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Die Wasserrutsche
Mein Kopf pocht. Vorsichtig öffne ich die Augen einen Spalt weit, doch das helle Licht lässt sie wieder zusammenkneifen. Anscheinend wache ich gerade auf. Mein Körper ist kalt und nass, als ob ich im Wasser liege. Unter meinem Körper gleitet eine spiegelglatte Wand. Rutsche ich? Mit meiner Hand berühre ich die Oberfläche, die aus Plastik zu bestehen scheint. Mir ist total übel. Speichel sammelt sich in meinem Mund. Durch hastiges Schlucken versuche ich, den Würgereiz zu bändigen. Doch ich scheitere daran: Der warme Mageninhalt ergießt sich über meinen Bauch. Ätzender Geschmack liegt auf der Zunge. Ich spüle meinen Mund mit dem Wasser aus, in dem ich liege. Es schmeckt nach Chlor. Vor Ekel spucke ich es sofort wieder aus, wische mir hastig über den Mund. Wo bin ich?
Ein kurviger, kreisrunder grüner Tunnel. Diffuses Licht schimmert durch die helle Milchglasdecke. Ich bin perplex und vollkommen überfordert von dem Wahrgenommenen. Es sieht wie in einer gewöhnlichen Wasserrutsche aus, aber wie bin ich hierhergekommen? Meine Geschwindigkeit ist relativ langsam, schließlich lag ich mit meinem gesamten Körper auf dem Rinnsal. Po und Rücken fühlen sich gereizt an, als ob ich schon längere Zeit gerutscht bin. Wo bin ich hier, was ist hier … Ich habe Angst. Starke Angst. Sie lässt meine Hände gegen die seitliche, trockene Wand pressen. Mein Körper stoppt. Meine Beine legen sich quer zur Rutsche, vermutlich, damit ich einen besseren Halt bekomme. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich Herr meines Körpers bin. Ich habe noch nicht einmal das Gefühl, dass ich klar denke. Träume ich das alles? Ich beobachte den komplexen Lichteinfall durch die Milchglasdecke auf das leicht dampfende Wasser. Solche Eindrücke könnte mein Gehirn nie simulieren, es kommt mir alles äußerst real vor. Das Pochen im Kopf überlagert meine wirren Überlegungen. Vorsichtig taste ich meinen Hinterkopf mit den schrumpeligen Fingerkuppen ab. Ich habe mich offenbar gestoßen und so das Bewusstsein verloren. Zitternd blicke ich in den leeren Tunnel zurück, durch den ich kam. Hoffentlich rutscht niemand in mich hinein. Aber denjenigen müsste ich hören, denn es ist ruhig. Nein, es ist sogar richtig still! Kein Kinderlachen, kein Hämmern, kein Geschrei. Auch das sonst so beruhigende Plätschern des Wassers wird von der Stille verschluckt. Hat das Schwimmbad schon geschlossen? Aber warum wurde dann das Wasser nicht abgestellt? Meine Hände gleiten über die raue Decke. Ich kann durch das grüne Glas künstliche Lichter in regelmäßigen Abständen erkennen. Sachte neige ich meinen Kopf, um die Entfernung der Lichter hinter der Decke schätzen zu können. Ich glaube, sie sind sehr nah. Es wirkt fast so, als ob diese Rutsche durch einen engen Tunnel führt. Der Gedanke erschreckt mich. Ein flüsterndes „Hilfe“ gelangt aus meinem Hals und verpufft in der Luft. Das kraftlose Wort hat hoffentlich niemand gehört. Jeder vernunftbegabte Mensch würde einfach weiterrutschen. Ich muss ein Versager sein, der zu dumm ist, eine harmlose Wasserrutsche hinunterzurutschen. Der Ausgang muss sich ja irgendwo da unten befinden ... doch der Blick ins Ungewisse lässt mich zögern. Der Gedanke, dass mir irgendwann ein Gitter oder eine zugemauerte Wand den Weg versperrt, ist fürchterlich. Nein, ich muss positiv denken. Vielleicht werde ich am Auslauf erwartet, ich sollte ein wenig auf meine Erscheinung achten. Mein Körper ist immer noch völlig verschmiert. Dem Erbrochenen nach zu urteilen habe ich irgendwas mit Artischocken gegessen. Notdürftig wische ich es mir vom Bauch und insbesondere aus dem Bauchnabel. Meine Hände streifen die seltsame, giftgrüne Badehose. Vedammt, wer hat mir die überhaupt angezogen? Sie hebt sich optisch kaum von der Rutsche ab, scheint beinahe ein Teil von ihr zu sein. Haben alle Badegäste in diesem … Schwimmbad so eine an? An ihrem vorderen Ende in Hüfthöhe befindet sich ein metallisches Objekt, indem ein runder, schwarzer Kern eingefasst ist. Es sieht aus wie eine Schnalle, doch ich trage keinen Gürtel. Ich stecke meine Daumen zwischen Hose und Körper, hebe den Stoff hoch und hoffe, dass ich eine mir vertraute Unterhose darunter trage, eine kleine Spur von heute Morgen. Oder ist es gerade Morgen? Ich habe überhaupt kein Zeitgefühl. Vielleicht rutsche ich auch schon mehrere Tage?
Nein, unter der Hose befindet sich nur meine nackte, bleiche Haut. Derjenige, der mich hier hineingesteckt hat, hat also Macht über meinen Körper gehabt. Ich lasse die Hose auf meinen Bauch klatschen. Das muss ein Scherz sein! Vielleicht bin ich in einer Fernsehsendung mit versteckter Kamera. Scheiße, ist diese seltsame Schnalle eine Kamera? Ich blicke das Objekt an. Mein ängstliches Gesicht spiegelt sich in der schwarzen Oberfläche. Ich sehe jetzt womöglich das, was jemand anders am Bildschirm sieht. Unheimlich. Ich muss das Ding loswerden! Krampfhaft zerre ich daran, jedoch kann ich es nicht von meiner Hose lösen. Sie ist fest mit ihr verbunden. Soll ich die Hose ausziehen und nackt rutschen? Adrenalin steigt in mir hoch. Ich weiß noch nicht einmal, wie ich die Hose loswerden kann. Sie würde zwangsläufig dem Ende entgegentreiben, und dort will ich auch hin. Ja, da will ich hin. Ich setze erneut zum Rutschen an, doch was lauert hinter der nächsten Kurve? Ich komme mir unendlich hilflos vor und spüre, wie Tränen meinen Körper verlassen wollen. Nein, ich sollte die Tränen für mich behalten, Flüssigkeit sparen. Die Rutsche ist schon nass genug.
Scheiß was drauf, ich rutsche jetzt. Ganz langsam, im Sitzen. Vorsichtig schliddere ich hinab. Hinter der nächsten Kurve … befindet sich eine weitere. Dahinter noch eine. Ich lege mich flach auf das Wasser, um die Fahrt etwas zu beschleunigen. Dann hebe ich zaghaft mein Becken an und rutsche auf den Schulterblättern. Als ich merke, dass die Rutsche weitestgehend gleichförmig verläuft, werde ich noch mutiger und überkreuze die Beine, so dass ich nur auf drei Berührungspunkten rutsche. Leider schmerzen die Fugen zwischen den einzelnen Rutschen-Elementen so am stärksten. Sie sind ungewöhnlich breit und scharf. Ich rutsche jetzt ziemlich schnell, doch es ist anstrengend, die Körperspannung zu halten. Mittlerweile hoffe ich nicht nur auf den Auslauf, sondern auch auf gerade Streckenabschnitte, damit mich die Zentrifugalkräfte nicht an den Rand pressen. Mit beiden Händen versuche ich, die Badehose zwischen die Pobacken zu klemmen; damit will ich die Reibungskraft senken, falls die Hose die Rutsche berührt. Die Fugen kratzen dabei an meinem linken Ellenbogen. Ich schreie auf und hebe ihn an. Das Rot des tropfenden Blutes bildet mit dem Grün der Rutsche eine dissonante Farbkombination. „Kann ich jetzt bitte das Ende dieser Drecksrutsche erreichen!“, krächze ich wütend in die Leere, mein erster vollständiger Satz. Diesmal hoffe ich, gehört zu werden. Ich tauche den Arm unter das Wasser. Das Blut wird weggespült.
Zusammengekauert wimmere ich in einer Kurve. Diese Rutsche ist nicht für Menschen gemacht! Seit meinem Erwachen rutschte ich mehrere Stunden. Das Grün der Rutsche ist erdrückend, meine Hände und Füße sind völlig verschrumpelt. Hinter der Streckenführung kann ich kein System erkennen. Der eher harmlose Schwierigkeitsgrad der Rutsche scheint aber nicht zu variieren. Dennoch ist mein Rücken aufgescheuert, da die Fugen meinen Körper auspeitschen. Auf dem Bauch zu rutschen ist unerträglich. Im Sitzen bin ich relativ langsam, doch die Hose bietet Schutz vor den Fugen. Zum Glück habe ich sie nicht entsorgt. Nun rollen die Tränen über meine Wange und lassen sich in das Wasser fallen. Nach der Kotze und dem Blut ist dies die dritte Körperflüssigkeit, die sich mit dem Wasser vermischt. Und es wird leider nicht die letzte bleiben. Ich muss ein großes Geschäft machen. Ich musste schon die ganze Zeit! Jetzt kann ich es aber nicht mehr länger verdrängen. Vorsichtig ziehe ich meine Hose herunter, dabei achte ich darauf, dass das Metallobjekt von mir weg zeigt.
Nach zweifelhaften Reinigungsversuchen ziehe ich meine Hose wieder hoch. Wenn ich jetzt weiter rutsche, gleite ich womöglich über meine eigenen Exkremente. Vielleicht wäre jetzt die richtige Gelegenheit, etwas zu schlafen. Ich drehe mich zur Seite und suche eine stabile Position. Es dauert sehr lange, bis ich einschlafen kann. Sehr lange.
Ich wache auf. Das ätzende Grün frisst sich sofort in meine Augen. Ich muss hier raus! Mit meinen Füßen trete ich wild gegen die Decke, doch sie ist widerstandsfähig. Ich bekomme sie nie kaputt – was auch immer das bringen soll. Ich habe tierischen Durst, aber von dem Chlorwasser bekomme ich bestimmt Durchfall. Wo zur Hölle kann man so eine unendliche Rutsche bauen? Ist sie unendlich? Oder wiederholt sich die Strecke? Ich schlage bei dem Gedanken verzweifelt um mich. Vielleicht befinde ich mich in einem gigantischen Hamsterrad! Oder befördert mich ein unsichtbarer Teleporter immer wieder an den Beginn der Rutsche? Vielleicht steckt er irgendwo zwischen den Rutschen-Elementen. Das würde erklären, warum die Fugen dermaßen breit sind. Vielleicht muss ich nur eine kurze Strecke zurück zum Start der Rutsche krabbeln, um den Teufelskreis so zu beenden. Ich spüre, wie meine Gesichtsmuskeln ein Lächeln bilden. Endlich habe ich einen Einfall, einen kleinen Hoffnungsschimmer. Ich drehe mich auf den Bauch und spreize die Arme und Beine auseinander, so dass zwischen ihnen das Wasser hinunterfließt. Vorsichtig ziehe ich mich hinauf. Vor mir befindet sich eine Linkskurve. Ich rutsche mehrmals ab, doch ich komme voran. Hinter der Kurve … ein langer Tunnel. Nichts Außergewöhnliches. Stöhnend krabbele ich weiter die Rutsche hinauf. Nach der zehnten Biegung erkenne ich, dass die Aktion komplett lächerlich ist und dass ich psychisch am Ende bin. Ich lasse mich in das Wasser fallen und die Fugen mein aufgeweichtes Fleisch abschaben.
Dann ein freier Fall. Schwerelosigkeit. Meine Gliedmaßen fliegen befreit durch die Luft, ein paradiesischer Zustand. Keine Reibung, keine Enge. Dann klatscht meinem Haut schmerzhaft gegen eine Wasseroberfläche. Flüssigkeit wird in meine Nase gepresst. Ich bin irgendwo im Wasser, komplett orientierungslos. Wo ist oben? Mehrmals drehe ich mich horizontal, dann vertikal. Endlich tauche ich auf, schnappe nach Luft, huste laut, höre ein Hallen. Die Sicht ist verschwommen, ich habe Wasser im Auge, wische es weg, schnappe erneut nach Luft, orientiere mich, bin verwirrt, dass ich nicht mehr in der Rutsche bin. Stattdessen befinde ich mich … in einem gigantischen Hallenbad. Das menschenleere Becken ist so riesig wie ein … nein, zwei Fußballfelder. Der Anblick der Halle gleicht einer monströsen Kathedrale. Die Wände sind mit gold-blauen Ornamenten verziert. Zahlreiche Lichtstrahlen fallen durch Buntglasfenster der linken Wand. Davor türmen sich mehrere Lüftungsrohre vom Boden in die Höhe, Monolithen gleich. Auf der gegenüberliegenden rechten Seite hängt ein schwerer, roter Samtvorhang. Mein Blick wandert an ihm hinauf, er hängt an Metallringen, die etwa die Größe von Autoreifen haben. Wie kommt es, dass der Vorhang nicht durch sein eigenes Gewicht auseinanderreißt? Das kuppelartige, reich verzierte Dach gleicht einem Himmel. Mein Gott, wie hoch mag das sein? Mir wird schwindelig. Und so viele detaillierte Verzierungen, die das Auge sprengen! Hinter mir ist die gesamte Wand von unzählbar vielen Rutschen-Ausgängen durchlöchert, sie sieht aus wie eine künstliche Wabe. Nur durch ein einziges Loch fließt Wasser, in etwa 10 Metern Höhe. Durch dieses bin ich anscheinend gefallen. Der höchste Rutschenausgang befindet sich knapp unter der Decke. Mir läuft ein Schauer über den nassen Rücken. Das hätte ich garantiert nicht überlebt.
Nicht weit von mir entfernt treibt ein kleiner, weißer Rettungsring. Hastig schwimme ich auf ihn zu, doch mein Körper ist geschwächt. Endlich kann ich den Reifen umklammern. Jemand klatscht in die Hände, das Geräusch lässt mich zusammenzucken. Es hallt mehrfach zwischen den Wänden hin und her, so dass ich nicht genau ausmachen kann, woher der einsame Applaus kommt. Am weit entfernten Ende des Beckens ragt ein überdimensionaler Sprungturm hinauf. Ich glaube, dass das Geräusch aus dieser Richtung stammt. Ich kann die vielen Absprungmöglichkeiten nicht zählen, sind es dreißig? Gar vierzig? Dann erkenne ich einen glatzköpfigen Mann auf einer zentralen Absprungstelle in etwa 25 Metern Höhe, die Arme hält er hinter seinem Rücken. Ein schwarzer Anzug mit hellblauer Krawatte umkleidet seinen schlanken Körper. Er ist weit entfernt, doch er scheint mich genau zu beobachten. Jetzt winkt er mich herbei. Es wird anstrengend, seiner Aufforderung nachzukommen. Vielleicht sollte ich lieber zum seitlichen Beckenrand schwimmen und von dort laufen. Am Beckenrand stehen muskulöse Bademeister in exakt gleichmäßigen Abständen. Ihre Brüste sind vorgewölbt, die Köpfe aufrecht. Jeder ist mit einer Rettungsstange bewaffnet, die er aufrecht in der rechten Hand hält. Die Bademeister starren ins Nichts, trotzdem fühle ich mich von ihnen überwacht. Die Wasserwellen, die ich verursache, wirken auf der spiegelglatten Wasseroberfläche wie ein gigantisches, auf mich gerichtetes Fadenkreuz. Wird das Personal mich aus dem Becken lassen? Ein lautes Räuspern des Mannes dringt zu mir, er scheint ungeduldig zu sein. Noch zögere ich, aber als ich das deutliche Echo des Räusperns vernehme, folge ich seinem Befehl. Meinen Bauch schiebe ich über den Ring und paddele mit den Beinen herum. Die Hände sind bereits damit ausgelastet, mich am Reifen festzuhalten. Ich werde mit dieser Technik sehr lange brauchen. Bewege ich mich überhaupt vorwärts? Der Mann baut auf der Absprungstelle eine kleine Leinwand auf. Seine Bewegungsabläufe wirken routiniert, vermutlich hat er sie dort schon oft aufgestellt. Möchte er von dort oben eine Präsentation halten? Mir fällt auf, dass einige Absprungstellen über ihm deutlich größer und komfortabler sind. Sind die besseren „Meeting-Sprungbretter“ seinen Vorgesetzten vorbehalten? Ich bin am Rand meiner Kräfte, und ich habe noch nicht einmal ein Viertel der Strecke zurückgelegt. Wie lange werde ich für den Rest der Strecke brauchen? Hinter dem Sprungturm entdecke ich eine quadratische Analoguhr. Jedoch kann ich sie nicht lesen, da das weiße Ziffernblatt nur die Zahlen von 1 bis 3 zeigt. Dafür ist die Uhr mit 12 Zeigern ausgestattet. Ob man das irgendwie umrechnen kann?
Keuchend befinde ich mich ich ein paar Dutzend Meter vor dem Sprungturm, den Ring fest umklammert. Eine blonde, schlanke Frau, offensichtlich eine Angestellte des Bades, läuft zur Sprunganlage und erklimmt die Leiter, einhändig, in der anderen befindet sich nämlich ein Teller mit einer ansehnlichen Portion Pommes. Oh, wie hungrig ich bin! Doch der Teller ist wohl nicht für mich bestimmt. Das Lächeln der Dame wirkt aufgesetzt, ihr Hinaufsteigen der Leitern unbeholfen. Insgesamt macht sie einen etwas dümmlichen Eindruck. Möchte sie zu dem Mann? Dieser starrt mich regungslos an, offenbar hat er jetzt alles vorbereitet. Worauf wartet er dann? Auf die Frau? Nach einigen Minuten räuspert er sich, sein Gesicht wirkt plötzlich erfreut. Er muss diese Mimik ewig studiert haben, geradezu eins mit ihr sein, denn sie sitzt perfekt.
„Welcome! Welcome to the most superb Leisure Pool Franchise of the World: Aquament!“ Der Mann spricht mit einem auffälligen schweizerischen Akzent. Sein Tonfall erinnert an einen Ansagesprecher im Fernsehen, die Akustik kommt einer Kirche gleich. Irgendwo müssen Lautsprecher installiert sein. Die Leinwand zeigt jetzt irgendeinen Film, ich kann nichts Genaues erkennen. Eine billig produzierte Musik dudelt leise im Hintergrund und lässt darauf schließen, dass ein Imagevideo des Schwimmbades läuft.
„Aquament …“, die Stimme des Mannes durchbricht die Musik, „… bietet Lösungen für den Bedarf des Badeerlebnisses und ist für unsere Kunden ein kompetenter Spaßgarant. Pleasent Pools, slippery Slides, debonair Diving-Platforms …“
Leider kann ich nicht alles übersetzen, mein Englisch ist nicht gut.
„ … und natürlich …“, die Frau hat inzwischen die Absprungstelle erreicht, der Mann schnappt sich eine Pommes von ihrem Teller und beißt herzhaft hinein. „… formidable Finger Food, oder? Wir schwimmen bei allem obenauf.“ Er zwinkert mir zu und schnippt den Rest der Pommes in seinen Mund. „Aquament versteht sich als …“ Die Musik verstummt unerwartet, die Leinwand ist schwarz. Ein weißer Kreis dreht sich in der Mitte. Der Mann unterbricht seinen Vortag und macht sich an seinem Laptop zu schaffen. Er murmelt dabei vor sich hin, einige Wortfetzen erreichen mich. „Fabelhaft … auch noch rumfuhrwerken, oder? … vermaledeites WLAN!“
Ich sehe mich ratlos um. Ich bemerke einige Drohnen, die elegant durch die Luft fliegen, graziler als Vögel. Dieses Schwimmbad scheint ihr natürlicher Lebensraum zu sein. Ganz gewiss ist es jedoch nicht meins. Aber was verbindet mich mit dem Bad? „Nun … gut“, höre ich den Mann sagen. Er schaut auf mich herab, leicht verlegen. Dann setzt er wieder sein professionelles Grinsen auf.
„Ich darf Sie willkommen heißen als Candidate for Pool Attendant Executive. Sie haben die Chance unseres spontanen Offhand Job Advertisements genutzt und befinden sich nun in einem der größten Franchise-Unternehmen überhaupt: Die Aquamant Corporation. Und diese Filiale hier in Bingelsbach gilt als Vorreiter der Innovation.“
Habe ich mich wirklich hier beworben? Auf der Leinwand werden drei Wörter eingeblendet, die ich nicht lesen kann.
„Das sind die drei A-Cornerstones unserer Young Professionals: Agility. Awareness. Affability. Wir haben Ihre Performance ausgiebigst analysiert. Sehen Sie hier Ihr Onride-Video!“
Die Leinwand verfärbt sich rot. Ich kneife die Augen zusammen. Es ist ein Rutschentunnel. Das habe ich gefilmt? Die Schnalle ist tatsächlich eine Kamera! Aber warum ist die Rutsche rot gefärbt?
„Sehen Sie genau hin. Hier, Zone Red, in der Linkskurve LK608, ziemlich wackelige Angelegenheit. Dann die Rechtskurve RK587. Bämm, oder? In your Face! Ihre Agility-Score hat sich mit dem lächerlichen Sturz verflüchtigt. Sie verlieren daraufhin ihren Happy Hoop …“
Was verliere ich? Jetzt muss ich genau hinschauen. Ich sehe, wie ein weißes Objekt die Rutsche hinunterrutscht. Es könnte der Reifen sein, an den ich mich klammere. Die Rutsche ist offensichtlich dafür ausgelegt, dass man mit diesem Reifen hinunterrutscht!
„Dann sind Sie bewusstlos. Good night, sleep tight!“
Die Rutsche färbt sich Gelb. Hatte ich eine Gehirnerschütterung? Das würde erklären, warum ich mich an nichts erinnern kann.
„In Zone Yellow sind Sie komplett weggetreten. Von Awareness kann also keine Rede sein, oder?“
Er drückt auf seine Fernbedienung, das Video spult vor, sehr lange vor. Dann ist die Rutsche plötzlich grün. Die Farbe brennt sich in meine Netzhaut. Ich muss wegsehen, der Anblick schmerzt.
„Sie erwachen in Zone Green, die eigentlich als Chillout-Lounge gedacht ist. Und, Kruzifix, Sie halten an! Das ist verboten! Absolut mieses Workflow-Management. Die Demolierungsversuche unserer Rutsche … untragbar. Affability-Score … geht gegen null Prozent. Schauen Sie sich das mal an, so eine Scheiße hier!“
Er saugt die Luft durch seine Zähne.
„Alles in allem war es überhaupt keine sexy Performance, oder?“
Er schnalzt mit der Zunge.
„Ich darf sie nun entlassen. Dabei möchte ich Ihnen die Chance bieten, eine unserer neuesten Attraktion einzuweihen. Begleitet wird das Erlebnis vom Ensemble Edenthal.“
Die Bademeister, die vor dem riesigen Vorhang standen, marschieren zur Fensterseite. Der Vorhang öffnet sich, das Knarzen hallt durch das gesamte Bad. Eine Bühne mit einem umfangreichen Orchester kommt zum Vorschein. Es ist mindestens 100-köpfig, ich kann die Instrumente nicht alle erfassen. Eine Scheibe trennt das Orchester von der Halle.
„Sie können übrigens Ihre Chamäleon-Badehose als kleines Give Away betrachten“, fügt der Mann beiläufig an. Er kettet sich mit mehreren glänzenden Handschellen an dem stabilen Geländer fest. Die Bademeister verschwinden alle in den riesigen Metallröhren, die ich für Lüftungsschächte gehalten habe. Die seltsame Pommes-Frau ist mittlerweile hinabgestiegen und läuft ebenfalls in einen dieser Metallbunker, ihren köstlich gefüllten Teller noch immer in der Hand. Mehrere dramatische, tiefe Töne einer Tuba durchbrechen die Stille. Ich bemerke entsetzt, dass der Wasserpegel sinkt, wie man es von einem Wellenbad kennt. Hektisch schwimme ich zum vorderen Rand des Beckens, doch es ist zwecklos: Ich erreiche ihn nicht, kann mich nicht hochziehen. Der Mann schaut genau auf mich hinab.
„Ladies and Gentleman …“
Er spreizt seine Finger und streckt die Arme dem Wasser entgegen, als ob er es beschwören wollte.
Töne von Streichinstrumenten erfüllen den Raum. Sprühregen zieht auf. Irgendwo an diesem Himmel sind wohl Wasserdüsen angebracht.
„… Aquament Corporation presents …“
Der Mann hebt seine Arme hinauf in die Decke. Der Regen wird stärker, prasselt hart auf sein steifes Gesicht. Wind zieht über die Wasseroberfläche und reißt die Leinwand von dem Sprungturm hinunter. Auch der Beamer fällt hinab ins Wasser, Funken sprühen aus dem Apparat.
„… mit freundlicher Unterstützung der Schwimmbad-Baufachbetriebe Bingelsbach …“
Die Musik spitzt sich dramatisch zu, setzt dann aus. Dann bellt der Mann ins Mikrofon:
„… THE MOTHERFUCKING TWISTER OF TERROR!“
Ein Blitz schlägt von der Kuppel aus in die Spitze des Sprungturms ein. Sein gewaltiger Knall bringt das Wasser zum Beben. Der Mann fällt durch die Druckwelle nach vorne, wird aber durch die Handschellen gehalten. Das Orchester spielt einen hohen Ton, dann setzen knallende E-Gitarren ein. Eine brutale Strömung zieht mich vom Beckenrand weg. Ich schwimme dagegen an, bin ihr aber hilflos ausgeliefert. Der Takt des Schlagzeugs erhöht sich. Die Wassermassen des Regens vermischen sich mit dem aufgewirbelten Wasser des Beckens. Meine Hände greifen in die Luft, versuchen vergeblich, mich über Wasser zu halten. Ich werde um einen absinkenden, dunklen Strudel getrieben. Dieses Schwarze Loch wird tiefer, immer tiefer. Seine gewaltigen Ausmaße kann ich durch den Schein zuckender Blitze erahnen. Blast Beats erfüllen den Raum. Immer schneller werde ich umher gerissen und kann mich kaum noch über Wasser halten. Ich bewege mich so schnell im Kreis, dass mir übel wird. Meine Augen kann ich kaum noch öffnen, mehrmals gehe ich unter, schnappe nach Luft. Der letzte kurze Blick zum Mann, der klatschnass auf dem Sprungbrett liegt und mich genau beobachtet. Dann falle ich in das Loch.