Die wahre Trauer
Du siehst sie morgens in der Straßenbahn. Immer Dienstags und Donnerstags. Schon seit vier Wochen. Du verspürst etwas, das du dir einen Augenblick vorher noch nicht vorstellen konntest, weil es außerhalb des Gefühlsspektrums war. Dieses Gefühl spart sich dein Körper gut auf, um es nicht zu verbrauchen. Es ist zu rar. Du hast es vorher schon verspürt und du weißt wie es heißt. Aber du kannst dich nicht daran erinnern wie es sich anfühlt, bis es zurückkehrt. Der Zustand zwischen diesen Punkten ist ein anderer Lebensmodus, der dir jetzt bei ihrem Anblick trivial erscheint. Aber es wird auch wieder ein Zyklus kommen, in dem du nur über dieses Gefühl staunen kannst, ohne es nachvollziehen zu können - oder zu wollen. Koste es aus. Du kannst es nicht konservieren.
Dieses Gefühl, das wir meinen, können einige Menschen nicht verspüren und sie leugnen, dass es so etwas überhaupt gibt. Sie führen womöglich in ihren Grenzen ein gutes Leben. Du hingegen weißt um die Bedeutungslosigkeit ihres Daseins. Du steigst im Kosmos eine Stufe empor und instinktive Ideen erschließen sich dir wie erblühende Galaxien im jungen Universum. Du bekommst eine Ahnung von den Dingen hinter dem Augenscheinlichen und freust dich von Grund auf Mensch zu sein. In diesem Zustand magst du die Menschen, weil einige von ihnen das gleiche verspüren können wie du. Du denkst, dass die Aufklärer, die Humanisten und die Christen Recht haben könnten und der Mensch wirklich aufgrund des Potentials der Liebe in seinem Wesen gut ist.
Wenn das Gefühl vergeht weißt du es besser, oder denkst es zumindest, sobald du zu vergessen beginnst.
Es sind zwei Modi des Menschseins, die sich gegenseitig ausschließen.
Bei ihrem Anblick in der Straßenbahn weißt du, vielleicht verspürst du dieses Gefühl nie wieder so stark wie jetzt oder überhaupt nicht mehr. Vielleicht bist du dann wie die vielen Lieblosen dieser Welt.
Du kennst sie nicht, aber du liebst sie jetzt schon um ihrer selbst willen. Und das ist das beste daran.
"Hallo, ich bin Tobias. Hast du nachher etwas vor? Gehen wir vielleicht einen Kaffee trinken? Ich lad dich ein."
Sie wendet sich ab, geht zur Tür und Steigt aus; am Hauptbahnhof - nächster Halt Nietzsche-Straße.
Was spürst du nun?