Die Wanderung
Damals hatte ich ein Problem, das Sie nicht verstehen werden. Ich musste aufstehen. Aufstehen fiel mir schwer. Ich war nicht einfach müde, ich war unendlich müde, so müde, wie Sie es nie waren. Aber ich hatte meine Arbeit zu erledigen, jeden Tag. Ich konnte mir nicht einfach frei nehmen so wie Sie, ich konnte mich auch nicht krankmelden. Jeden Tag um sechs Uhr war ich wach und konnte nicht mehr einschlafen, obwohl ich so unendlich müde war. Aber die Aufregung vor dem neuen Tag war zu groß. Ich wusste, dass ich jetzt die Bettdecke zur Seite schlagen musste, doch ich bewegte mich nicht, kein Körperteil von mir war in der Lage, auch nur die kleinste Bewegung zu vollführen. Ich lag nicht etwa locker hingeflezt und entspannt im Bett und war zu faul, nein, ich lag vollkommen steif auf meiner linken Seite. Wenn jemand versucht hätte, meinen kleinen Zeh zu bewegen, er hätte keine Chance gehabt, es fühlte sich an, als wäre ich komplett aus Beton. Ich spürte meine Bettdecke auf mir wie eine unendliche Last, die ich loswerden wollte, aber ich konnte meine Arme keinen Zentimeter bewegen, um sie zur Seite zu schieben. Meine Augen starrten nur auf die eine Stelle in der matten Dunkelheit, die durch die Straßenlaterne vor meinem Schlafzimmerfenster schemenhaft ausgeleuchtet wurde. Dieser Blickausschnitt umfasste eine Tür meines Kleiderschranks und ein Blatt der Stechpalme, das vor die Tür ragte und sich ganz sachte hin und her bewegte.
Ich merkte, dass ich gleich blinzeln müsste, meine Totenstarre wäre dann endgültig vorbei gewesen und das durfte nicht sein. Ich konzentrierte mich auf meine Augenlider und darauf, dass sie nicht herunterklappten. War das ein leichtes Zucken? Meine Augen hatten sich noch nicht vollständig geschlossen und so entschied ich mich dafür, dass es nicht als vollständige Bewegung zu werten sei. Ich spürte, wie sich mein Brustkorb bei jedem Atemzug leicht hob und wieder senkte.
Die Nase kribbelte. Das war aber schon lange kein Problem mehr für mich, hatte ich doch inzwischen durch jahrelanges Üben den Dreh raus, die Widrigkeiten meines Körpers zu ignorieren durch äußerste Konzentration, so dass ich auf kein Kitzeln mehr reagieren musste, genauso wenig wie auf ein Jucken am Oberschenkel oder einen Mückenstich am Ohr.
Aus der Nachbarwohnung wummerten Bässe einer Musik, die ich nicht identifizieren konnte. Ganz leicht vibrierte das Bettgestell, die Bässe zogen sich wie feine Linien durch die Wände und über den Boden. Ich konzentrierte mich auf das Palmenblatt und betrachtete die braunen, vertrockneten Spitzen.
Ich blinzelte.
Es war vorbei, ich hatte auch heute den Kampf verloren und konnte aufstehen. Es war so viel Zeit vergangen, dass bereits Sonnenstrahlen in meine Wohnung fielen. Ich lief auf der Linie in die Küche, trank meine Milch und begann den Apfel zu essen, den ich gestern Abend bereitgelegt hatte. Er hatte eine leichte Druckstelle kurz vor dem Stiel. Ich zögerte, ob ich den Apfel wirklich zu Ende essen konnte. Aber ich hatte keinen zweiten, es musste dieser Apfel sein und schließlich hatte ich bereits angebissen, es gab in diesen Situationen keinen Weg zurück. Ich schloss die Augen und biss in die weiche Stelle, schmeckte die Fäule und musste würgen. Eine gallige Masse bahnte sich den Weg durch den Hals zurück in meinen Mund, ich wollte schreien, aber dann hätte ich erst recht wieder alles ausspucken müssen. Im letzten Moment griff ich zum Milchglas und spülte alles dorthin hinunter, wo es hingehörte. Ich betrachtete den Apfelgriebsch, er war nicht so vollkommen abgeknabbert wie an allen anderen Tagen, etwas Fruchtfleisch hing noch rechts oben am Gehäuse, was mich zur Verzweiflung brachte. Noch einmal hineinbeißen war einfach nicht möglich. Ich legte das Gehäuse auf einen Untersetzer, es rollte darauf zur Seite, womit die unvollkommene Seite verdeckt war. Ich betrachtete das Ergebnis eine Weile und beschloss, alles so stehen zu lassen und erst am Abend eine endgültige Entscheidung zu fällen.
Ich zog meine rot-blaue Kombination an, das blaue Hemd sollte bei den hohen Temperaturen genug Luft an den Körper lassen, die rote Hose heizte sich bei den hohen Temperaturen nicht dermaßen auf, dass ich sie mir am liebsten vom Körper reißen wollte. Die Laufschuhe waren ebenfalls rot und blau und passten perfekt, nur dass sich die Sohlen inzwischen leicht ablösten, was ich mit etwas Klebstoff zu verhindern suchte.
Ich öffnete die Wohnungstür einen Spaltbreit und lauschte in das Treppenhaus. Es war alles ruhig, niemand war zu hören und so konnte ich die Tür hinter mir zuziehen und den Abstieg beginnen. Als ich auf der dritten Etage angekommen war, schloss jemand unten die Haustür auf und trat ein. Ich blieb stehen und rührte mich nicht. Zum Wiederhinauflaufen reichte die Zeit vielleicht nicht, was sollte ich also tun? Ich konnte nur stehen bleiben und guckte vom Absatz aus die Treppe nach oben. Die Person unten machte sich an den Briefkästen zu schaffen, vielleicht war es nur der Postbote und er würde gleich wieder verschwinden, doch es hörte sich nach einem Schließgeräusch an, also war es ein Mieter, der gleich die Treppe hinaufkommen würde, aber vielleicht war es ein Mieter aus dem 1. oder 2. Stock, dann würde ich ihm nicht begegnen müssen. Der Putz an der Decke des Treppenhauses blätterte leicht ab und hatte die Farbe von zu hart gekochten Eiern und ich bildete mir ein, dass es auch etwas faulig roch, während unten die Treppe knarzte. Die Schritte waren bestimmt und doch nicht zu schnell. Die 5. und die 7. Stufe hörten sich wie immer grausam an, als würde die Treppe gleich einstürzen, aber das Geräusch war auch nicht zu laut, es war also vermutlich eine leichte Person, ein Kind vielleicht, aber dafür setzte sie die Füße zu bestimmt auf, also eher eine Frau. Keine Schlüsselgeräusche in der 1. Etage, die Frau setzte ihren Aufstieg fort, der Umriss der abgeblätterten Farbe erinnerte mich an eine Sonnenblume, eine eiergelbe Sonnenblume. Meine Atmung verflachte, als die Schritte auch auf dem 3. Treppenabsatz nicht stoppten, eine Begegnung war nicht mehr zu vermeiden. Ich hörte, wie die Frau um die Ecke bog und kurz innehielt, sie musste mich jetzt gesehen haben, etwas zögerlich und langsamer ging sie nun weiter, ich spürte ihre Blicke auf mir, auf meinem Gesicht, wie sie versuchte herauszubekommen, was ich da machte, wo ich hinstarrte. Die Sonnenblume hatte bereits ein paar Blätter verloren, war zerrupft und geschunden, wie ich dachte. Ein Windhauch streifte mich, ich hörte die Frau atmen und leicht zögernd an mir vorbeigehen. Ihre Schritte wurden auf der Treppe wieder schneller, sie muss ihr Schlüsselbund aus der Tasche genestelt haben, denn es klapperte jetzt in ihrer Hand. Als sie um die Ecke verschwunden war, begann ich wieder zu atmen, löste meinen Blick von der Blume und lief die Treppe etwas zu schnell nach unten und trat auf die Straße.
Die Sonne blendete mich brutal, ich konnte nicht so weit nach oben schauen, wie ich es gerne gehabt hätte, nur im 45-Grad-Winkel auf die dritten Etagen der Gründerzeithäuser. Ich kannte meinen Weg genau, ich musste nur meine Schritte zählen, um anschließend exakt an der Ampel stehen zu bleiben. Ich kannte die Signale, die die Ampel machte, um zu wissen, ob noch rot war und wann ich weitergehen konnte. Es war nicht viel los heute auf der Straße, was es mir viel einfacher machte, an mein Ziel zu gelangen. An diesem Tag wollte ich zum Bahnhof Friedrichstraße, der deutlich kleiner war als der Hauptbahnhof, den ich am vorhergehenden Tag besucht hatte. Das bedeutete, dass ich wesentlich mehr schaffen konnte in der Zeit, die mir zur Verfügung stand. Ich tastete mich an den Balkonen entlang und wieder wusste ich genau, dass unzählige Blicke mich musterten, fürchterliche Blicke, Augen mit hochgezogenen Brauen, stechende Blicke, abschätzige Blicke, ängstliche Blicke, nur keine freundlichen Blicke. Ab und zu schielte ich etwas nach unten, um Zusammenstöße zu vermeiden, ich wollte keinen Körperkontakt, es sollte mich niemand anfassen oder auch nur streifen, das war das Schlimmste, was mir passieren konnte.
Seit ich in den Bahnhöfen arbeitete, konnte ich die Fußgängerströme besser einschätzen als noch auf der Straße, wo Rempeleien viel häufiger vorkamen. In den Bahnhöfen fand ich tote Winkel, wo niemand entlanglanglief, da konnte ich stehen, ohne jemandem im Wege zu sein. Ich meine damit nicht die hintersten Ecken, sondern die Stellen abseits der Laufwege von A nach B und von B nach C. Würde man dreihundert Jahre oder tausend Jahre warten, würden die Laufwege kleine Täler in die Bahnhöfe gefressen haben und ich würde auf sie hinabblicken können wie von einem Berg oder von einer Insel, wenn ich denn wollte oder könnte. So wie Wasser den Stein höhlt, höhlen Menschen die Laufwege in den Bahnhöfen.
Ich fahre niemals mit Zügen oder Bussen, ich lief also diese Strecke bis zur Friedrichstraße und betrachtete zunächst den Bahnhof von außen. Ich stellte mich auf den großen Vorplatz und bewunderte die leicht geschwungene Glasfassade, die auf die Backsteinmauern aufgesetzt ist. Die Fenster waren schmutzig, ich konnte nur schwer hindurchschauen, wie bei dem Glas mit Gurken, das ich vor Kurzem in meinem Kühlschrank gefunden hatte, in dem sich ein Schimmelflaum gebildet hatte. Eine S-Bahn ratterte in die Halle und kam schnaufend zum Stehen. Die Stimme aus den Bahnsteig-Mikrofonen schallte undeutlich auf den Platz, das Warnsignal der Türen ertönte und zögerlich nahm die Bahn die Fahrt wieder auf, während auf der anderen Seite ein ICE in gemächlichem Tempo durch die Halle hindurchfuhr ohne anzuhalten. Ich wanderte langsam an der Außenfassade entlang, blieb hier und dort stehen, schaute mir jede Scheibe der Halle genau an, die Schmutzmuster waren grundverschieden und ich versuchte, sie mir einzuprägen, zunächst nur die unterste Scheibenreihe. An der 12. Stelle fehlte das Glas, die Lücke gab mir den freien Durchblick auf das Gleis und den Bahnsteig dahinter. Wie so oft war er vollkommen überfüllt, zum Glück musste ich später nur in das Verteilergeschoss und nicht auf die Bahnsteige – die fürchterliche Angst, auf das Gleis gestoßen zu werden, konnte ich mir nicht antun. Ich hatte es vor zwei Jahren versucht, konnte den Blick aber nicht in Ruhe nach oben richten, musste immer wieder auf die Menschen achten und in ihre schrecklichen Gesichter blicken.
Ich wartete, bis die nächste S-Bahn hinter der Lücke zum Stehen kam. Jetzt konnte ich durch die Scheiben des Zuges die Masse der Fahrgäste erkennen, wie sie zu den Türen strebte, Freiräume bildete, die dann wieder aufgefüllt wurden durch die andere Masse, die in den Zug hineindrängte. Der Schaffner bellte sein „Zurückbleiben“, das jetzt auch deutlich durch die Lücke zu hören war, die Türen schlossen sich beim Signal und dem roten Warnlicht und der Zug schnaufte wieder aus der Halle zusammen mit seinem Inhalt, der anonymen grauen Masse mit den bunten Sprengseln der farbigen Funktions- und Outdoorjacken.
Ich lief die restliche Fassade ab, weitere Scheiben fehlten nicht, aber die Schmutzmuster waren so faszinierend, dass ich meinen Zeitplan kaum einhalten konnte. Am Ende des Bahnhofs drehte ich um und wanderte wieder zurück, um die zweite, darüberliegende Reihe der Scheiben zu betrachten, die dieselbe Größe hatten. Die fünfte Scheibe war auffällig sauber im Vergleich zu ihren Schwesterscheiben, ich vermutete, dass sie erst vor Kurzem eingesetzt sein musste, warum sollte man sonst eine einzelne Scheibe putzen? Ich blieb eine Weile stehen und ließ den Unterschied zwischen der sauberen und den beiden schmutzigen Nachbarscheiben auf mich wirken. Auf meinem Weg kamen mir sehr wenige Passanten entgegen, ich genoss die Leere der Seitenstraße, auch wenn der strenge Geruch von Urin mir in der Nase stach.
Ich näherte mich der Friedrichstraße, es wurde Zeit, den Bahnhof zu betreten, auch wenn mir das wieder diese Übelkeit verursachte, vor allem die engen Türen zu durchqueren, ohne mit jemandem zusammenzustoßen war jedes Mal von Neuem eine riesengroße Herausforderung. Ich postierte mich auf der anderen Straßenseite gegenüber dem Eingang und blickte hoch auf die Halle und gestattete mir, immer mal wieder nach unten auf die Türen zu schielen, um diese beobachten zu können. Es war kein Muster zu erkennen, wann mehr Menschen hinein- und herausströmten und wann sich wieder kurze Pausen ergaben. Nach einigen Minuten entschloss ich mich, loszulaufen, ich fixierte eine Scheibe in der zweiten Reihe über dem Eingang und marschierte auf die Türen zu, bei jedem dritten Schritt schielte ich nach unten und konnte so erkennen, dass sich mir niemand in den Weg stellte. Nach zwanzig Metern bemerkte ich den stechenden Blick, der von rechts vorne kam und ich blickte frontal in ein schreckliches Gesicht, dessen Augen mich fixierten und anstarrten und gar nicht aufhören wollten und mich nicht mehr losließen. Nur mit größter Anstrengung konnte ich wieder nach oben schauen, doch ich wusste, dass da immer noch dieses Gesicht war und dass ich mich ihm nähern musste, wenn auch nicht zwangsläufig mit ihm zusammenstoßen. Ich steuerte die linke Tür an, was allerdings dazu führte, dass ich die Bahnen der Leute kreuzte, die mir entgegenkamen und auf ihrer rechten Seite liefen, so als befänden sie sich auf einer Autobahn. Ich setzte einen Schritt nach dem anderen und näherte mich der rettenden Tür. Immer wieder streifte mich ein Luftzug, wenn ein mir Entgegenkommender nur knapp an mir vorbeilief, jedes Mal zuckte ich zusammen und hatte das Gefühl, ich müsste mich wehren, einen Angriff abschmettern. Das Gesicht sah ich nicht mehr, aber ich spürte den Blick genau auf meiner rechten Gesichtshälfte, er bohrte sich regelrecht in mein rechtes Auge, doch ich hatte jetzt die grüne Holztür erreicht und rettete mich in die Verteilerhalle des Bahnhofs.
Seit vor zwei Jahren die Deckenverkleidung abgenommen wurde, um den darunterliegenden Baupfusch bei der letzten Sanierung zu beheben, dachte ich zunächst, dass der Bahnhof mein Lieblingsbahnhof werden könnte, quellten doch unzählige Kabel hervor, Rohre verliefen in alle Richtungen, alte Säulen waren zu sehen, es gab so viel zu betrachten. Mit der Zeit wurde es mir aber zu viel, sich alles einzuprägen war einfach zu viel, jeder Quadratmeter war anders und der Zustand änderte sich mit jedem Besuch von mir, mal änderte sich die Farbe eines Kabels, dann waren es auf einmal mehr Kabel, dann wieder weniger, es war überhaupt keine Regelmäßigkeit zu erkennen, kein Fortschritt und kein Muster, was wann verändert wurde. Ein neues fahrbares Gerüst stand in der Halle, aber auch heute waren keine Handwerker zu sehen, ich hatte noch nie Handwerker auf der Baustelle gesehen, auch wenn sich immer wieder die Zusammensetzung der Kabel änderte.
Ich suchte mir meine Insel in der Verteilerhalle, stellte mich aufrecht hin und schaute an die Decke auf die Kabel.