Die Vision
Die Vision
Wieso glaubte ihr nur keiner? Sie war sich doch so sicher gewesen. Vielleicht hatte sie auch einfach nur zu viel Alkohol getrunken. Aber es war so greifbar gewesen...
Simone ertappte sich schon wieder beim Nachdenken. Als sie auf ihre Wanduhr blickte wurde ihr fast schlecht – schon fast halb acht. Um viertel vor acht musste sie bei der Bushaltestelle sein, der Bus würde sie in die Schule bringen. Schnell sprang sie aus dem Bett und zog sich an.
Seit dem Umzug war alles anders. Sie hatte alle ihre Freunde verloren und konnte nicht von sich selbst sagen, dass sie sehr kontaktfreudig wäre. Na ja, wenigstens hatte sie Marc kennen gelernt. Er war auch vom Land rübergezogen und konnte sie verstehen. Mit ihren sechzehn Jahren, war sie ein hübsches Mädchen. Mit ihren langen, blonden haaren und den blassgrünen Augen, hätte sie viele Verehrer und gute Freundinnen haben können, aber alle auf der Schule waren beinahe überzeugt, dass sie verrückt war. Marc war der einzige, der sie nicht für verrückt hielt. Eigentlich tat sie immer so, als würde es ihr nichts ausmachen, dass sie nur den dicken Marc mit der hässlichen Hornbrille als Freund hatte, doch wie gern wäre sie beliebt und hätte hübsche Freundinnen. Doch seit ihre Familie durch einen tragischen Autounfall ums Leben gekommen war, hatte sie ständig diese Visionen. Großmutter hatte immer diese seltsamen Geschichten erzählt, aber Simone hatte es nie für nötig gehalten zuzuhören. Sie hatte sich zu wenig gekümmert und das war falsch gewesen.
„Das wird einem immer erst später bewusst“, dachte sie. Sie wollte nicht an sie denken, schon der Gedanke an ihre Großmutter tat ihr weh. Sie machte sich große Vorwürfe, deswegen hatte sie sich geschworen, nie an ihre Familie zu denken, um das Leben noch einigermaßen erträglich scheinen zu lassen. Doch dies gelang ihr nicht immer. Die Gefühle konnten nicht einfach an ihr abprallen, wie bei einem Gummiball; am Wochenende war es am schlimmsten. Deswegen genehmigte sie sich am Freitags und Samstags, des öfteren ein wenig Alkohol, um nicht in Sentimentalität zu versinken. Ihre Pflegeeltern ließen ihr Leben auch nicht leichter werden, sie waren nicht sehr freundlich und besaßen keinen Humor.
In der Schule war es wiedereinmal sehr langweilig, doch Simone war sehr gut in der Schule. Ihr blieb ja nichts anderes übrig als aufzupassen. Sie hatte keine beste Freundin, mit der man in den langweiligen Mathestunden tuscheln konnte, keinen Freund, mit dem man sich Briefe schrieb. Herr Reining wollte gerade ein paar Aufgaben zu den punischen Kriegen verteilen, als die Schulglocke läutete.
„Oh, ich habe mich heute wohl etwas in der Zeit vertan.“, bemerkte er und steckte die Blätter zurück in die Tasche. Zerstreut blickte er in der Klasse umher.
„So....ähm, ihr könnt nach Hause gehen.“, sagte er.
Simone konnte auf dem Schulflur Alexandra und Katja über Herrn Reining lästern hören, doch plötzlich war alles still um sie herum. Sie bemerkte nur das riesige Schloss vor ihr und die vielen Pferdeweiden. Sie sah viele stark gebaute Knechte, die die Pferde zu zähmen versuchten. Viele Pferde waren noch sehr jung, fast noch Fohlen. Sie trugen tiefe Narben an ihren schönen Köpfen. An ihren Leibern glänzte der Schweiß und die blutverschmierten Striemen. In ihren tiefschwarzen Augen spiegelte sich die Angst. Die meisten Pferde hatten schon aufgegeben zu kämpfen, doch viele schrieen vor Wut. Wieso taten diese Menschen das? Simone war wie gelähmt. Sie wollte hinrennen und den Pferden helfen, doch ihre Beine fühlten sich an wie Gummi. Sie ruderte mit ihren Armen, doch das einzige, was sie damit bezweckte, war, dass sie auf dem Boden aufschlug.
„Neeeiiin“, schrie sie, „aufhören!!“
Dichter Nebel legte sich allmählich um das Schloss und die aufgeregten Stimmen und die Peitschenschläge wurden leiser. Dumpf klang die ständig gelangweilte stimme von Marc zu Simone hervor.
„Hey Simone! - Geht es dir nicht gut? – Sag doch was!“
Simone kam zu sich. Verwundert sah sich um. Das Schloss mit den Pferden war verschwunden, doch es drängelte sich mittlerweile die ganze Schule um Simone. Auch einige Lehrer hatten sich eingefunden.
Simone wurde bewusst wie laut sie geschriehen hatte. Es war ihr sehr peinlich. Tränen rannen ihr über das Gesicht. Zögernd stand sie auf und rannte davon. Sie hörte die plumpen Schritte von Marc hinter ihr.