Die weiße Frau
„Du immer mit deinem Meer. Ich hab überhaupt keine Ahnung, was du daran findest. Es ist nass, und es ist gefährlich und man sollte ihm am besten nicht zu nahe kommen, das ist jedenfalls meine Meinung“, brummte Tom verärgert. Sie standen oben auf der Düne und suchten das Meer nach dem Kahn ab, der sie weitertransportieren sollte, denn viele Alternativen hatte man nicht in diesem Dorf.
Doch Brian sah nicht in die Richtung, aus der das Schiff kommen würde, nicht im Geringsten. Sein Blick richtete sich in die Ferne nach Westen und leise summte er eine traurige Melodie und würdigte Tom keines Blickes. So ging das schon, seit sie gegen Mittag hierhergekommen waren.
„Du wirst da noch früh genug hinkommen, mein Freund!“ sagte er laut.
„Nicht früh genung, nicht früh genug!“ sufzte Brian und es klang tottraurig.
„Ach Maryann, ach Maryann, werde ich dich jemals wiedersehen? Welcher Wahnsinn trieb mich dazu, in die Armee einzutreten? Hörst du das Meer, Tom? Hörst du es? Selbst das Meer ist traurig heute. Unendlich traurig. Es singt von Verlust und Abschied... “
Auch Tom hörte es. Es klang überhaupt nicht, wie ein Meer normalerweise klang, sondern... eher so wie eine Frau, die leise sang. Allerdings in einer Sprache, die er nicht verstand.
„Fluch sei diesem Bootsbesitzer, der versprach, uns nach Padma zu bringen und uns dann hier in diesem Kaff versauern ließ und die Flucht ergriff mit meinen Ersparnissen“, murmelte Tom leise. „Warum hab ich nicht meiner Nase vertraut und keinen Fuss auf diesen Schrottkahn gesetzt? Nanu – was ist denn das?“
Da war doch etwas am Strand. Etwas Weißes... eine Art... Schleier? „Brian, guck mal da runter. Was ist das?“
Mit einem Stoßseufzer wandte sich Brian vom Horizont ab und starrte angestrengt in die angegebene Richtung.
„Ich sehe nichts!“ meinte er. „Es sei denn, du meinst das Stück Treibholz da unten?“
„Nein, ich meine dieses seltsame Weiße da unten. Ist das ein Schleier?“
„Du siehst Gespenster, Tom. Da ist gar nichts. Nichts Weißes, jedenfalls.“
„Aber... Da, jetzt bewegt es sich... jetzt ist es ganz nah beim Treibholz!“
„Du must dich irren, Tom! Da ist nicht! Überhaupt nichts! Ich muss mich wirklich bei dir entschuldigen, dass ich dauerend dort hinstarre. Du hast recht, meine Zeit wird kommen, dass ich die Kreidefelsen meiner Heimat wiedererblicken werde – und Maryann wird noch dasein und auf mich warten und wir werden heiraten und viele Kinder haben. Aber ich sehe schon, wir sind schon viel zu lange hier am Strand. Wir sollten ins Dorf zurückgehen. Bald wird die Dämmerung hereinbrechen.“
„Aber... na gut, gehen wir zurück.“
Wenig später saßen sie im Wirtshaus vor Gläsern mit einem unidentifizierbaren ekligen Gesöff, das mit dem bestellten Bier nicht die entfernteste Ähnlichkeit besaß.
„Aber da war etwas am Strand!“ sagte Tom laut zu Brian, der trübsinnig vor sich hinstierte. Der lächelte nur abwesend und unendlich traurig.
„Am Strand? Sagtet Ihr am Strand? Ihr wart am Strand?“ fragte in dem Moment der Wirt. In seinen Augen lag ein seltsamer, schwer lesbarer Ausdruck. Überhaupt war es auf einmal in der Wirtsstube ganz still geworden.
Ein alter Mann setzte sich ächzend auf den Stuhl neben Tom.
„Am Strand?“ wiederholte auch er. „Was habt Ihr gesehen am Strand?“
„Nun, etwas wie einen Schleier... Etwas Weißes. Es hat sich bewegt...“
„Er hat es gesehen!“
„Er war am Strand und er hat es gesehen!“
„Und er lebt noch!“ riefen alle in der Wirtstube durcheinander.
Selbst Brian wurde dadurch etwas abgelenkt. „Was ist los?“ fragte er erstaunt.
„Scheinbar ist da doch etwas am Strand gewesen“, meinte Tom achselzuckend.
„Und was?“ fragte Brian.
„Die weiße Frau!“ rief der alte Mann neben Tom. Wieder war es totenstill.
„Die weiße Frau?“ fragte Brian erstaunt.
„Ja, die weiße Frau.“
„Und wer ist die weiße Frau?“ fragte Tom ungeduldig.
„Der Sage nach geht seit hundert Jahren ein weiße Frau am Strand um. Ein Gespenst.
„Ach, mit Gespenstern kennen wir uns aus“, meinte Tom. „Wenn es weiter nichts ist...“
„Sie ist in ein weißes Totenhemd gekleidet und geht immer den Strand auf und ab und singt immerzu unendlich traurig“, fuhr der alte Mann fort.
„Ach, sie war das? ich hab etwas singen hören, am Strand. Nur dachte ich, es sei das Meer.“
„Nein, du hast gewiss sie gehört. Es heißt, dass sie es mit dieser Stimme vermag, andere Leute in den Wahnsinn zu treiben“, überlegte der Wirt.
„Ach, ich hätte damit kein Problem“, meinte Tom.
Die Männer um sie herum warfen sich merkwürdige Blicke zu.
„Wenn Ihr keine Angst habt... und Euch mit Gespenstern auskennt... vielleicht traut Ihr Euch dann auch, um Mitternacht an den Strand zu gehen?“ fragte der Wirt mit einem lauernden Ausdruck in den Augen.
„Aber sicher, nichts leichter als das!“ meinte Tom.
„Sei still! Setz ihm keine Flausen in den Kopf! Bisher hat es keiner geschafft, länger als ein paar Augenblicke am Strand zu verweilen. Sie ist zu fürchterlich. Und manche Leute hat man schon am nächsten morgen tot aufgefunden.“
„Hm!“ räusperte sich da der alte Mann neben Tom.
„Aber es gibt eine Prophezeihung, dass die weiße Frau nach hundert Jahren erlöst werden kann... und hundert Jahre sind um, soweit ich weiß. Vielleicht ist dieser tapfere Herr dazu auserwählt, ihrem Spuk ein Ende zu bereiten.“
„Oder aber, zu sterben!“ rief ein anderer Gast dramatisch aus.
„Pah, ich hab keine Angst! Ich werde um Mitternacht beim Strand sein. Kommst du mit, Brian?“
„Sicher, sicher!“ murmelte dieser zerstreut.
Ein paar Stunden später befanden sie sich wieder auf dem Weg zum Strand.
„Warum nochmal gehen wir hier hin?“ erkundigte sich Brian, dem es nach dem Genuss von etwa einem Dutzend Bierkrüge wesentlich besser ging.
„Wir jagen ein Gespenst!“ verkündete Tom aufgeräumt.
„Endlich was zu tun in dem Kaff! Und mit Gespenstern haben wir ja jetzt einige Übung. Und dies hier ist nur eine singende weiße Frau, kein grimmige grimmiger Kerl, der einem mit der Axt den Schädel spalten will.“
„Wie oft soll ich dir es noch erklären, Tom, da war kein Gespenst mit einer Axt. Du hast nur geträumt.“
„So viel Mühe du dir auch gibst, mein Freund, ich weiß, was ich gesehen habe. Und wenn der Kerl ein Gespenst war, dann... dann...“
„Dann kehrst du zurück in die Heimat und heiratest Margaret... Da!
Da ist es wieder! Hörst du es – da singt das Meer wieder. Es klingt so unheimlich traurig!“ Brian war stehengeblieben und lauschte angestrengt in die Nacht hinaus.
Tom betrachtete seinen Freund etwas verwirrt.
„Mit ihrer Stimme kann sie einen in den Wahnsinn treiben“, hatte der Wirt gesagt. Hatte sie etwa mit Brian schon angefangen? Dann war sie aber wirklich nicht ganz ungefährlich. Und er konnte sie ja noch nicht mal sehen! Langsam erklommen sie die Sanddüne. Oben angekommen, sahen sie hinunter zum Strand.
„Da!“ rief Gimli. „Siehst du es?“
„Tatsächlich!“ sagte Brian verwundert. „Da ist tasächlich etwas Weißes... wie ein Schleier. Heute Nachmittag war es vermutlich zu hell, so dass ich durch es hindurchgesehen habe... Oh! Jetzt erkenne ich es eine – Frau! Und sie singt!“
„Was singt sie denn?“
„Irgendwas von ihrem Geliebten, Jackie... Der aufs Meer hinausgesegelt ist und nie wieder zurückkehrte... Und dass man ihr erzählte, dass er fort ist und nie wieder kommt, aber dass sie das nicht glauben kann und am Strand bleiben wird, bis er zurückkehrt...“
„Das singt sie?“ fragte Tom erstaunt.
„Ja. Vermutlich ist sie dann irgendwann gestorben, aber ihre Seele war so fest mit diesem Ort verbunden, dass sie ihn nicht verlassen kann. Vermutlich, bis ihr Geliebter wieder auftaucht.“
„Aber... der müsste doch dann schon längst tot sein. Oder auf jeden Fall ein sehr alter Mann. Kann man sie denn überhaupt erlösen? Der alte Mann in der Wirtschaft hat zwar gemeint, dass wir das können, aber ich hab jetzt so meine Zweifel.“
„Ich glaube auch nicht, dass wir das vermögen, Tom. Komm, lass uns gehen. Sie erfüllt mich mit unendlicher Traurigkeit... “
Langsam gingen sie zurück ins Dorf.
Am nächsten Morgen erreichte das Schiff die Küste und nahm sie auf. lange segelten sie an der Küste entlang, bis sie nach Padma kamen.
„Noch dieses Abenteuer gilt es zu bestehen, Tom, und dann geht es heimwärts. Nach Hause! Oh, wie wird Maryann sich freuen!“
„Sieh mal da rüber. Da. Siehst du diesen Mann? Das ist doch eindeutig keiner aus Padma.“
Tatsächlich saß da einer unter den Galvanern in deren Tracht und flickte ein Netz, wie es aussah. Es handelte sich um einen alten Mann mit grauen Haaren und heller Haut. Ihm fiel wohl auf, dass die beiden Fremden ihn anstarrten, denn er legte sein Tau aus der Hand und trat auf sie zu.
„Seid uns gegrüßt, alter Mann!“ sprach Tom ihn an. „Mir dünkt, dass dieses schöne Land nicht Eure ursprüngliche Heimat ist?“
„Recht habt Ihr, werter Herr. Denn meine Vorfahren kommen aus Biritania!“
„Wie hat es Euch dann an diese Küste verschlagen?“
„Vor Jahren fuhr ich hinaus auf See. Aber wir hatten rauhes Wetter und eine kräftige Windböe packte mich und warf mich in die See. Die Galvaner fanden mich und brachten mich hierher. Erst wollte ich zurück nach Hause, aber eine stolze Fischerstochter begehrte mich zum Gatten ud so bin ich hier geblieben, als freier Mann und Fischer.“
„Und wie ist Euer Name?“
„Jackie.“
Tom und Brian sahen sich einen Moment lang an. Jeder dachte wohl das, was der andere auch dachte.
„Ha-hm.“ räusperte sich Tom. „Ihr kommt nicht zufällig aus Leitach?“
Jackie riss die Augen auf.
„Doch, das ist mein Heimatort! Wie kommt ihr darauf?“
„Und habt ihr nicht einst dort eine Braut und Geliebte gehabt?“
„Ja, gewiss. Joannie... Mit den schönsten Augen, die ich je sah... Naja, mittlerweile wird sie schon längst tot sein. Sicher hat sie wieder geheitratet und viele Kinder bekommen.“
„Mit Verlaub, Herr Jackie, aber das hat sie nicht. Am Strand von Leitach geht ein Gespenst um, eine junge Frau, die immer noch auf die Rückkehr ihres Geliebten wartet.“
Und leise zitierte Brian ihr Lied.
Jackie war ganz plötzlich leichenblass. „Das kann nicht sein!“ flüsterte er. „Das ist unmöglich... Nein...“
„Wir haben leider Grund zur Annahme, dass es sich tatsächlich so verhält“, sagte Tom leise.
„Da vorne ist es... ich erinnere mich!“ flüsterte Jackie. „Da iat der Strand, wo sie mir lebwohl sagte... wie lange ist es her? 123 Jahre bin ich alt... Und lang war ich nicht mehr in meiner Heimat. Dieser Strand... Ich bin an einem Tag im August aufgebrochen... am zehnten... ich erinnere mich genau... weiß war ihr Kleid und sie hat geweint...“
Sie betraten den Strand. Von dem kleinen Fischerboot aus ragte die Düne steil in die Höhe. Aber... wo war sie nur? Noch nicht einmal ihr Gesang war zu hören! Die Sonne schickte ein letztes Mal ihre wärmenden Strahlen über das Meer, bevor sie verschwand...
Plötzlich war ein seltsames Geräusch zu hören, eine Art Keuchen.
Es stammte von Jackie. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er auf etwas weißes vor ihm.
„Jackie!“ hörten sie eine Frauenstimme rufen, „Jackie!“
Das Weiße schwebte auf Jackie zu... sie hörten ein helles Lachen...
Und dann kippte Jackie um, fiel zu Boden und lag mit dem Gesicht auf dem Strand.
Brian und Tom eilten sofort auf ihn zu und hoben ihn auf. Sein Gesicht war eine einzige Maske der Furcht, seine Augen blickten starr ins nichts.
Erschüttert betrachtete Tom die leblose Gestalt.
„Sieh mal!“ sagte Brian leise und berührte ihn am Ärmel. „Da!“
Er deutete auf etwas am Fuß der Düne. Eine kleine Höhlung war in die Düne eingegraben, ein Stein lag davor. Sanft ließ Tom Jackie los und trat zur Höhle. Auf dem Stein stand nur ein Wort zu lesen:
Joannie
„Irgendetwas stimmt ganz und gar nicht mit Brian und Tom!“ sagte Hauptmann Fredericks nachdenklich zu seinem Unteroffizier.
„Sie sind so furchtbar bedrückt. Meinen Auftrag haben sie ausgeführt, ohne Zweifel. Und auch gut ausgeführt. Die Galvaner waren voll des Lobes für sie. Aber da ist irgendetwas anderes. Und sie wollen mir nicht sagen, was passiert ist.“
„Ich denke, es ist einfach an der Zeit, sie aus den Diensten der Armee zu entlassen. Lange Jahre haben sie treu gedient und jetzt werden sie langsam alt.“
„Vielleicht hast du recht. Gut, dann entlasse ich sie ehrenvoll aus der Armee.“
Tom und Brian aber erzählten niemandem von dem, was sie am zehnten August abends am Strand gesehen hatten.
Noch heute aber befindet sich an jenem Strand am Fuße der großen Düne eine Höhlung und davor liegt ein verwitterter Stein, auf dem zu lesen steht:
Joannie und Jackie