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Die Visualisierung der Hortense
Anton Buntschuh hatte von Hortense ein Foto gemacht, wie sie da entseelt im Sarg lag. Sie wirkte bleich, doch lieblich anzusehen, wie schlafend. Jäh war ihm ihr Abgang gewesen, trotz ihres Herzfehlers. Professor Hofmeister, bei dem sie in Behandlung war, hatte ihre Situation nicht als akut eingeschätzt. Auf der Warteliste für Spenderherzen stand sie im mittleren Rang. Da niemand zugegen gewesen war als sie verstarb, wusste man nicht, ob sie etwas erschreckte, sie sich erregte oder einfach ein motorisches Aussetzen des Herzens eintrat.
Toni, wie sie ihn liebevoll genannt hatte, steckte den Schlüssel ins Türschloss und trat ein. Hortense wird mir nie mehr entgegentreten, mich mit einem zärtlichen Kuss begrüssen und den Mantel abnehmen. Erst vor neun Monaten waren sie in die gemeinsame Wohnung eingezogen, hatten den Hausrat aus zwei Haushalten auf die neuen Verhältnisse angepasst. Das Schlafzimmer hatten sie neu gekauft. Sie liebte Pastellfarben, was auch zu ihren hellblauen Augen und den strohblonden Haaren passte. So waren Vorhänge und Bettüberzüge in zarten Tönen gehalten. Das Wohnzimmer war modern getrimmt, Buntschuh leistete es sich seinerzeit. Ein Sofa aus weissem Leder, das bequem für acht Personen Platz bot. Bilder und Teppiche aufeinander abgestimmt in fröhlichen Farben. Die Kücheneinrichtung brachte Hortense ein, sie liebte es zu kochen und benötigte hierfür alle möglichen Utensilien, aber auch ein grosses Sortiment an Gewürzen und Kräutern.
Am Begräbnis waren drei Verwandte von ihr erschienen, keine Nächsten, solche hatte sie nicht mehr. Von seiner Seite kamen die Eltern, dazu gesellten sich noch die wenigen Freunde. Er hatte die Zeremonie wie in einem unwirklichen Traum wahrgenommen, wie in Trance war er am Grab gestanden, nicht mit dem Gefühl, das Hortense hier zur letzten Ruhe gebettet wurde. So blieben ihm denn die Tränen aus.
Das Acrylbild von Hortense, das der Maler Ignatius Nagel angefertigt hatte, hängte er im Schlafzimmer auf. Als Vorlage diente das letzte Foto, das Buntschuh von Hortense machte. Zwei Monate war es nun her seit der Beerdigung. Vom Bett aus sah er direkt auf sie. So würde sie ihm auch künftig stets zugegen sein.
Als er mitten in der Nacht aufwachte, vernahm er den ruhigen Atem von Hortense. Beruhigt legte er sich auf die andere Körperseite und schloss wieder die Augen. Der Schlaf wollte ihn bereits wieder übermannen, als der Gedanke ihn jäh hellwach werden liess. Hortense! Er horchte, da war ihr Atem. Sein Herzschlag drohte auszusetzen. Buntschuh knipste das Licht an und blickte neben sich, das Bett war unberührt. Das Bild an der Wand zeigte Hortense mit geschlossenen Augen. Er horchte, da waren Atemgeräusche. In der ganzen Wohnung fand er nichts, das hierfür eine Erklärung geben könnte. Wieder horchte er, die Atemgeräusche waren da, nicht sehr laut, aber doch wahrnehmbar. Ganz so wie Hortense klang, wenn sie ruhig schlief. Das Geräusch muss aus der Wohnung darüber oder darunter kommen. Schlaf fand er keinen mehr, da das Atemgeräusch ihn im Bann hielt.
Am Morgen stand er frühzeitig auf. Ich kann ebenso gut zur Arbeit gehen statt wach zu liegen. Als er zur Haltestelle der Strassenbahn kam, fuhr diese eben an. Gleichgültig schaute er in die vorbeiziehenden Fenster, dort sassen schon die ersten Passagiere. Eine der Personen schaute ihn an und hob die Hand zum Gruss. Hortense. Es war Hortense. Unverkennbar ihr strohblondes, lockiges Haar. Über dem Gesicht lag zwar ein Schatten, aber sie war es. Buntschuh brach kalter Schweiss aus. Unmöglich, es muss jemand sein den ich mit Hortense verwechselte. Galt der Gruss wirklich mir? Er sah sich um, doch andere Leute kamen da erst vereinzelt heranspaziert, um auf die nächste Strassenbahn zu warten.
In der nächsten Nacht verschloss Buntschuh die Ohren mit Gehörschutzpfropfen, um nicht auf die Atemgeräusche der Nachbarn zu achten. Im Traum erlebte er sich am Begräbnis, diesmal rannen ihm die Tränen, wie er den Strauss blutroter Rosen auf den Sarg legte, bevor er abgesenkt wurde. Er erwachte, da etwas leicht auf seine Brust drückte. Hortense hatte ihre Hand im Schlaf auf ihn gelegt. Es fühlt sich gut an, sie zu spüren. Er schaute auf die Uhr, zehn nach fünf zeigte die rot leuchtende Digitaluhr. Vorsichtig liess er eine Hand über die Bettdecke gleiten, dahin wo ihre Hand liegen musste. Nichts. Er konnte nichts finden das ihn drückte, und doch nahm er es wahr. Mit der anderen Hand tastete er nun vorsichtig auf die andere Bettseite. Nichts, Hortenses Körper war nicht zugegen. Er nahm die Ohrenpfropfen heraus, da war das Atemgeräusch klar vernehmbar. Er setzte sich auf, versuchte etwas zu erkennen. Ein leichter Lichtschimmer von draussen ermöglichte, die Dinge schemenhaft zu erkennen. Hortense lag neben ihm.
«Kannst du nicht schlafen, Toni?» Ihre Stimme klang schlaftrunken.
«Schlaf nur ruhig weiter, Hortense», bemerkte er mit zittriger Stimme. Angst beherrschte ihn, sie könnte sich wieder in Nichts auflösen oder er müsste erkennen, dass er verrückt wurde.
Der Bettteil neben ihm sah am Morgen unberührt aus, einzig seine tastende Hand vermeinte eine leichte Ausbuchtung im Kissen zu fühlen.
Diesmal ging er zur ordentlichen Zeit zur Arbeit. An der Haltestelle und in der Strassenbahn bemerkte er nichts, das ihn beunruhigte. In der Innenstadt, zwei Stationen, bevor er aussteigen musste, sah er von hinten eine Frau mit blonden Haaren auf dem Trottoir gehen. Im Vorbeifahren sah er sich zu ihr um. Hortense. Es ist Hortense. Den hellblauen Mantel kenne ich zwar nicht, aber es ist ihr Gesicht. An der nächsten Station stieg er aus, die Strecke eilig zurückgehend, ihr entgegen. Doch er kam zu dem Punkt, an dem er sie sah, ohne dass sie ihm begegnete. Wahrscheinlich betrat sie eines dieser Häuser. Er sah sich um, es waren Ladengeschäfte, Kaufhäuser und über hundert Meter verteilt drei Restaurants. Er schaute sich in den Lokalen um und besuchte die andern Geschäfte, als sie öffneten. Seine intensive Suche blieb ergebnislos. In den nächsten Tagen legte er sich zeitig auf die Lauer. Hortense begegnete ihm nicht.
Da solche Vorkommnisse immer wieder auftraten, die ihn an sich selbst zweifeln liessen, suchte er das Gespräch mit Pfarrer Grob. Dieser hatte die Grabrede für Hortense gehalten. Religiös war Buntschuh nicht, doch wusste er nicht an wen er sich sonst wenden sollte.
«Diese Visionen sind eine Folgeerscheinung des Schmerzes, der Trauer, die der Tod von Hortense bei Ihnen auslöst. Trauer ist wichtig und notwendig, aber bei Ihnen ist sie fehlgeleitet. Es muss ein Ablösungsprozess sein und nicht ein Festhalten. Sie müssen willentlich den körperlichen Tod von Hortense akzeptieren, dann werden keine solch imaginären Vorstellungen mehr auftreten», sagte Grob.
«Aber ich akzeptiere doch, dass Hortense gestorben ist. Es tut zwar weh, aber ich bin mir der Realität durchaus bewusst. Ich sah sie auf dem Totenbett. Ich habe sie beerdigt. Und dennoch …»
«Hm. Es gibt natürlich viele Dinge, die man nicht rational deuten kann. Der Glaube ist hierfür ein gutes Werkzeug damit umzugehen, um nicht an solchen Ungewissheiten zu verzweifeln. Ich empfehle Ihnen in diesem Fall eine Meditationswoche in einem Kloster, das auch Gäste aufnimmt. Ich notiere Ihnen die Adresse.»
Buntschuh begegnete Hortense in der klösterlichen Abgeschiedenheit nie. Der Schlaf und die Ruhe vor Ort liessen seinen Geist sich wieder erfrischen und klar denken. Es muss wirklich die Trauer und die zunehmende Erschöpfung gewesen sein, die mich einen solchen Unfug fantasieren liess. Ganz leidlos war es für ihn dennoch nicht. Von der ungewohnten Sitzstellung schmerzten ihn die Hüft- und Kniegelenke nachhaltig. Mit einem der Mönche, Bruder Notker, hatte er auch ein sehr gutes Gespräch über seine Situation. Dieser erläuterte ihm sowohl geistliche Thesen als auch psychische Gründe, die zu solchen Wahrnehmungen führen können. Aber vor allem gab er ihm Hoffnung, dass er sich davon lösen und das Bild von Hortense einzig im Herzen bewahren könne.
Notker meinte, «Sie müssen sich dem Prozess stellen und mutig gegen diese Erscheinung antreten. Es sei denn, Hortense ist eine Heilige», diese Hintertür liess er sich offen. «Aufgrund Ihrer Schilderungen über Hortenses Leben sehe ich aber keinerlei Anzeichen dafür. Sie müsste schon sehr viel Mildtätiges und Wundersames bewirkt haben, um dieser Gnade unterworfen zu werden. Da wir dies ausschliessen, müssen wir die Erscheinung als bösen Geist erkennen, den es zu vertreiben gilt. Doch sie machen ja schon recht gute Fortschritte. Vielleicht erzeugte ihr in sich gehen auch bereits ausreichende Wirkung.»
In der ersten Nacht zu Hause schreckte Buntschuh nach einer Stunde Schlaf auf. Hortense hatte laut und deutlich gestöhnt.
«Hast du Schmerzen, Hortense?», fragte er besorgt, die Hand nach ihr ausstreckend. Doch fühlen konnte er sie nicht.
«Mein Herz hatte einen Aussetzer. Ich habe geträumt, dass du mich mich verlassen würdest. Da spürte ich einen scharfen Stich im Herz. Aber es ist wieder vorbei, es war nur ein Traum. Schlafe nur weiter, Toni.»
Er machte das Licht an. Ihre Stimme war klar verständlich gewesen, direkt neben ihm. Doch da war nichts. Die frühere Vitalität, welche ihn bis vor dem Zubettgehen beherrschte, war völlig verschwunden. Er fühlte sich wieder elend. Bin ich doch verrückt?
Die Worte von Notker über die psychischen Fehlleistungen beunruhigten ihn nun zutiefst. Gibt es wirklich Übernatürliches, das mir wie einem Medium zugänglich ist? Nein, Unsinn, dies ist Aberglauben! Doch wenn es Einbildung ist, bin ich krank. Das kann nicht sein, denn ich denke nach wie vor logisch. Notker wollte mir wohl nur nicht direkt sagen, dass er selbst nicht weiter wusste. Natürlich, deshalb wollte er mir eine Krankheit suggerieren.
«Lieber würde ich sterben als geisteskrank zu werden», sprach er mit zornigen Worten zum Bild von Hortense. Über seine Heftigkeit erschrak er. «Verzeih, du kannst ja nichts dafür. Aber ich halte es so nicht mehr aus. Deine Gegenwart quält mich, obwohl ich dich liebe. Dieser Zustand ist furchtbar und bringt mich um den Verstand. Es wäre mir einfacher, mit dir im Tod vereint zu sein. Ich halte es nicht mehr aus.» Er begann, hemmungslos zu schluchzen.
In der Nacht fand er keinen Schlaf mehr, sodass er sich am Morgen elend fühlte. Mitschuldig war sicher auch das Licht, das er brennen liess, der Meinung, so die Erscheinung von Hortense zu verhindern. An diesem Tag blieb er zu Hause, war aber von einer Unrast getrieben, da er stets die Erscheinung von Hortense befürchtete.
Gegen Mittag legte er sich übermüdet auf das Bett, sein Blick fiel auf das Bild von Hortense. Sie sah so friedlich aus, schlafend. Er wollte eben seine Augen schliessen, als er ein Blinzeln ihrer Augenlider wahrnahm. Er starrte genau hin, den Blick fixierend. Nein es ist nichts, wohl eine Sinnestäuschung, die mir der Schlafentzug verursacht. Die Lider fielen ihm zu, einen Moment später sie wieder aufreissend. Hortense sah ihn an. Ihre blauen Augen waren fest auf ihn gerichtet. Er konnte seinen Blick nicht von ihr abwenden, als ob sie ihn hypnotisieren würde. «Ich warte auf dich Toni.» Ihre Worte klangen lieblich, beinahe lockend.
In seinen tränenfeuchten Augen bildete sich ein Schleier, was ihn reflexartig veranlasste, sie kurz zu reiben. Er sah wieder klarer. Fassungslos das Bild fixierend. Hortenses Ebenbild präsentierte sich, wie Nagel es gemalt hatte. Lieblich mit geschlossenen Augen. Weinend wandte er sich ab. Seine Wahrnehmung war gestört, anders konnte er es sich nicht mehr erklären.
Nach zwei Tagen fand er die Kraft sich aufzuraffen, noch einmal ins Kloster zu fahren, dem Ort an dem ihm die Visualisierung von Hortense nicht erschienen war. Bruder Notker erklärte sich bereit mit ihm einen Versuch durchzuführen, diese hartnäckige Erscheinung zu überwinden. Eine imaginative Übung, ähnlich dem katathymen Bilderleben, bei der er Hortense noch einmal begegnen und diesmal ihr Sterben miterleben würde.
Er war vorzeitig nach Hause gekommen, da ihm an diesem Tag nicht so gut war. Gleichgewichtsstörungen, für die er keine Erklärung hatte, erzeugten Unruhe und beinahe Angst. Hortense kümmerte sich liebevoll um ihn, während er sich niederlegte. Der Schwindel in seinem Kopf beruhigte sich etwas, nachdem er von einem ihrer Kräutertees getrunken hatte. Hortense legte sich neben ihn seine Hand haltend. Ein gutes Gefühl.
Ein leichtes Zucken ihrer Finger liess ihn aufmerken. Wie Blitzeinschläge fühlte es sich an, in ein eigentliches Gewitter übergehend. Instinktiv entzog er ihr seine Hand und sah sie an. Ihre Augen hatten sich stark geweitet, sie bäumte sich auf, ins Kissen zurückfallend blieb sie reglos liegen. Die Augen halb geöffnet mit einer eigenartigen Starre in ihrem Blick. Es brauchte eine Weile, bis er realisierte, dass sie tot war, ihr Herz hatte aufgehört zu schlagen.
Er war schweissgebadet. Notker, welcher neben ihm auf einem Stuhl sass, befahl ihm liegen zu bleiben, nicht zu sprechen und tief durchzuatmen, wie er es bei der Meditation gelernt hatte.
Notker hob erst nach gut einer Stunde, in der er ihn aufmerksam beobachtete, das Schweigen auf. Nun durfte Buntschuh seine unmittelbare Erfahrung über das Sterben von Hortense und seine Gefühle dabei schildern, unterbrochen durch aufgewühltes Schluchzen. Bruder Notker führte ein ausführliches Gespräch mit ihm, das ihm wieder Hoffnung gab, doch nicht verrückt zu sein.
Beim Abschied überreichte ihm Notker drei Kuverts die Anweisungen für ihn enthielten, wenn Hortense ihm doch wieder erscheinen sollte. Diese müsse er strikt befolgen, auch wenn es ihm schwerfalle. Aber er dürfe immer nur eines öffnen und müsse die Wirkung abwarten. Sollte es doch erforderlich werden, erst dann das nächste Kuvert öffnen. Wenn kein Bedarf entstand, eines oder nicht alle der Kuverts einzusehen, müsste er die Verbleibenden nach drei Monaten vernichten, ohne sie einzusehen.
Bereits zwölf Tage und Nächte war ihm die Erscheinung von Hortense schon ausgeblieben. Er ging wieder seiner Arbeit nach und begann auch wieder seine Freizeit zu gestalten. Auf dem Rückweg vom Squash, wo er sich körperlich voll verausgabt hatte, fühlte er sich wieder wie früher. Die Normalität war wieder eingekehrt. Seine Heiterkeit, die Hortense an ihm liebte, schien sich auch wieder einzustellen.
Als er sich seinem Wohnhaus näherte, sah er aus einiger Entfernung eine Gestalt auf die Haustür zugehen. Im Dämmerlicht konnte er sie nicht genau erkennen, aber er vermeinte, vom Körperbau her eine Ähnlichkeit mit Hortense wahrzunehmen. Er blieb stehen und wartete ab. Im dritten Stock, in seiner Wohnung, ging das Licht an. Es muss Hortense sein. Einen Moment sah er sie schattengleich an einem der Fenster vorübergehen. Spielt mir jemand einen bösen Streich? Jetzt will ich es wissen. Schnell eilte er die Treppen hoch und öffnete die Wohnungstür. Alles war dunkel. Bei der Durchsuchung der Wohnung war keine Spur zu finden, dass jemand Unbefugtes anwesend gewesen wäre. Erschöpft setzte er sich in einen Sessel, keines klaren Gedankens mehr fähig.
Erst nach zehn Nächten spürte er die Anwesenheit von Hortense wieder. Er erwachte, da er in der Küche ein Geräusch hörte. Ein Lichtschimmer fiel durch einen Spalt der Schlafzimmertür. Es konnte nur Hortense sein, doch diesmal hatte er Angst, nackte Angst. Er zog sich die Decke über den Kopf, glaubte aber bald darunter zu ersticken. Sie war noch immer in der Küche. Seinen ganzen Mut zusammennehmend rief er: «Hortense?»
«Ich bin in der Küche, Toni. Ich mache mir einen Baldriantee, da ich nicht schlafen kann. Schlaf ruhig weiter. Oder möchtest du auch einen?
«Nein danke Hortense, ich schlafe weiter.»
Die Vorstellung ihr zu begegnen steigerte seine Angst noch mehr. Nein, das ertrage ich nicht mehr. Ich stelle mich schlafend.
Er horchte, der Löffel in der Tasse klirrte leicht. Ihr Tee musste fertig sein. Es dauerte eine Weile, dann ihre Schritte, die Tür schloss sich. Als sie sich ins Bett legte, federte die Matratze spürbar. Sie ist kein Geist, dann hätte sie ja kein Gewicht.
Am Morgen fühlte er sich erschöpft, keinen Moment hatte er geschlafen, vielleicht mal etwas gedöst. Vorsichtig schielte er neben sich. Das Bett sah unberührt aus. Auf dem Bild sah sie friedlich schlafend aus.
Er nahm das Kuvert hervor auf dem gross eine Eins geschrieben stand und riss es auf. Einzig ein Zettel war darin auf den Notker notiert hatte: «Gemälde von Hortense an den Maler zurückgeben.»
Er stöhnte auf. Ausgerechnet das Gemälde, das mir Hortense noch nahe sein lässt. Er stutzte über seinen schmerzlichen Gedanken. Denkt Notker etwa, die Erscheinungen stehen im Zusammenhang mit dem Bild? Das ist doch Unsinn.
Ich habe keine Wahl, ich muss Notker vertrauen und mein Versprechen halten. Dieser Wahnsinn muss ein Ende finden.
Nagel war sehr ungehalten, ja direkt beleidigt, als er bei ihm vorsprach, das Gemälde unter dem Arm.
«Ich habe noch nie ein Gemälde zurückgenommen. Hier handelt es sich zudem um ein Auftragswerk. Was soll das?»
Buntschuh sah keine andere Möglichkeit, als ihm sein Motiv zu erklären, da gutes Zureden nichts nutzte.
Nagel lachte schallend, als ob er einen köstlichen Witz gehört hätte. Dann schüttelte er den Kopf.
«Verkaufen Sie es meinetwegen einer Galerie, wenn Sie sich davor fürchten. Ich will es nicht.»
Da Buntschuh sich weigerte mit dem Bild wieder wegzugehen, kam es zu einer längeren Auseinandersetzung. Nagel übernahm letztlich das Bild ohne Gegenleistung.
Als er aus dem Atelier kam, sah er eine Frau mit blonden Haaren, die auf der andern Strassenseite stand und zu ihm herüberschaute. Aus der Entfernung konnte er es nicht mit Sicherheit sagen, aber er war der Meinung, es sei Hortense. Einen Moment überlegte er auf sie zuzugehen, doch dann ergriff er spontan die Flucht in die andere Richtung. Er war das Bild losgeworden, wie ihm geheissen wurde, also sollte sie ihn in Ruhe lassen.
Fünf Nächte und Tage blieb die Erscheinung von Hortense schon aus, sodass die Hoffnung, es sei, geglückt, sich festigte. Doch in der sechsten Nacht geschah es.
«Du hast mich weggegeben, unsere Liebe weggeworfen.» Ihre Stimme war schneidend scharf, sie stand vor der Wand, an der das Bild gehangen hatte. In der Diele brannte Licht, die Schlafzimmertür war offen, sodass er sie gut erkennen konnte. Sie hatte ihn aus dem Schlaf gerissen. So hatte er sie noch nie sprechen gehört, er hatte überhaupt noch nie erlebt, dass sie böse war.
«Hortense, ich wollte dies nicht. Nein, ich liebe dich doch, aber was soll ich denn machen. Ich kann nicht mehr.» Er fühlte sich, als ob der Druck, den er zunehmend verspürt hatte, nun geballt auf ihn niederging.
«So nicht», schrie Hortense, «ich gebe dich nicht frei.» Mit schnellen Schritten ging sie hinaus und schlug die Tür mit aller Wucht hinter sich zu.
Buntschuh brauchte zwei Tage, bis er sich wieder in der Lage fühlte, das Bett zu verlassen. Der Auftritt von Hortense hatte ihm übel mitgespielt. Seither litt er an Albträumen, in denen sie ihm erschien. Er suchte das zweite Kuvert von Notker hervor und las dessen Anweisung.
«Holen sie das Gemälde von Hortense zurück und verbrennen Sie es. Die Asche verstreuen Sie dann in die vier Himmelsrichtungen.»
Das ist ja noch viel schrecklicher, als das erste Ansinnen. Notker musste dieses Vorgehen einem mittelalterlichen Werk über die Teufelsaustreibung entnommen haben. Hortense verbrennen wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen, das kann ich nicht. Er legte sich ins Bett und fiel in eine Apathie. Irgendwann musste er in den Schlaf gefallen sein, denn er erlebte in einem Albtraum, wie Hortense auf einem brennenden Scheiterhaufen stand und fürchterlich schrie.
«Toni, was tust du mir an. Befreie mich, bitte befreie mich.» Schweissgebadet wachte er auf, draussen war Tag.
Lange rang er mit sich, nahe daran sich selbst umzubringen, da er meinte, diesen Zustand nicht mehr auszuhalten. Das Gemälde ist nicht Hortense, ich muss es tun.
Nagel rückte das Bild erst wieder heraus, als er bereit war, den doppelten Preis des ursprünglichen Wertes zu zahlen, obwohl er es ihm kostenlos zurückgegeben hatte. Er habe einen Käufer dafür, war seine Begründung.
Buntschuh fuhr mit dem Bild in einen Wald, wo er einen Picknickplatz mit Feuerstelle kannte. Er wagte nicht, das Bild nochmals anzusehen, in Hortenses Gesicht zu blicken. Als er es anzündete, begann sich die Leinwand zu quellen und zu winden, als ob sie belebt sei. Alsbald schlugen die Flammen mit grossen Feuerzungen über die Fläche, schwarzer Rauch quoll gegen den Himmel. In seiner Erinnerung an den Albtraum sah er wie Hortense auf dem Scheiterhaufen stand und schrie. Er hielt sich die Ohren zu und schloss die Augen, sich von der Feuerstelle abwendend. Nach einiger Zeit wandte er den Kopf und blinzelte. Es war nur noch Asche vorhanden, letzte Rauchkringel erhoben sich daraus. Buntschuh starrte lange auf die Überbleibsel von Leinwand und Holzrahmen, bis er sich aufraffte, die Asche in die Hand zu nehmen. Wie ihn Notker geheissen hatte, zerstreute er sie in die vier Himmelsrichtungen. Der leichte Wind liess einen Aschenregen über in ergehen.
Ein Monat ging vorbei, in dem Buntschuh unter der Angst litt, Hortense könne doch wieder erscheinen. Der zweite Monat verlief ebenso, bald könnte er die Tage zählen, bis der dritte Monat vollendet war. Nach Notker wäre dies ein gültiger Massstab, dass er befreit war.
Einen Tag vor Ablaufs des dritten Monats ohne Hortenses Erscheinung, war er überzeugt, es geschafft zu haben. Endlich! Da war noch das dritte Kuvert von Notker, das er vernichten sollte. Er hielt es in der Hand, es schien ihm besonders gewichtig, da er sich nicht vorstellen konnte, was nach der Verbrennung des Gemäldes noch hätte folgen können. Notker hatte es ihm verboten, es zu öffnen, wenn kein Bedarf mehr dafür bestand. Nein, den habe ich nun nicht mehr. Er lachte, erst zaghaft, dann zunehmend fröhlich. Das erste Lachen seit Monaten, er fühlte sich befreit, frei wie noch nie. Das Kuvert erschien ihm jetzt bedeutungslos und doch war da die Neugierde. Er sah auf die Uhr, noch dreizehn Minuten bis zum analogen Zeitpunkt, als er das zweite Kuvert geöffnet hatte.
Jetzt. Er begann, das Kuvert in der Mitte zu zerreissen. Eigentlich beabsichtigte er es in kleine Stücke zu zerfetzen, doch war es nun ja offen, zweigeteilt. Er zögerte, doch dann hob er an der Rissstelle das Papier etwas an und blickte hinein. Auf dem Zettel konnte er Notkers Handschrift erkennen. «immaterielle Dasein / wenn Ihnen dies nicht / einen Psychiater auf, / noch helfen», stand da auf vier Zeilen. Was soll das, erregte er sich über das Wort Psychiater und blickte nun in die andere Hälfte. «Akzeptieren Sie das / von Hortense. Oder / gelingt, suchen Sie / nur er kann Ihnen». Ihm dämmerte die zusammengesetzte Anweisung.
«Akzeptieren Sie das immaterielle Dasein von Hortense. Oder wenn Ihnen dies nicht gelingt, suchen Sie einen Psychiater auf, nur er kann Ihnen noch helfen.»
Notker hat zu seiner eigenen Beruhigung, da er offensichtlich selbst nicht an dieses magische Ritual glaubt, sich eine moralische Hintertür offengelassen. Demnach hält er mich für krank. Die Erkenntnis war für Buntschuh wie ein Keulenschlag. Er wurde wütend. Was Notker tat, war gemeiner Betrug. Doch da hat Notker sich getäuscht, ich bin von der Erscheinung von Hortense befreit. Glücklicherweise. Es war ihm unvorstellbar sein Leben in einer Irrenanstalt zu verbringen. Nein das wäre kein Leben mehr. Nun zerriss er das Kuvert in winzig kleine Fetzen.
Am frühen Nachmittag, er überlegte eben in der Stadt flanieren zu gehen, als es an der Tür klingelte. Ein grosser hagerer Mann stand draussen. Schwarz gekleidet, als ob ein Trauerfall ansteht.
«Mein Name ist Charles de Beauharnais», sagte er.
Buntschuh kannte ihn nicht, aber das Herz blieb ihm fast stehen, de Beauharnais war der Familienname von Hortense.
«Ich bin ein entfernter Verwandter von Hortense und habe leider erst vor wenigen Tagen erfahren, dass sie bereits vor einigen Monaten unerwartet verstorben ist. Ich hätte sie gerne kennengelernt, was jetzt ja leider nicht mehr möglich ist. Obwohl, in unserer Familie soll es seit Jahrhunderten immer wieder Mitglieder gegeben haben, die auch nach ihrem Tod mit ihren Liebsten wieder in Verbindung traten. Hat sich Hortense bei Ihnen noch nicht gemeldet?»
Buntschuh sah den Mann entgeistert an. Habe ich Hortense getötet? Ausgelöscht wie eine Nichtigkeit?
«Das wollte ich doch nicht», schrie er auf und rannte die Treppe hinab.
Nur weg von hier. Er wusste kein Ziel. Aus dem Haus tretend, sprang er zwischen zwei parkierten Autos hervor auf die Strasse, um sie zu überqueren. Das Auto, welches in dem Moment schnell nahte mit einer blonden Frau am Steuer, nahm er nicht wahr.