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Die weiße Feder
Die schneeweiße Feder bildet einen scharfen Kontrast zum nassen schwarzen Asphalt. Jule sieht, wie der Wind sie erfasst und mit ihr spielt, sie immer wieder zu Boden zu gleiten droht, um dann im letzten Moment wieder von einem scharfen Windzug erfasst und erneut in die Luft geschleudert zu werden. Ein seltsames Gefühl überkommt Jule. Plötzlich erscheint es ihr, als würde ihr Schicksal von dieser Feder abhängen: Wird der Wind sie tragen, bis sie weitergegangen ist, wird alles so wunderbar bleiben, wie es ist, wird sie jedoch auf dem nassen Asphalt fallen, so wird es sich zum Schlechten wenden.
Zieh die warmen Schuhe an hatte die Mutter gesagt und sie hatte „Ja Mama!“, geantwortet, aber natürlich hatte sie trotzdem ihre Turnschuhe angezogen. Jetzt hat sie nasse Füße, aber das ist heute egal. Heute ist eigentlich alles egal, denn heute würde ein wunderbarer Tag werden. Endlich würde sie ihn wieder sehen...
Vor zwei Wochen war es gewesen, am Strand. Nur sie zwei alleine. Die See war grau-schwarz und aufgewühlt gewesen und der Wind hatte ihr langes braunes Haar zerzaust. Still waren sie durch den nassen Sand gelaufen, die nackten Füße hatten tiefe Fußabdrücke hinterlassen. Sie war durchnässt bis auf die Haut und völlig durchgefroren gewesen...
„Tom, lass uns zurück gehen, mir ist kalt!“ Aber davon will er nichts hören. Sein Lachen hebt sich klar und hell vom Rauschen des Meeres und vom Pfeifen des Windes ab. „Dir ist kalt? Na, dann tu doch was dagegen!“ Er nimmt sie bei der Hand und sie rennen durch den kalten Regen, bis Jule schließlich prustet: “Erbarmen, ich kann nicht mehr!! Ich gebe auf!“ und sich einfach in den nassen Sand fallen lässt. Tom kommt zurück gelaufen und legt sich neben sie.
„Gar nicht schlecht!! Ich bin jetzt zwar immer noch klitschnass und dazu so dreckig als hätte ich mich im Schlamm gesuhlt, Aber...“,sie lacht „kalt ist mir nicht mehr!!“
„Siehst du!“ grinst er „und gegen den Dreck kann man auch noch was tun!“, hebt sie einfach hoch und rennt mit ihr ins Meer.
Später trägt er sie auf den Schultern aus dem Wasser und wirft sie in den Sand. Sie weiß nicht mehr, ob ihre Augen vor Lachen oder vom Salzwasser tränen „Hey, du Spinner, jetzt bin ich ja wieder dreckig! Na, aber noch mal kriegst du mich nicht ins Wasser!“ ruft sie gegen den Wind an und bleibt platt auf dem Rücken im Sand liegen. Er grinst und legt sich neben sie. Plötzlich ganz zärtlich streicht er ihr die strähnigen, sandigen Haare aus dem Gesicht und schaut sie lange mit seinen tiefblauen Augen an. Dann beugt er sich über sie und küsst sie, ganz vorsichtig, auf den Mund. Ihr ist eiskalt, doch als sie seine Lippen spürt breitet sich eine wohlige Wärme in ihrem Körper aus. So könnte sie für immer hier liegen bleiben...
So verliebt wie in Tom war Jule noch nie gewesen. Einen Jungen wie ihn gibt es nur einmal auf der Welt, da ist sie sich sicher. Gleich wird er an der Ecke stehen, wird lachen „Da bist du ja, Kleine!“, seine Arme um sie legen, sie küssen. Gleich wird sie ihn endlich wieder sehen.
Drei Straßen weiter werden im nächsten Augenblick Bremsen quietschen, doch es wird zu spät sein. Der blonde Junge wird auf die Straße geschleudert werden und in einer Lache aus rotem, warmen Blut liegen bleiben.
Im selben Moment wird die weiße Feder ganz sachte auf den dunklen, nassen Asphalt fallen und dort liegen bleiben.