Du solltest dir wirklich mal ein wenig Selbstbewusstsein zulegen.“
„Dafür bin ich zu aufrichtig. Selbstbewusstsein ist doch fast immer die Folge von Selbstbetrug. Minderwertigkeitskomplexe dagegen … Die sind in der Regel nichts weiter als realistische Selbsteinschätzung.“
„Du spinnst.“
„Ich will mich einfach nicht auf Frauen einlassen, die es sich nicht mehr erlauben können, wählerisch zu sein“, sagte Arthur. „Irgendwie geht es bei solchen Sachen doch immer um Selbstbestätigung. Der einsame Mensch, dieses Zufallsprodukt der Evolution, das wenigstens für die Dauer einer Umarmung oder ein paar feuchte Küsse lang das Gefühl haben will, etwas Besonderes zu sein. Ein Auserwählter.“ Arthur machte eine wegwerfende Geste. „Mich wählt niemand aus. Wer mich nimmt, der nimmt mich, weil er keine Wahl mehr hat. Oder glaubt, keine Wahl mehr zu haben. Was soll mir das bringen? Wenn ich mich auf sowas einlassen würde, dann hätte ich irgendwie das Gefühl, alles, was mir an Würde noch geblieben ist, in den Müll zu schmeißen.“
„Warum versuchst du es dann überhaupt noch?“
„Vielleicht, weil es sowas wie Heroismus ist, zwar zu wissen, dass man scheitern wird, aber trotzdem nicht aufzugeben. Manchmal ist dieses Trotzdem alles, was einem bleibt.“ Arthur blickte zu einem der beschlagenen Fenster hinüber. „Das Leben ist ein beschissener Witz ohne Pointe, das begreift jeder früher oder später. Und wenn man das dann begriffen hat und sich nicht umbringt, sondern Jetzt erst recht sagt, dann wird jeder Atemzug zu einem Schwerthieb, der einen Drachen tötet.“ Er lachte.
Ja, diese Freundschaft würde verschwinden. Richard blickte auf seine Uhr, ohne auf die Ziffern zu achten, die auf dem Display leuchteten.
„Ich muss nach Hause“, sagte er. „Malina wartet.“
„Ja. Natürlich.“ Arthur kratzte sich am Kinn. „Sie wartet.“
*
„Wenn wir überhaupt nicht wirklich sterben, dann …“ Karl sank auf die Bank, als wenn die Schwere des Gedankens, der sich in seinem Kopf gebildet hatte, ihn nach unten ziehen würde. „Dann haben wir ja keine Chance, dass es … danach irgendwie weiter geht.“
„Danach?“
„Nachdem wir verschwunden sind. Ich meine, wenn man uns hinrichten würde … Auf die herkömmliche Art und Weise … Wenn man uns umbringen würde, dann …“
Richard hockte im Schneidersitz auf dem kalten Zellenboden, den Rücken gegen die Tür gelehnt.
„Bist du etwa religiös?“, fragte er.
„Nein … Nein, eigentlich nicht. Aber wenn man kurz davor ist … In einer solchen Situation … Da kommt man schon ins Grübeln. Ich meine, wenn wir … sterben würden, dann würde zumindest eine Chance bestehen … Man könnte irgendwie darauf hoffen, dass danach noch was passiert.“
„Das macht keinen Unterschied. Wenn man stirbt, dann ist man auch ausgelöscht. Danach kommt nichts mehr.“
„Wie kannst du dir da so sicher sein?“
Richard beugte sich nach vorne. Sein Rücken schmerzte. In ein paar Stunden würde das vorbei sein. Keine Schmerzen mehr. Nichts mehr. Dann würde er nie Schmerzen gehabt haben. Richard erhob sich ächzend. Ihm fiel plötzlich diese antike Geschichte wieder ein, der Mythos vom weisen Silen, dem Lehrer des Dionysos, der, von König Midas gefangen, auf dessen Frage, was das Beste für den Menschen sei, nach langem Zögern antwortete: nicht geboren zu sein.
„Niemand kann wissen, ob es danach irgendwie weiter geht oder nicht.“ Karl war wieder den Tränen nahe.
„Hör auf, darüber nachzudenken. Wir können es sowieso nicht ändern. Außerdem ist es doch besser so. Wenn man stirbt, dann lässt man Menschen zurück, die um einen trauern. Aber wir werden rückstandslos ausradiert. Niemand wird uns nachheulen. Das ist doch ein Vorteil? Oder etwa nicht?“
Karl schwieg. Er schien davon nicht überzeugt zu sein.
„Es gibt da noch einen Vorteil“, fuhr Richard fort. „Wer nicht stirbt, der kann auch nicht in der Hölle landen. An deiner Stelle wäre ich froh darüber. Du bist schließlich ein Mörder.“ Richard fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die fettigen Haare. „Für uns existiert keine Hölle“, sagte er, fast flüsternd, als würde er mit sich selbst sprechen.
„Ich denke, Gott oder Allah oder wer auch immer würde mir vergeben“, murmelte Karl.
*
Hans Schober saß an einem Schreibtisch, der in dem riesigen Büro klein und verloren wirkte und trommelte mit goldberingten Fingern auf seinen Oberschenkeln herum. Er trug den selben Anzug wie auf dem Foto, das selbe braune Einstecktuch.
Richard hockte schräg hinter ihm, im Schatten einer der dicken Marmorsäulen, auf denen die gewölbte Decke des Büros ruhte und starrte auf einen Monitor, der an seinem Handgelenk befestigt war und zeigte, was die winzige Kamera, die er aus seiner Deckung hinaus geschoben und auf den Schreibtisch ausgerichtet hatte, sah.
Sarah, dachte er. Hast du das Sekundärziel ausgeschaltet?
Positiv. Richard hörte ihre Stimme in seinem Kopf. Betäubt und in der Abstellkammer versteckt.
Gut. Er öffnete vorsichtig seine Gürteltasche und holte ein Fläschchen heraus.
Der Wagen des Betriebsratsvorsitzenden ist gerade vorgefahren. Wilhelms Stimme platzte in seine Gedanken. Bist du bereit?
Richard stellte das Fläschchen vor sich auf dem Marmorboden ab.
Ja, dachte er. Alles klar.
Hans Schober war aufgestanden und zu einem Schrank gegangen, der unter einem der hohen, buntverglasten Fenster stand. Er kam mit einer Dose zurück, öffnete sie, fingerte ein halbes Dutzend Bockwürste heraus, warf sie in den Mülleimer und schüttete das Wurstwasser behutsam in ein Glas. Schober ließ sich auf seinen Bürosessel fallen, kramte eine Glasflasche aus einer der Schreibtischschubladen, drehte den Verschluss auf und goss einen Schluck der klaren Flüssigkeit in das trübe Wurstwasser.
Er hat sich gerade seinen komischen Cocktail …
Wursdka, hörte er Wilhelm denken.
Was?
Dieser … komische Cocktail … nennt sich Wursdka. Wodka mit …
Wie auch immer. Er ist jedenfalls fertig damit. Wie sieht’s bei dir aus?
Der Vorsitzende hat die Tür erreicht.
Ein Glockenspiel ertönte. Schober blickte auf seine Armbanduhr. Das Glockenspiel ertönte erneut. Schober seufzte, drückte auf einen Knopf, der in seinen Schreibtisch eingelassen war und beugte sich nach vorne.
„Würden Sie bitte die Tür öffnen“, sagte er. Der Lautsprecher des Intercoms rauschte. Die Glocken läuteten. Richard griff nach dem Fläschchen.
„Frau Schneider?“ Schober klang ungehalten. „Frau Schneider? Würden Sie bitte …“
Er winkte ab, sprang auf, eilte durch sein Büro, stieß die schwere Eichenholztür auf und stürmte ins Vorzimmer.
Jetzt, dachte Sarah.
Richard öffnete das Fläschchen, lief auf Filzsohlen zum Schreibtisch, schüttete den Inhalt des Gefäßes in den Wursdka und verkroch sich dann wieder hinter der Säule.
Erledigt, dachte er.
Sie kommen.
Schober betrat das Büro, gefolgt von einem kleinen Mann, der mit Trippelschritten einem Aktenordner folgte, den er mit annähernd ausgestreckten Armen vor sich her trug.
„Ist Ihre Sekretärin krank?“
Der Industrielle antwortete nicht, sondern setzte sich an seinen Schreibtisch, faltete die Hände vor der Brust und musterte den Vorsitzenden, der sich hektisch umsah, entweder um Schobers Blick auszuweichen, oder weil er einen Stuhl suchte.
Hat er das Zeug schon getrunken?
Nein, dachte Richard. Noch nicht.
Der Vorsitzende räusperte sich, trat einen Schritt vor und legte den Aktenordner behutsam auf den Schreibtisch.
„Das Protokoll der letzten Betriebsratssitzung“, sagte er und wich wieder zurück, während das Echo seiner heiseren Stimme langsam verhallte.
Schober streckte seine Arme aus, legte die Handflächen auf die Tischplatte und verharrte einige Sekunden lang in dieser Haltung, dann schob er den Aktenordner beiseite und griff nach dem Glas. Der Vorsitzende nestelte am Kragen seines Hemdes herum.
Es ist soweit.
Schober trank mit kleinen Schlucken, wischte sich über den Mund und wollte das Glas gerade wieder auf den Tisch zurück stellen, als er mitten in der Bewegung erstarrte.
„Geht es Ihnen nicht gut?“, fragte der Vorsitzende.
Das Glas zerschellte auf dem Boden. Schober erblasste, fasste sich an die Brust, vergrub die Finger in seinem Hemd, so, als versuchte er, sich das Herz aus dem Leib zu reißen.
Richard schaltete den Monitor ab. Er hörte, wie Schober keuchte, wie der Vorsitzende nach einem Arzt rief, aus dem Büro rannte, hörte die Holztür, die krachend ins Schloss fiel, versiegendes Röcheln, eine Stimme, die dumpf nach der Sekretärin rief, dann hörte er nichts mehr.
Ist er tot?
Richard nickte.
Ist er tot?
Ja, dachte er. Es ist vorbei.
Richard erhob sich und verstaute das Fläschchen in seiner Hosentasche. Ein Flackern huschte über die Wände des Büros, wie ein Windstoß, der eine Hecke durchfuhr.
Gute Arbeit, Leute. Wir sehen uns drau...
Rückkopplungen schossen aus Schobers Intercom, durchschnitten die Stille. Richard fuhr herum; die Säulen waren verschwunden, der Schreibtisch halb im Boden versunken. Von Schobers Leiche fehlte jede Spur. Die Bürotür stand offen – dahinter nichts als Dunkelheit und der Vorsitzende, der in der Schwärze schwebte wie ein Satellit, wild mit den Armen fuchtelnd einen unsichtbaren Himmelskörper umkreiste.
Sarah? Siehst du das auch?
Erneut durchlief das Flackern den Raum. Richard fuhr zusammen. Eine Gestalt war neben der Tür aufgetaucht, stand reglos im Zwielicht, das sich in den Ecken des Büros gesammelt hatte. Ihr Kopf war gesenkt, verkrampfte Finger hingen wie Haken an ihren Handtellern. So stand sie da, gehüllt in einen zu großen Anzug, mit dem Gesicht zur Wand. Dann verschwand sie wieder.
Hallo, dachte Richard. Seid ihr noch drin? Irgendwas stimmt hier nicht.
Niemand antwortete ihm. Die Sonne raste an den Fenstern vorbei, Tage und Nächte kamen und gingen im Sekundentakt, Wochen schienen zu verstreichen, Monate, Jahre.
Hallo?Ich bin nicht aufgewacht. Hört ihr …
Schober erschien wieder; direkt vor Richard entwuchs er dem pulsierenden Marmorboden. Sein Kopf lag wie eine abgeknickte weiße Blüte auf seiner Schulter, seine Augen waren verdreht, ein stummer Schrei hatte seine bläulichen Lippen auseinandergerissen. Richard wich zurück, Schober hob langsam den Arm, streckte ihn Richard entgegen. Irgendetwas lag auf seiner Handfläche.
Hallo? Holt mich endlich hier raus, verdammt.
Schober zuckte wie von einem Krampfanfall geschüttelt, verschwand und tauchte gleich darauf wieder auf. Ein starres Lächeln zierte nun sein Gesicht, das etwas zu rosig war, wie eine Maske wirkte.
Was soll das?
„Sieh her“, sagte der Industrielle und kam näher. Sein Arm war immer noch ausgestreckt.
Richard erkannte, was er in der Hand hielt: eine Ansteckplakette, auf der eine stilisierte Mauer abgebildet war, über der eine Spitzhacke thronte. Schober schloss seine Hand, nickte Richard lächelnd zu, dann drehte er sich um und ging. Der Raum kollabierte; Richard wurde schwindelig, er verlor das Gleichgewicht, er fiel.
Und öffnete die Augen. Seine Teammitglieder hatten sich bereits von den Liegen erhoben und waren damit beschäftigt, die Elektroden von ihren Köpfen zu lösen.
Gut gemacht, dröhnte BLOCHs Stimme. Ihr seid bereit.
*
„Du hast ihn mit einem Löffel erschlagen?“
Karl nickte.
„Ich glaub’ es jedenfalls. Die Bullen haben das Ding neben seiner Leiche … Ich kann mich nicht mehr daran erinnern. Ich weiß nur, dass ich in den Keller gestürmt bin und … Sie haben mich irgendwann auf der Straße gefunden. Hab’ auf dem Gehweg gehockt … Blutverschmiert … Hab’ auf dem Gehweg gehockt und …“
„Mit einem Löffel?“
Karl zupfte an seinem Ohrläppchen herum.
„Es ist ein großer Löffel gewesen“, sagte er.
Richard schnalzte mit der Zunge.
„Ich hab’ das nicht gewollt. Natürlich hat er es verdient gehabt, aber ... Ich meine, was hättest du an meiner Stelle getan? Das Schwein hat Hans einfach abgestochen. Völlig grundlos. Ich hab’ ihn gefragt, warum er das getan hat. Immer wieder hab’ ich ihn gefragt, aber er … er …“ Karl schluchzte. „Ich hab’ das nicht gewollt. Wirklich nicht. Ich hab’ ihn aufgespürt. Hab’ ihn niedergeschlagen. Ihn in meinen Keller geschleppt. An den Stuhl gefesselt.“ Karl schnäuzte sich in den Ärmel seines Overalls. „An Rache zu denken … Das hält einen über Wasser. Man hat dann irgendwie das Gefühl, nicht völlig machtlos zu sein. Etwas tun zu können. Etwas zu verändern, wenn man dieses Schwein nur … Aber da macht man sich natürlich was vor. Das hab’ ich gewusst. Rache ändert nichts.“
„Doch“, sagte Richard und deutete auf die Zellentür. „Hier tut sie das durchaus.“
„Rache ändert nichts.“ Karl ignorierte den Einwand. „Man erledigt den Typen. Zahlt es ihm heim. Das mag ja erstmal ganz befriedigend sein. Man erledigt den Typen und danach kommt dann die Leere. Hilflosigkeit. Trauer und so. Mir ist klar gewesen, dass ich ... Wenn ich den Kerl umbringen würde … Dass ich Hans dann endgültig verloren hätte.“ Karl schwieg ein paar tiefe Atemzüge lang, dann hob er den Kopf, sah Richard mit einem seltsam sanften Lächeln an, das gegen das Zittern seiner Lippen ankämpfte und fuhr dann fort: „Das Schwein in meinen Keller zu sperren … Das ist ein Versuch gewesen, irgendwie mit der Sache fertig zu werden. Ich hab’ gewusst, dass ich … Wenn es mal unerträglich werden würde … Dass ich dann einfach runter in den Keller gehen könnte und … Das hat mich beruhigt. Ein paar Wochen lang. Doch dann ist es plötzlich unerträglich geworden.“
„Mit einem Löffel“, murmelte Richard und schüttelte den Kopf.
*
„Müssen wir das wirklich tun? Gibt es keine andere Möglichkeit?“
BLOCH brummte, seine Ventilatoren heulten kurz auf und verstummten dann wieder.
Zweifelst du an meinen Berechnungen?
„Nein.“ Richards Gesäß stieß gegen einen der Stühle, die hinter ihm um den großen Tisch herum standen. „Natürlich nicht. Ich hab’ mir nur gedacht, dass es vielleicht … Alternativen gibt.“
Das bleiche Antlitz des Visionärs lächelte kühl vom großen Monitor herab.
Es gibt keine Alternativen.
„Aber …“
Schober muss beseitigt werden. So wurde es berechnet. So wird es geschehen. Im Namen unseres großen Führers.
„Schober ist der Kopf der Befreiungsbewegung gewesen. Ohne ihn …“ Richard trat einen Schritt vor. Das Antlitz des Visionärs schien leicht zu schrumpfen, als würde es vor ihm zurückweichen. „Darum geht es doch, oder? Die Bewegung zu stoppen.“
So wurde es berechnet. So wird es geschehen. Tempora mutantur.
„Nos et mutamur in illis“, rief Richard. Die Worte waren aus seinem Mund geflossen wie Sabber aus dem Maul des Pawlowschen Hundes. „Ich würde nie an dir zweifeln. Oder am großen Plan. Oder am Visionär. Das schwöre ich. Aber diese Befreiung …“ Richard schlug sich gegen die Brust. „Warum wurde ausgerechnet ich ausgewählt? Du musst doch gewusst haben, dass ich …“
Tempora mutantur.
„Nos et mutam…“ Richard biss sich auf die Unterlippe. „Warum ich? Warum nicht jemand, dem das alles völlig gleichgültig ist? Für den diese Sache nur eine vergilbte Seite in einem Geschichtsbuch ist? Das muss doch irgendeinen Grund haben.“
Du wurdest aufgrund deiner Qualifikationen ausgewählt. Ein leierndes Pfeifen hatte sich unter das Brummen gemischt, nagte an seiner massiven Monotonie. Schober muss beseitigt werden. So wurde es berechnet. So wird es geschehen. Die Befreiung muss verhindert werden. So wurde es berechnet. So wird es geschehen. Wir nähern uns mit kleinen Schritten dem Paradies. Jede Veränderung ist absolut notwendig, um die große Umwälzung vorzubereiten, den finalen Schlag gegen die Alte Welt. Die Vision unseres großen Führers wird Wirklichkeit werden. Das Ende der Geschichte. Eine Welt wird entstehen, die Utopien nicht mehr nötig hat. Das Antlitz des Visionärs hatte die Augen geschlossen. Seine Lider zuckten. Sie wird entstehen … mehr als zehn Jahre vor meiner Erschaffung.
„Warum hast du das getan?“, fragte Richard. „Warum hast du mich darauf aufmerksam gemacht? In der Simulation. Das ist doch keine Fehlfunktion gewesen. Die Sache mit der Plakette. Was sollte das?“
Das Antlitz des Visionärs schlug die Augen auf – und erlosch plötzlich; BLOCHs Brummen versickerte in der Stille.
Richard stand vor dem schwarzen Bildschirm wie ein Affe vor Malewitschs Quadrat. Das grünliche Glimmen, das von den Wänden ausging, hatte die blassen Schatten der Gardisten herangespült. Richard hörte flüsternde Stimmen, das Scharren von Stiefeln.
„BLOCH?“
Das Flüstern der Gardisten schwoll zu einem Stimmengewirr an, das wie ein Schwarm aufgescheuchter Vögel durch den Saal flatterte.
„Hallo?“
BLOCH reagierte nicht. Richard senkte resigniert den Kopf. Er hatte das Gefühl, auf einen gewaltigen Müllcontainer einzureden.
*
„Es gibt natürlich eine Ersatzmannschaft. Das ist wie bei den Astronauten“, sagte Richard. „Falls mal jemand ausfällt. Aber ich muss ja nicht ersetzt werden. Sobald man das hier durchgezogen hat, wird jemand Anderes rekrutiert worden sein.“
„Dann ist deine Weigerung völlig sinnlos gewesen.“
Richard zuckte mit den Schultern.
„Wer ist dieser … Schröder eigentlich gewesen?“
„Schober“, sagte Richard. „Hans Schober. Gründer und Mäzen der Befreiungsbewegung.“
Karl runzelte die Stirn.
„Die Typen, die damals vorm großen Bürgerkrieg die Mauern des Ghettos eingerissen und die Leute da rausgeholt haben.“
„Ah ja.“ Karl nickte schwerfällig.
„Malinas Vorfahren haben da gelebt“, sagte Richard. „Wenn Schober nicht gewesen wäre … die Befreiungsbewegung … Wenn die nicht gewesen wäre, dann …“
Richard schloss seine Augen. Die Klimaanlage surrte. Er fragte sich, ob er soetwas wie Reue empfände, wenn der Tachyonenstrom sein Leben, das die Summe seiner Handlungen war, in ein paar Stunden nicht in den Fluss des Vergessens spülen würde. Man bereute nur Dinge, die sich nicht ändern ließen. Richard hielt den Gedanken für tröstlich, dass alles, was er getan oder nicht getan hatte, keinerlei Rolle mehr spielte, dass er keine Spuren zurücklassen würde. Wenn es stimmte, dass das Leben eines Sterbenden vor dessen Augen ablief, in einem biochemischen Kinosaal, dann war das nichts weiter als die finale Grausamkeit der Natur, die einem diese besiegelte Reihe aus Verlusten, Fehlschlägen, Enttäuschungen und ungenutzten Möglichkeiten an den Kopf warf wie ein gefrorenes Stück Scheiße. Ihm würde das nicht passieren.
„Ich bin müde“, sagte Karl.
„Dann schlaf doch `ne Runde.“
„Ich will meine letzten Stunden nicht verpennen.“ Karl gähnte. „Wenn ich einschlafen sollte, dann versprich mir, mich zu wecken.“
„Deine letzten Stunden? Was sind die wert? Findest du es wirklich toll, hier zu hocken und zu zittern und zu flennen und auf das Ende zu warten?“
„Und was ist mit dieser Geschichte über Jack Dingsbums?“, fragte Karl. „Diesem Collegetypen? Jeder Moment ist kostbar und so?“
Richard winkte ab.
„Wenn ich einpennen sollte“, sagte er, „dann lass mich einfach schlafen.“
*
Die Tür schwang auf, grauer Pulverschnee wehte wie Asche herein, schmolz unter mit Müllsäcken umwickelten Füßen, die durch das Gejaule der Jukebox knisterten und den kleinen, runden Tisch passierten, an dem Arthur und Richard hockten und sich über eine Wand aus leeren Gläsern und Flaschen hinweg unterhielten.
„Warum erzählst du mir das alles?“ Arthur klappte sein Notizbuch zu und lehnte sich zurück.
„Du bist meine letzte Hoffnung. Wenn ich es nicht tue, dann tut es ein Anderer und … Ich weiß nicht. Vielleicht … Wenn du darüber berichtest … Wenn alle es erfahren … Vielleicht … vielleicht … Ich weiß nicht“, stammelte Richard. Seine Stimme überschlug sich. „Das muss irgendwie gestoppt werden.“
Arthur presste sich den Zeigefinger auf sein Lächeln.
„Das muss aufhören“, flüsterte Richard.
„Ich denke, du weißt genau so gut wie ich, dass das nicht aufhören wird.“
Richard griff nach einem Glas, führte es zitternd zu seinen Lippen, merkte, dass es leer war und stellte es zurück auf den Tisch.
„Aber wir müssen es versuchen“, sagte er. „Ich will sie nicht verlieren. Das ist keine gewöhnliche Liebe. Das ist viel mehr. Das … das ist ein Schicksal. Wenn sie mich umarmt hat, dann hat mich nicht sie umarmt, sondern der Weltgeist höchstpersönlich. Verstehst du das? Ich bin durch sie zu einem Teil der Geschichte geworden.“
„Aber mir vorwerfen, ich würde spinnen.“
Richard winkte den Barmann heran und bestellte einen doppelten Wodka, während sein Blick durch die Bar torkelte, bis er eine dürre Frau anrempelte, die mit zitternder Hand ein ausgefranstes Guckloch in den kondensierten Säuferatem gewischt und ihre Nase gegen die Scheibe gepresst hatte.
„Sie kommen näher“, sagte die Frau.
Ein Mann, der neben dem Fenster an der Wand lehnte, berührte sanft ihren Arm.
„Aber sie sind trotzdem noch weit weg.“ Eine erloschene Zigarette wippte zwischen seinen Lippen. Richard griff nach dem Glas, das ihm der Barmann gebracht hatte.
„Sei kein Egoist“, sagte Arthur.
„Wie meinst du das?“ Richard kippte den Fusel herunter.
„Du weißt ganz genau, wie ich das meine. Wenn sie dich nicht kennengelernt hätte, dann wär’ das nie mit ihr passiert. Du könntest sie retten.“
„Ich könnte sie … Das will ich aber nicht.“ Richards Faust landete auf der Tischplatte, die Gläser klirrten.
„Du könntest es rückgängig machen.“
„Ich will nichts rückgängig machen. Was hätte ich denn tun sollen? Ich meine, wie lange wär’ das gut gegangen? Natürlich ist zwischen uns alles bestens gewesen. Ein rosaroter Himmel voller Trompe… Geigen. Ein Himmel voller Geigen. Das ist am Anfang ja immer so. Aber wie lange? Einen Monat? Ein Jahr? Keine Ahnung. Irgendwann wär’ es jedenfalls vorbei gewesen. Aber ich ... Sie ist da drin.“ Er schlug sich gegen die Stirn. „Da drin. Und sie soll da drin bleiben.“ Richards Mittelfinger wanderte über den Rand eines Glases und hielt plötzlich inne, rutschte ab, stürzte in die Wodkaneige. „Woher weißt du überhaupt davon?“
Arthur legte das Notizbuch auf den Tisch, so behutsam, als bestünde es aus Porzellan, betrachtete es einige Sekunden lang, dann griff er wieder danach und verstaute es in der Innentasche seines Mantels.
„Woher weißt du davon?“, wiederholte Richard und sprang auf.
Arthur seufzte, wandte sich einem der Nachbartische zu und gab den beiden Männern, die dort saßen, ein Zeichen mit seiner Hand, woraufhin sie sich langsam von ihren Stühlen erhoben.
*
Dielen knarren … dünsten Staubwolken aus … Regale an den Wänden … aufgereihte Einmachgläser … in jedem eine leuchtende Glühbirne … Karl steht auf einem Hocker … eine dürre Gestalt … an seinem Rücken klebt ein Besenstiel … er deutet auf ein Regal … er öffnet den Mund … er spricht … das Licht erloschener Sterne … er schreit … der Nachthimmel ist ein Friedhof … er hüpft auf und ab … dort warten die Toten mit gewetzten Messern auf einsame Wanderer … der Hocker zerbricht unter seinem Gewicht … bring’ mir mein Notizbuch … Spinnweben hängen von Dachbalken herab … dort hinten … Richard schiebt sie beiseite … Ketten klirren … schleifen über den Boden … während er durch den Vorhang aus rostigem Stahl gleitet … an der Wand Bilderrahmen … ovale Portraits … er betrachtet sie … flackerndes Kerzenlicht auf starren Ölgesichtern … einer der Rahmen ist leer … er beugt sich vor … sieht hindurch … die Scheibe ist schmutzig … unten steht Malina … stiert zu ihm hinauf … ein Fahrzeug rollt heran … ein schwarzer Bus … uniformierte Männer springen heraus … packen sie … Türen schlagen … das Fahrzeug braust davon … verschwindet im Wald … Malina stiert zu ihm hinauf … er zieht das Rollo herunter … ein Projektor rattert … projiziert einen Countdown auf die Leinwand … jemand bewirft ihn mit Popcorn … der Countdown läuft … drei … zwei … eins … auf der Leinwand erscheint Malina … schwarzweiß und flimmernd … sie steht auf einem Feldweg … es regnet … ein Piano klimpert hektisch … sie kommt näher … breitet die Arme aus … kommt näher … füllt die Leinwand … der Projektor quietscht … Malina weicht zurück … der Projektor rattert … sie steht auf einem Feldweg … es regnet … ein Piano klimpert hektisch … sie kommt näher … breitet die Arme aus … kommt näher … füllt die Leinwand …
Richard blinzelte benommen. Neonlicht brannte in seinen Augen, eine Klimaanlage surrte. Richard gähnte. Er war froh darüber, endlich aus diesem beschissenen Traum aufgewacht zu sein. Dann fiel ihm wieder ein, wo er sich befand.
„Hab’ ich lange geschlafen?“, fragte er.
Karl nickte. Es stank nach Erbrochenem. Richard setzte sich auf. Geräusche vor der Zellentür.
„Scheiße. Sie kommen.“
Karl schüttelte den Kopf.
„Nein“, sagte er. „Sie sind schon da.“
Ein Lautsprecher knackte.
„Aufstehen. Gesicht zur Wand“, keifte eine blecherne Stimme.
Die Tür öffnete sich mit einem leisen Pfeifen. Karl stand schwankend in der halbverdauten Henkersmahlzeit. Richard legte ihm seine Hand auf die Schulter. Das war alles, was er noch anzubieten hatte.