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Die Vorsorgeuntersuchung
Die Vorsorgeuntersuchung
Der schwülen Hitze entkommen. Wunderbar. Die Wolken entbinden endlich. Der Regen knallt auf das Dach des kleinen E-Mobils, das mich leise fauchend vom Taxiparkplatz in den Warteraum der Klinik rollt.
Angekommen wuchte ich mich vorsichtig aus dem Gefährt, schlage auf den Rückführsensor und wabble langsam zur Anmeldung. Hinter mir verschwindet das E-Mobil Richtung Parkplatz.
Ich schiebe meine Karte in die Anmeldung, gebe meine Initialen und den vierstelligen Code ein, erhalte meine Karte zurück und schlurfe zu den Massagestühlen. Die Luft hier hat die Wärme noch nicht abgeben können; es ist stickig.
Erleichtert lasse ich mich in den Stuhl fallen. Ich ignoriere den zerkratzten Bildschirm und durchsuche die Zeitschriften in dem Korb zu meiner Rechten. Langweilig, peinlich, ah, das Magazin mit dem roten Cover.
Ich beginne über die verfehlte Umweltpolitik von K. zu lesen, mildes Entsetzen klopft in mir, als ich einen Kommentar überfliege, der die Korrelation dieser Politik zu der weiteren Erwärmung des Klimas mit vielen Zahlen darlegt. Kein Wunder, dass es heute Vormittag so heiß gewesen ist! Trotz der Belastung der Umwelt ist die Arbeitslosigkeit von K. jedoch weiter gestiegen. 18 Prozent! Ich sinniere kurz über die Dummheit von K. Smog, CO2 ohne Ende, aber an der Kippe zum Staatsbankrott. So unantastbar wegen dem veralteten aber eben immer noch übermächtigen Arsenal hält K. die Welt am Gängelband, hilflos müssen wir alle zusehen wie diese Barbaren uns alle gefährden. Es ist eine Schande!
Das dauert aber heute lange. Neben mir sitzt nur noch eine junge Frau, die, auf ihrem Doppelkinn ruhend, eingeschlafen ist. Sie hat langes blondiertes Haar und eine süße Stupsnase. Im Schlaf hat sie die vollen Lippen sexy nach außen gestülpt.
Hübsche Maus, aber leider muss ich mir eingestehen: Zu jung für mich. Sicher sieben, acht Jahre Altersunterschied.
Ich versuche, mich wieder in das Magazin zu vertiefen, kann mich aber nicht richtig konzentrieren und klappe den Bildschirm schließlich doch vor mein Gesicht.
Ein Comic, eine Gerichtssoap, ein Fußballspiel. Wahnsinn, diese Spieler, einer wie der andere: Wie von einer anderen Welt, eine muskulöse Synthese aus Bodenturner und Boxer. Die allermeisten schwarz. Wie ich aus einer anderen Ausgabe des rotcoverigen Magazin weiß, sind ihre Bänder und Gelenke verstärkt, aber trotzdem: Die Geschwindigkeit mit der sie ihre Drehungen und Tricks machen, lässt mich an die enorme Verletzungsgefahr denken. Naja, anders können diese Jungs wohl nicht dem Elend der Slums entkommen.
Schließlich werde ich aufgerufen. Ich rudere aus dem Stuhl und gehe auf das Zimmer mit der 1 zu.
Die Schiebetür gleitet zur Seite und ich trete ein.
Ein Weißkittel sitzt an einem Monitor und deutet auf eine bequeme Liege. Aus Erfahrung ziehe ich Jacke und Hemd aus und lege mich hin.
Er rollt zu mir her, zieht mir stumm Schuhe und Socken aus, befestigt zwei Plättchen an beiden Risten, dann rollt er zu seinem Bildschirm zurück.
Oh, der ist schlecht gelaunt, denke ich.
„Alter?“
„36“
„Größe?“
„179“, sagte ich.
„Gewicht?“
„122 Kilo“
Der Arzt sieht auf seinen Bildschirm.
„Sie haben abgenommen. Irgendwelche Beschwerden? Schmerzen im Rücken oder in der Lunge? Sind sie Raucher?“
„Ab – und zu Stiche in der Lunge. Ich habe leider wieder angefangen“, gestehe ich besorgt.
„Na, das sehen wir uns mal an.“
Er fährt eine weiße Halbschale von der Decke auf die Liege herunter. Ein kurzes elektronisches Knurren, das ich in meinen Eiern spüre.
Einen Bruchteil später erscheint ein Bild auf dem Monitor des Arztes.
„Nichts zu sehen, keine Schatten“, sagt er. Er klingt ein wenig enttäuscht.
Er misst meinen Blutdruck und meinen Puls.
„Das ist erstaunlich“, murmelt er.
„Was?“, frage ich, einigermaßen beruhigt. Was könnte schon schlimmer sein als Lungenkrebs? Ich stelle mir Lungenkrebs als schlimmste aller Todesarten vor, als ein langsames, innerliches Verfaulen.
„Ihr Blutdruck ist 135 zu 90, ihr Ruhepuls ist 68. Das sind gute Werte. Treiben sie etwa Sport?“
Ich freue mich.
„Äh, nein. Aber mein Auto ist, hm, kaputt, deshalb muss ich am Tag einiges zu Fuß gehen“, antworte ich verlegen.
Die Wahrheit ist, ich kann mir kein Auto mehr leisten, seit ich wieder eine Arbeit habe. Die Abgaben sind so hoch, Umweltabgabe, Straßensteuer, Treibstoffzuschlagssteuer, all die Versicherungen – dann lieber die rumpelnde Eisenbahn für die 270 Kilometer.
Wenn man sich einmal an das frühe Aufstehen und den Rhythmus der Abfahrtszeiten gewöhnt hat, ist die Eisenbahn eine Alternative, die zwar ein wenig unbequem, aber akzeptabel ist.
Aber ein Mann ohne Auto, das ist nun doch etwas eigenartig. Wie transportiert er Einkäufe? Wie besucht er Freunde? Vielleicht so ein verkappter Alternativer? Ich habe immer ein etwas schlechtes Gewissen, wenn mich jemand nach meinem Wagen fragt.
Der Arzt tippt etwas in seinen Bildschirm, überlegt und tippt weiter. Ich habe bis jetzt nur seinen weißbekittelten Rücken gesehen, nun dreht er mir sein breitflächiges Hängebackengesicht zu. Er hat Ringe unter den Augen.
„Ihr Gesundheitszustand ist, verglichen zum Standard, überdurchschnittlich gut“, sagt er ernst und blickt mir in die Augen.
Oh, oh, das ist schlecht.
„Ich könnte etwas mehr rauchen...“, beginne ich.
„Das wäre eine Möglichkeit. Nehmen sie Antidepressiva?“
„Äh, nein.“
„Ich werde ihnen welche verschreiben. Sie könnten ruhig auch mal fünf, sechs Flaschen Bier am Abend trinken. Oder hier, ich gebe ihnen eine Flasche Whisky mit.“ Er öffnet eine Schublade und holt eine Probeflasche in neutraler Verpackung hervor.
„Ich trinke eigentlich nicht gern. Es hat eine unangenehme Wirkung auf mich“, wage ich zu sagen.
Er sieht mich stumm an. Das Schweigen zieht sich in die Länge. Ich nehme die Flasche.
„Nun zur Ernährung, vielleicht erhalten wir hier neue Erkenntnisse.“
Er nimmt meine Hand und pikst mich mit einem Instrument in den Finger. Es tut ziemlich weh. Er wartet einen Moment und liest dann die Werte ab.
Der Arzt schüttelt den Kopf und seufzt.
„Ihr Cholesterin ist etwas hoch, das gefällt mir nicht. Außerdem zeichnet sich eine kleine Diabetes ab. Trotzdem, sie sind ein schwieriger Fall. Verstehen sie, ich muss hier ein Gutachten abgeben, ein klares Gutachten. Das System würde zusammenbrechen, wenn ich hier aufgrund von Vermutungen und Trends einfach irgendwelche Daten eingebe“, sagt er und wirft die Hände in die Luft.
Er scheint wirklich engagiert, er ist in der Zwickmühle. Ich sehe ihn unterwürfig an und schweige, alles was ich sage kann nur zu meinem Nachteil sein.
Er dreht sich zu seinem Bildschirm und seufzt, scrollte eine Weile rauf – und runter, seufzt noch einmal und sagt mit dem Rücken zu mir: „Ich kann ihre Lebenserwartung nicht berechnen.“
Ich weiß, was das bedeutet. Das Schlimmste befürchtend erwarte ich sein Urteil.
„Ihr Krankenversicherungssatz bleibt derweil bei 45 Prozent. Hier sind noch Gutscheine für Fastfoodrestaurants. Nachuntersuchung in 6 Monaten. Wiedersehen.“
Mit klopfendem Herzen rutsche ich von der Liege.
Das ist noch mal gut gegangen!