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Die Vorahnung
»Scheinst ganz schön was angestellt zu haben, Süße«, lechzte es aus der Nachbarzelle. »Müssen viele gewesen sein.«
Gebannt stellte sie sich auf die Zehenspitzen und schaute aus dem winzigen Fenster. Zu erkennen waren Menschenmassen, die von überall herbeiströmten.
»Hast es genossen, was?«
Hastig klammerte sie sich an den rostigen Eisenstäben fest und zog sich so nahe wie möglich an sie heran, doch ihr Blickfeld reichte nicht aus, um das Zentrum des Ansturms erkennen zu können. Erschöpft ließ sie sich fallen, bis sie festen Boden unter den Füßen spürte.
»Scheinst einige Bewunderer zu haben«, schallte es von nebenan. Es folgte ein düsteres, Kichern.
Ratlos lehnte sie ihre Stirn an die feuchtkalten Steine der Gefängnismauer. Erst wenige Augenblicke zuvor war sie aufgewacht, ohne Erinnerungen, ohne Orientierung. Die ersten Minuten verbrachte sie damit, ihr Gedächtnis zu durchwühlen. Ohne Erfolg.
Sie rieb sich mit ihren steifen Händen über die Arme, um ihrer Haut etwas wärme zu spenden. Auch wenn sie sich an nichts erinnern konnte, eine Sache wusste sie ganz genau. Sie wollte nur weg von diesem Ort. So schnell es ging.
»Für so ein süßes Ding wie dich, würde ich mir diesen Zirkus da draußen allerdings auch antun«, sagte ein fettbäuchiger Glatzkopf, dessen dunkle Augen vor Gier funkelten.
Ein finsteres Lächeln entblößte seine fauligen Zähne und sie spürte, wie seine Blicke auf ihr lasteten, als sie sich langsam auf die andere Seite der Zelle schleppte.
Ein weiterer, in Lumpen gekleideter Mann lehnte lässig an den eisernen Trennstäben der Nachbarzelle gegenüber und beobachtete aufmerksam das Geschehen.
»Versuche ihn zu ignorieren, er wird dir in deiner Situation am wenigsten helfen können.«
Sie antwortete nicht.
An der Gittertür angekommen, versuchte sie sich zu beruhigen und schaute sich um. Der schmale Korridor, der die beiden Reihen aus Zellen von einander trennte, endete an einer steinigen Wendeltreppe. Die Insassen waren lediglich mit rostigen Eisenstäben voneinander getrennt, als habe jemand provisorisch dutzende Käfige aneinander gereiht. Unauffällig schaute sie in die Gesichter der Gefangenen. Sie kauerten wie Vieh in den eigenen Ausscheidungen; nebeneinander, teilweise übereinander. Es müssen nahezu hundert gewesen sein. Doch ihr eigener Käfig war leer.
Der beißende Gestank vernebelte ihre Sinne und sie spürte, wie sie für kurze Zeit die Kontrolle verlor.
»Wo bin ich?«, flüsterte sie in sich hinein, bevor sie es nicht mehr aushielt und es laut ausstieß. »Wo bin ich hier?!«
Gelächter hallte durch das Gewölbe des Kerkers, als sie verzweifelt an der Zelltür rüttelte.
»Was glaubst du denn, wo du bist?«, fragte der Mann in Lumpen. »Oder sollte ich zuerst fragen, wer du bist?«
»Du willst dich nur über mich lustig machen«, erwiderte sie.
»Was hätte ich davon?«, sagte er und ließ seine Unterarme aus der Zelle baumeln. »Wenn ich mich amüsieren möchte, brauche ich nur einen Blick auf deinen Zellnachbar zu werfen, habe ich recht Fettsack?«
Erneut erfüllte lautes Gelächter den Korridor.
»Hüte deine Zunge, Bohnenstange«, drohte der Glatzkopf mit verdunkelter Miene.
»Und wenn nicht, Fettwanst? Kommst du mich dann besuchen, hm?«
Spätestens jetzt trugen alle, die dazu noch im Stande waren, dem Gegröle bei. Auch sie konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen.
»Siehst du...«, sagte er beim Anblick ihrer aufheiternden Gesichtszüge. »...es funktioniert.«
Er trat etwas näher an das Gitter und sein Gesicht tauchte zum ersten Mal aus dem Schatten. »Vielleicht sollten wir von vorne anfangen«, sagte er und sah sie an. »Mein Name ist Alexandre.«
Trotz des ungepflegten Bartes, hatte sein Gesicht ungeahnt zarte Züge. Ihr Blick wanderte von seinen vollen Lippen hoch zu den Augen, dessen Farbe sie im Spiel zwischen Licht und Schatten des Fackelscheins, nicht erkennen konnte.
»Sirà«, erwiderte sie zögerlich. »Sirà Dumont.«
»Ah, Sirà also. Ein ungewöhnlicher Name, wenn ich das anmerken darf. So... exotisch.«
»Eigentlich nicht«, sagte sie. »Meine Familie kommt ursprünglich aus Spanien. Sie waren Schafhirten in den Pyrenäen.«
»Pah!«, ächzte der Glatzkopf. »Hört sich das einer an; Schafhirten aus Spanien. Die kleine erzählt dir einen vom Pferd du Narr!«
»Pferd ist vielleicht das richtige Stichwort«, sagte Alexandre und lächelte. »Schließlich ist es eine bemerkenswerte Geschichte, die deine Familie vollbracht hat.«
Sirà wurde stutzig. »Ich verstehe nicht recht.«
»Nun, ich kann nicht aus eigener Erfahrung sprechen, Kleine...«, er zog seine Unterarme in das Innere der Zelle und lehnte sich mit der Schulter an die Gitterstäbe. »... aber vom Schafhirten in den Bergen zum Pferdezüchter der königlichen Armee, das ist ein respektabler Weg.«
Sirà erschrak. Wie konnte er das wissen? Vor wenigen Augenblicken kannte er nicht einmal ihren Namen und nun plaudert er über Dinge, die nur Bekannte der Familie wissen konnten.
»Wer bist du?«, fragte sie.
»Ich bin vieles, aber nicht dein Feind«, erwiderte Alexandre. »Im Gegensatz zu den Herrschaften, die in wenigen Augenblicken die Treppe hinunter marschiert kommen.«
Die neue Bekanntschaft wurde Sirà zunehmend unheimlicher. Es kam ihr alles so unwirklich vor, als wäre es nur ein Traum. Und doch fühlte sie jede Pore ihrer Haut, aus denen der kalte Angstschweiß drang.
Was mache ich hier, fragte sie sich. Immer noch fehlte jede Erinnerung an die letzten Tage. Sie spürte, wie die Verzweiflung in ihr wieder anwuchs.
»Aber wie sagt man noch so schön, draußen auf dem Land?«, Alexandre hob seine Hand und begutachtete seine Fingernägel. Dann wanderte sein Blick kühl und eindringlich zu Sirà. »Je höher der Falke steigt, umso tiefer sein Sturzflug«, er musterte jede Zuckung in ihrem Gesicht, als würde er auf irgendetwas warten. »Ist es nicht so?«, fügte er hinzu.
Sirà schwieg und ergab sich seinem starren Blick.
»Du weißt wirklich gar nichts mehr, was?«, fragte er. »Dabei hast du doch so viel mehr verdient.«
»Ich weiß eines...«, stieß sie aus. »...dass ich unschuldig bin!«
»Das bin ich auch!«, rief der Glatzkopf und schlug beim Lachen den Kopf in den Nacken. Mindestens drei weitere Insassen schlossen sich seiner an und beteuerten lautstark ihre Unschuld.
Alexandre's Gesicht wanderte im Schatten, bis es erneut im zuckenden Licht der Fackeln erschien.
»Die Tochter, die stiehlt, um die Medizin für ihren Todkranken Vater zu beschaffen. Welche rührende Geschichte. Doch auch sie muss erkennen, so ehrenhaft ihr Vergehen auch sein mag: Diebstahl bleibt Diebstahl; und wer Pech hat, bezahlt ihn mit seinem Leben.«
»Das ist eine Lüge!«, tobte Sirá, als sie plötzlich Schritte aus Richtung der Treppe hörte.
»Keine Sorge«, sagte Alexandre. »Ich werde nicht versuchen dir ein Geständnis zu entlocken, dafür ist es bereits zu spät.«
»Dir wird dein Lachen noch vergehen«, stieß sie wütend aus. Sie fühlte sich gedemütigt, verunsichert und in die Ecke gedrängt, wie eine Raubkatze im Käfig.
Rufe hallten von den Gängen der oberen Etagen in den Korridor des Kerkers. Wenig später waren Schritte und klirrendes Metall zu hören. Nicht das Geräusch aneinanderprallender Degen, stellte sie zu ihrem Bedauern fest, sondern eher das Rasseln eines Schlüsselsbundes.
Gebannt schauten die Insassen zur steinernden Wendeltreppe. Die Schritte kamen näher und näher, bis ein Mann an den Stufen erschien. Er trug eine schmutzige Leinenkutte und spuckte braunen Speichel auf den kalten Kopfsteinboden. Dann tauchten vier Uniformierte auf. Sie folgten dem stämmigen Kerl, der offensichtlich der Kerkermeister war.
Nachdem er sich einer Fackel bemächtigte, marschierte er grimmig den Korridor hinunter.
»Unsere Zeit ist gekommen, Kleine!«, rief ihr Alexandre zu, während der Wärter das Zellschloss entriegelte. »Vermutlich ist es besser so«, fügte er hinzu. »Die Welt ist aus den Fugen geraten, aber wem erzähle ich das, du weißt es wohl am besten.«
Er kniete sich hin und verschränkte langsam die Arme hinter seinem Rücken. Fassungslos beobachtete Sirà, wie zwei Soldaten die Zelle betraten und den Mann ohne Gegenwehr in Ketten legten. Als sie ihn unter die Schultern griffen und aus der Zelle hievten, blickte er noch einmal zu ihr auf und rief lachend: »Keine Angst Kleine, ich werde auf dich warten und willkommen heißen.«
Überfordert von der Situation brachte sie keinen Ton aus sich heraus. Ihr Kopf war immer noch genauso leer wie zuvor. Nachdem der Mann von den Soldaten die Treppe hinauf geschleift worden war, richtete sich der Blick des Wärters zu ihr.
»Die ist heute auch dran!«, schimpfte er. »Holt sie raus!«
Die verbliebenen zwei Gardisten schulterten ihre Musketen und begaben sich zu ihrer Zelle.
»Nein...«, murmelte sie vor sich hin. »Nein, das ist ein Missverständnis. Ich bin unschuldig, ich habe nichts getan!«, flehte sie.
Das Klirren des Schlüssels im Schloss, dröhnte in ihren Ohren wie Kanonenfeuer.
Hektisch stolperte sie rückwärts in die hinterste Ecke, wo das rostige Eisengitter in die Steinmauer der Außenfassade mündete. »Fasst mich nicht an! Bleibt fern von mir!«, drohte sie fluchend.
Als die Soldaten die Zelle betraten und ihr näher kamen, fasste sie all ihren Mut zusammen und warf mit allem um sich, was sie greifen konnte. Die von Kot und Urin getränkten Heuballen prallten zwar an den blau-weißen Uniformröcken der Soldaten ab, hinterließen jedoch hässliche, braune Flecken. Einen Moment zögerten die Männer, sie schienen überrascht von der Gegenwehr zu sein.
Doch nachdem sie den ersten Schreck überwunden hatten, handelten sie umso entschlossener und zogen sie an den Beinen grob aus der Ecke heraus, bis sie sie schließlich am Boden fixierten. Einer von ihnen hielt sie fest, während der Andere die Eisenketten an die Handgelenke schraubte. Sie bekam Panik. Unkontrolliert trat sie mit den Beinen um sich, doch die Ketten waren bereits festgezurrt und die Männer richteten sie angestrengt auf.
Mit Mühe wurde sie in den Mittelgang gezerrt, wo der Kerkermeister ungeduldig wartete. Er war ein äußerst stämmiger Geselle, eher übergewichtig, mit ungepflegten, langen Haaren und einem dichten, wild wuchernden, dunkelblonden Bart.
»Glaubt mir doch, ich habe nichts verbrochen«, stieß sie aus und schaute ihm tief in die schwarzen Augen.
»Halt endlich´s Maul, Weib!«, tobte er und schlug ihr mit voller Wucht ins Gesicht.
Als Sirà wieder zu sich kam, zogen die Männer sie durch einen dunklen Gang, dem Wärter und seiner Fackel hinterher.
Blutdurchtränkter Speichel lief ihr über das Kinn und tropfte ihr auf die Brust. Sie spürte ihre rechte Gesichtshälfte nicht mehr. Füße und Knöchel waren blutig vom rauen Steinboden über den sie schliffen, doch sie fühlte sich vom Hieb des Gefängniswärters immer noch wie betäubt und nahm keinerlei Schmerzen wahr. Am Ende des Korridors angekommen, wurde sie eine weitere Treppe hinauf gezerrt.
Vor ihnen lag der nächste, langgezogene Gang, an dessen Ende ein grelles Licht flackerte. Es war wie das rettende Ende eines Tunnels. So hatte sie sich immer den Augenblick nach dem Tod vorgestellt. Der Eintritt ins Paradies, das Tor zum Himmel.
Meter für Meter wurde sie näher an das sengende Licht getragen, halb in den Armen der Soldaten, halb kriechend auf dem Boden. Doch je greller es wurde, desto lauter wurden auch die Rufe der Menschen, die sie noch wenige Minuten zuvor vom Fenster ihrer Zelle aus beobachtet hatte. Dies ist nicht der Himmel, dachte sie.
Die Männer richteten sie auf, sodass sie auf ihren eigenen Beinen stand. Mit zugekniffenen Augen blinzelte Sirà in das grelle Licht, bis das Bild langsam aufklarte. Vor ihr hatte sich eine gewaltige Menschenmenge versammelt, die den gesamten Marktplatz bevölkerte. In Mitten der keifenden Massen befand sich ein hölzernes Schafott, auf dem drei Galgen emporragten.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Noch nie in ihrem Leben hatte sie solche Angst, wie in diesem Augenblick.
»Na los, vorwärts!«, drängte sie einer der Musketiere, doch ihr Körper war steif wie ein Brett. Tausend Gedanken schossen ihr durch den Kopf und doch dachte sie nichts.
»Worauf wartest du, verdammt nochmal?«
Die Männer schienen die Geduld zu verlieren, woraufhin einer von ihnen ihr einen Schups in Richtung der Treppen gab. Entkräftet torkelte sie die Stufen hinab zum Platz. Weitere Soldaten in blauen Uniformen hielten die drängelnden Menschen zurück und bildeten eine Schneise, die in einem schmalen Bogen zum Schafott führte.
Das seien nun also die letzten Schritte ihres Lebens, dachte sie und spürte, wie ihr Tränen über die Wangen liefen. Die beleidigenden Rufe der Massen schüchterten sie so sehr ein, dass sie auf den letzten Stufen stehen blieb. Sie brachte es nicht über sich, noch einen Schritt weiter zu gehen. Fluchend verzerrte der Soldat hinter ihr das Gesicht und stieß sie mit dem Kolben seiner Muskete den restlichen Teil der Treppen hinunter. Ungebremst schlug ihr Körper im Dreck des Marktplatzes auf. Die Menge jubelte.
Schreiend vor Schmerzen wandte Sirà sich auf den Rücken.
Nachdem sie sich wieder aufgerichtete, bewarf der wütende Mob sie mit verfaultem Obst und Gemüse, bis sie schließlich am Ziel angekommen war.
Vor ihr saß ein junger Offizier mit einem Stück Papier an einem schmalen Holztisch, gut bewacht von zwei bewaffneten Gardisten.
»Name?«, fragte er schroff, ohne sie anzuschauen.
»Dumont«, antwortete sie mit einem unverkennbaren Zittern in der Stimme.
Systematisch überflog er die Liste und wurde nach einem kurzen Moment fündig.
»Ah«, stieß er nüchtern aus. »Mademoiselle Sirà Dumont?«, fragte er und musterte sie mit einem prüfenden Blick.
»Ja«, entgegnete sie.
»In Ordnung«, er tauchte die silberne Spitze der Schreibfeder in ein Tintenglas und markierte ihren Namen auf der Liste. Dann nickte er einem großen Mann zu, der eine schwarze Stoffhaube über dem Kopf trug. Sein Gesicht war nicht zu erkennen, aus gutem Grund. Der Beruf des Henkers war nicht der beliebteste der Stadt. Er würde gut daran tun, unerkannt zu bleiben.
Er führte Sirà auf die andere Seite, zur Treppe des Schafotts, vorbei an einem morschen Marktkarren, auf dem die leblosen Körper gehenkter Häftlinge aufgestapelt waren. Die blau und grün angelaufenen Gesichter, mit weit offenen, verkrampften Augen verrieten ihr, dass der Scharfrichter offensichtlich keinen Wert auf eine saubere Hinrichtung legte.
»Hoch mit dir!«, befahl der Henker. Er stellte ein altes Weinfass unter ihren Galgen, packte sie unter den Armen und hob sie hoch.
Erschöpft schaute sie in die Gesichter des tobenden Pöbels. Die Männer und Frauen, ja selbst die Kinder im Publikum schienen sehnsüchtig darauf zu warten, dass sie leblos am Galgen baumeln würde. Nicht ein Hauch von Mitgefühl war zu spüren. Das einzige, was in ihren Augen sprudelte, war blanker Zorn.
»Lennàrde Roussel...«, schallte es über den Platz. Es war der junge Offizier, der zuvor ihren Namen aufgenommen hatte und nun aus einem aufgerollten Pergament vorlas. »...im Namen unserer Majestät, des Königs – Louis XVI – wegen zweifachen Mordes und Diebstahl, verurteilt zum Tode durch Erhängen!«
Ein kurzes Nicken genügte, um dem Scharfrichter zu befehlen, seine Arbeit zu vollenden. Er ging hinüber zum ersten Galgen und trat ohne zu zögern gegen das alte Weinfass unter den Füßen des Verurteilten. Mit einem dumpfen Ruck fiel der Körper des Mannes in den Strick. Die Menge jubelte, während seine Gliedmaßen ihre letzten Zuckungen von sich gaben.
Sirás Herz schlug schneller. Sie war nie gläubig gewesen, aber in ihrer Verzweiflung betete sie zu Gott, dass alles schnell vorübergehen werde.
»Clárisse Camilla Bonnet...«, fuhr der Mann in Uniform fort. Erst jetzt fiel Sirà auf, dass ein Mädchen neben ihr stand.
Für einen kurzen Moment trafen sich ihre Blicke. Das Mädchen zitterte am ganzen Körper, ihre Lippen waren dunkelblau, wie ihre riesigen Augen, die sie ängstlich anstarrten. Tränen ergossen sich über ihre Gesichter, als Sirà im Augenwinkel die sich nähernden Umrisse des Henkers bemerkte. Sie streckte ihren Arm aus, um das Mädchen abzulenken, welches verzweifelt versuchte Siràs Hand zu erreichen, als ihr plötzlich der Boden unter den Füßen genommen wurde und sie in die Tiefe fiel.
Apathisch schaute Sirà sich ein letztes Mal um, als sie einen Mann auf einem der Balkone der Häuser, am Rande des Platzes bemerkte. Er trug eine schwarze Perücke und starrte sie eindringlich an.
Zuversichtlich grinsend schob er seine linke Hand in seinen Seidenmantel, als sie ihn erkannte.
»Alexandre?«, murmelte sie vor sich hin. Er war es, seine markanten Gesichtszüge waren unverwechselbar. Wie war das nur möglich? Wenige Augenblicke zuvor hatten sie ihn noch aus der Zelle geholt.
»Halt still!«, nuschelte der Scharfrichter unter seiner Kapuze und hielt eine schwarze Augenbinde hoch.
»Er hat verlangt, dass ich sie euch über binde!«
»Wie bitte?«, verwirrt wanderte ihr Blick hinüber zum Ende des Schafotts, bis er an dem jungen Offizier haften blieb. Er blickte sie einen Moment lang an, lächelte und nickte ihr nüchtern zu. Dann richtete er seine Aufmerksamkeit wieder der Pergamentrolle.
»Sirà Madelaine Dumont!«, rief er, während der Henker ihr die Augenbinde anlegte.
Um sie herum herrschte Dunkelheit, doch das Gekreische der Menge hallte nach wie vor in ihren Ohren und übertönte die Worte des Mannes, der ihr Urteil verkündete.
Dann fiel sie in die Tiefe. Der Ruck des Stricks war schmerzhaft, doch währte er nur kurz. In einem Rutsch fiel sie mehrere Meter in die Tiefe, bevor sie auf etwas weichem landete.
Ihr Schrei verstummte und einen Augenblick lang herrschte Stille um sie herum. Doch plötzlich hörte sie Schüsse über den Platz hallen.
»Was geht hier vor?!«, stieß sie aus, als sie zur Gesinnung kam.
»Du lebst! Das geht hier vor«, ertönte es. »Halt bloß still!«
Nach einer Ewigkeit, wurde ihr die Binde von den Augen gezogen. Sie befand sich in einem Keller, deren marode Wände den Putz abstießen, als sei er ein Fremdkörper.
Vor ihr saß eine junge Frau mit pechschwarzen Haaren und aufgerissenen Augen.
»Wie geht es dir?«, fragte sie.
Bevor Sirà einen Ton heraus brachte, meldete sich eine bekannte Stimme. »Sie kann sich an nichts erinnern.«
»Nun lass sie doch erst einmal ankommen«, protestierte die junge Dame.
»Die müssen ihr ganz schön einen verpasst haben«, Alexandre schlenderte beobachtend um ihren Stuhl und ging vor ihr in die Knie.
»Ich hatte doch gesagt, ich werde auf dich warten«, verkündete er mit einem Lächeln auf den Lippen.
Siràs Verwirrung fand an diesem Tag kein Ende. »Wo bin ich?«, fragte sie gefühlt zum dutzenden Mal.
»In Sicherheit», antwortete ihr Gegenüber. »Ich schlage vor, du ruhst dich erst einmal aus. Die letzten Tage waren anstrengend. Für dich wie für mich.«
Alexandre erhob sich und ging Richtung Tür, die sperrangelweit offen stand.
»Aber ich kann dich beruhigen, trotz der... »Umstände«, hast du die Prüfung bestanden», sagte die Frau.
»Das hat ganz allein Rolande zu entscheiden!«, fügte Alexandre streng hinzu.
»Du glaubst doch wohl nicht...«, sie zögerte. »Sie hat nichts falsch gemacht, Alexandre!«
»Sie hat sich fangen lassen, Louisa«, entgegnete er. »Ich bin mir nicht sicher ob Rolande die Prüfung unter diesen Umständen als bestanden anerkennen wird.« Er betrat den Türrahmen und sprach über seine Schulter: »Sie hat die gesamte Bruderschaft in Gefahr gebracht!«
Louisa warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu.
»Eigentlich würde sie jetzt am Galgen baumeln.«, fügte er hinzu und ging durch die Tür.
»Aber sie ist hier!«, rief sie in den dunklen Flur. »Auf Geheiß Rolande's! Glaubst du er bringt seine besten Leute in Gefahr, um ein Mädchen zu retten, das für ihn keinen Wert hat?«
Keine Antwort.
Wieder verschwindet dieser geheimnisvolle Kerl im Schatten, dachte Sirà. Sie wusste immer noch nicht was sie von ihm halten sollte. Erst recht nicht von Louisa, die sie ständig mit dieser mysteriösen Vertrautheit betrachtete.
»Wenn er es nicht sagt, dann tue ich es eben. Herzlich willkommen in unseren Reihen Sirà«, sie legte ihr die Hand auf die Schulter. »Herzlich willkommen im Kabinett der Diebe.«