- Beitritt
- 10.09.2014
- Beiträge
- 1.782
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 18
Die Weihnachts-Magnum
Der Radetzky-Marsch! Bei den Klingeltönen hat meine Frau einen seltsamen Geschmack. Unser Nachbar ist es - Luca, ein Zugereister aus Italiens Süden. Schöne Weihnachten möchte er uns wünschen, und er hätte eine Kleinigkeit, die er uns zu diesem Anlass schenken möchte. Wir seien doch zu Hause, ob er für einen Moment herüberkommen dürfe?
Ach, Luca, das ist so lieb von Dir, aber selbstverständlich doch, wir freuen uns schon.
„Moni! Luca will kurz rüberkommen“, informiere ich meine Frau.
‚Zugereister’ trifft es nicht genau, immerhin wohnt er schon elf Jahre neben uns. Aber er ist eben nicht von hier. Nach dem Tod seiner Frau wurde aus dem vitalen Mittvierziger ein stiller Mann, und als seine Tochter Rosa – „Meine Bildschöne“ nannte ich sie immer – zurückging nach Italien, der Liebe wegen, wurde Luca ein trauriger Mann. Einmal habe ich ihn gefragt, warum er nicht auch zurückgehe. Das sei nicht so einfach, war seine Antwort.
Die Klingel schrillt. Ich öffne die Tür. Kein Mensch zu sehen. „Luca!?“, rufe ich.
„Kuckuck!“, macht es. Mit verschmitztem Gesicht kommt er aus der dunklen Ecke und freut sich über seinen Einfall.
Hoppla, fast wäre ihm das Geschenk aus der Hand gerutscht, doch er fängt’s im Fluge. „Buon Natale, Frohe Weihnachten, Armin!“
„Ach, Luca! Das wäre doch nicht nötig gewesen. Danke, danke. Und frohe Weihnachten auch Dir, mein Freund. Komm rein“.
Ein Wölkchen Grappa meine ich zu verspüren, aber es ist ja Weihnachten. Beredt erklärt er, dass er in diesem Jahr alleine sei. Seine Tochter könne nicht kommen; durch ein Malheur habe sie den Arm in Gips.
Luca schaut sich in unserem weihnachtlich dekorierten Wohnzimmer um. Sein Blick bleibt an der Magnum hängen, eine Gran Reserva von 2006. Schon heute habe ich sie ‚geköpft’. Morgen kommen unsere Kinder und der Wein soll bis dahin genügend Luft bekommen, um seine ganze Fülle zu entfalten.
Lucas Blick klebt immer noch an der Riesenflasche und ich muss ihm, ob ich will oder nicht, ein Glas anbieten. Um anstoßen zu können, schenke ich auch uns einen Probeschluck ein.
„Auf ein schönes Weihnachten!“, sage ich und es klingt wie Silberglocken, als sich unsere Gläser berühren. Ich koste mit gespannten Sinnen: Hält der Wein, was wir uns von ihm versprochen haben?
Noch bevor ich mir eine Meinung gebildet habe, fragt Luca, ob er noch einen Schluck bekommen könne. Olala, denke ich, der Mann hat einen guten Zug! Aber warum sollte er langsam trinken, wenn doch genug da ist?
Unser Nachbar lässt den Wein in sich hineinfließen. Diesen Wein! Er gibt ihm keine Chance, mit seinen Qualitäten aufzutrumpfen. sondern packt ihn wie seine Maurerkelle. Und er hat, was ich bei seiner Jonglierkunst beim Eintreten übersah, ein Fotoalbum bei sich, das er mit uns gerne einmal durchblättern möchte.
Wir sind auf Seite vierzehn und sehen Luca in Positur vor dem Tyrrhenischen Meer am selbst gemauerten Grill, mit Freunden und Weinkaraffen, Auberginen und Meeresgetier.
„Luca“, sage ich „Du legst den Oktopus auf den Grill? Muss der nicht gekocht werden?“
„Kochen geht auch, come no. Wir haben ihn eben gegrillt. Wo ist das Problem?“
„Na, der wird steinhart. So ist er auch nach fünf Stunden nicht genießbar.“
„Eh bene, ein bisschen al dente war der schon, hat uns aber nichts ausgemacht. Schau mal, was wir Italiener für Zähne haben!“ Sagt’s und fletscht mich strahlendweiß an. Zum Spaß knurrt er dabei wie ein ganzes Löwenrudel.
„Grillen bei euch auch nur die Männer?“, fragt Moni.
„Ja, und die Frauen kochen. Man kann ja als Mann nicht den ganzen Tag arbeiten und abends noch zwei Stunden in der Küche stehen.“
„Na, hör mal!“, mische ich mich ein. „Ich mach dir Pasta in fünfzehn Minuten.“
„Armin“, sagt mein Nachbar beschwichtigend und legt seine Betonpranke auf meine Schulter „in diesen fünfzehn Minuten hab ich schon gegessen. Heute Abend zum Beispiel: Ein Döschen Corned Beef mit Zwiebeln und Pepicini – zack und fertig!“
Luca fasst sich mit beiden Händen an den Bauch: „Aber ich glaub’, das ist mir nicht gut bekommen. Hast du einen Schnaps bei der Hand, irgendwas Scharfes?“
„Einen Weinbrand hätt’ ich. Mit deinen komischen Pepicini wirst du dich noch mal umbringen.“
„Was mich umbringt, muss erst noch erfunden werden“, tönt Luca. Er hebt den Schwenker prüfend gegen das Licht. „Kann man den trinken? Na egal, als Medizin wird er schon helfen.“
Ich versuche, seine Bedenken zu zerstreuen: “Hilft garantiert. Muss man nur langsam trinken“.
„Nur keine Angst – ich trink schon nicht so schnell“, sagt Luca im Tonfall eines ertappten Schülers. „Prost! Auf die Gesundheit.“
Nächstes Jahr im Mai, so erzählt er uns, wäre er in Italien, da würde er wieder mal so richtig einkaufen - alles, was das Herz begehrt. Mit allen Sinnen hineingreifen, alles befummeln und befühlen, beriechen und – ach, das kennt man gar nicht in Deutschland – mit den Verkäufern ratschen und fachsimpeln.
„Du bist aus Kalabrien?“ Das ist mehr eine Feststellung als eine Frage, denn das weiß ich schon.
„Si, certo! Ich bin Kalabrese, und zwar ein echter“, fängt Luca Feuer. „Wir Kalabresen sind die echten Italiener! Wir haben Temperament. Das meinen die Sizilianer auch von sich, doch die leiden an Selbstüberschätzung. Und was ist denn da schon? Nur Armut und Mafia, Ende. Unsere N’drangheta dagegen - die ist wie Robin Hood. Sie nimmt den Reichen und gibt den Armen, und auch die Kirche ist auf ihrer Seite!“
„Und natürlich der Verband der Bestattungsunternehmer“, platzt mir der Kragen.
Doch Luca lässt sich in seinem Vortrag nicht unterbrechen: „Die weiter oben im Norden, die Milanesi, die sind nur am Geldmachen und Geldzählen interessiert – Emotionen kennen die nicht. Das sind eigentlich gar keine Italiener.“
Wieso ist er jetzt in Norditalien? Er hat den roten Faden verloren. Meine Frau hilft ihm auf die Sprünge: Einkaufen in Italien.
„Ah, chiaro!“ Luca nimmt einen kräftigen Schluck. „Die italienischen Sachen sind die besten der Welt. Das weiß jeder. Die Franzosen mit ihren Pâtés und Frikassees – das ist doch alles nur Gematsche!“
Er hat sich in Rage geredet, er sollte noch einen Schnaps haben. „Euer Weinbrand ist gar nicht so übel, aber mit italienischem Grappa kann er nicht mithalten.“
Bis dahin haben sich meine Frau und ich ein Dutzend Mal angeschaut, mit den Augen gerollt, sie zum Himmel gedreht und die Stirn in Falten gelegt.
Tja, unverhofft kommt oft. In Lucas Fall stimmen wir überein, dass uns schon ein einziges Mal ‚unverhofft’ reicht.
Beim Fotoalbum sind wir immer noch auf Seite 14. Unseren beschaulichen Heiligabend haben wir längst abgeschrieben. Wir sind überfallen worden von unserem netten, alleinlebenden Nachbarn und fühlen uns fast wie die Herbergsväter aller Einsamen und Verlassenen.
„Ich werde euch einen Grappa mitbringen, wie ihr noch keinen getrunken habt. Vom besten Brenner des Dorfes – da können die französischen Herren mit ihrem Cognac einpacken!“
„Ja, Luca.“ So langsam geht er uns auf die Nerven.
Sein Gesicht ist gerötet. Es ist eigentlich ganz hübsch mit den fetten Grübchen, den markanten Brauen, die ein weit gespreiztes Dach über seinen Holzkohleaugen darstellen und dem gespaltenen Mobbelkinn, das entweder große Durchsetzungskraft, überdurchschnittliche Einfühlsamkeit oder eine Mischung aus beiden ausdrücken kann.
Luca schenkt sich ein. „Schmeckt dir der Spanier?“, will ich wissen.
„Also, die Weine aus meiner Heimat sind sehr sehr gut. Der hier – ich meine, dafür, dass er aus Spanien kommt, ja, doch – kann man trinken.“ Gleich gehe ich ihm an die Gurgel.
Er muss jetzt ein Weihnachtslied aus Kalabrien vortragen. Es beginnt mit Summen, dann folgen die ersten Vokale und jetzt hören wir das eigentliche Lied – und er singt gar nicht schlecht! Allerdings haben wir uns diesen Heiligabend ohne kalabrische Weihnachtslieder vorgestellt. Moni und ich hätten etwas von der französischen Matschpastete gegessen, ein bisschen Käse dazu und ein erstes Probeglas unseres Nobelweins. Über den hat sich nun der Luca hergemacht - und deshalb kann ich mich nicht über seine, dieserart angeregten Sangeskünste freuen. Besonders jetzt nicht, weil er sich etwas unsicher erhebt und den dazugehörigen Tanz vorführt. Der Boden bebt und dröhnt und wir müssen an die unter uns Wohnenden denken.
Auch ich erhebe mich - muss diesen Wahnsinn stoppen. Doch bevor ich einen Laut herausbringe, ertönen andere Laute und die kommen von Lucas Handy. Er vergisst das Getanze und Gesinge, sagt ‚Pronto’ und setzt sich gespannt aufs Chaiselongue. Seine Tochter! Luca freut sich riesig. Das Italienische geht ihm viel fließender über die Lippen als Deutsch. Ich versuche noch, der Magnum einen letzten Schluck des Festweines zu entlocken, bekomme aber nur einen erbärmlichen Rest - allerdings mit dem gesamten Depot.
Meine Frau sitzt schon, demonstrativ und genervt, vor dem Fernseher. Durch die Kopfhörer gibt sie zu verstehen, dass sie nicht mehr erreichbar ist. Luca ist weit weg von hier, bei seiner Tochter und den anderen, mit denen er alle Feste feierte. Der derbe Kerl verliert Tränen – das kann ich ganz deutlich sehen. Und er wird leiser, hört bald mehr zu, als dass er selber spricht und - ist jetzt gar nicht mehr zu hören. Er ist eingeschlafen.
Ich winke meiner Frau. Wir haben noch nie einen Menschen gesehen mit einem so zufriedenen und friedlichen Gesichtsausdruck. Damit das auch so bleibt, holen wir eine dicke, flauschige Decke und breiten sie über unserem unverhofften Gast aus, denn es ist Weihnachten.