Die vielen Perspektiven des Lebens
Es war schon drei Uhr, als ich mich entschloss, noch schnell einen kurzen Spaziergang zu machen, bevor Janet mich abholen würde. Dem Teint zuliebe. Denn wenn ich mich so im Spiegel ansah, wurde ich mir bewusst, dass ich nicht gerade eben aussah wie frisch aus dem Urlaub. Gut, es war ja Winter, aber dass selbst das weiße Bettlaken dunkler war als ich, machte mir schon etwas zu schaffen. Vor allem, da ich heute mit einer guten Freundin auf die Geburtstagsparty unserer Klassenkameradin gehen würde.
Also packte ich meinen Wintermantel, wickelte meinen Schal um den Hals und schleppte mich widerwillig nach draußen. Der kalte Wind blies mir schneidend ins Gesicht, als ich die breiten Straßen entlangging, während ich mein Partyoutfit noch einmal überdachte. Kritisch beäugte ich meine Fingernägel. Der vom Daumen war nicht ganz gerade geschliffen, und das störte mich schon etwas.
Der St. James‘ Park war fast menschenleer. Nur einige wenige Frauen gingen mit dick vermummten Kindern mit Pudelmütze spazieren. Ich sah nicht einmal Hunde, weder auf den Straßen noch im Park selber. Und es war tatsächlich so ein Wetter, bei dem „man nicht einmal einen Hund vor die Tür jagte“.
Und während ich so unter den kahlen, schneebedeckten Bäumen durchging, erblickte ich eine dunkle Gestalt etwa zehn Meter von mir entfernt. Sie bewegte sich nicht und lehnte gegen eine verfallene Mauer.
Ich kam näher und erkannte eine in Decken gehüllte, alte Frau. Schneeflocken umtanzten ihr ergrautes Haupt, und als Wind aufkam, zog sie die völlig verblichene, löchrige Jacke enger um ihre Schultern.
Eigentlich kein ungewohntes Bild hier in London, doch diesmal veranlasste mich irgendetwas, stehen zu bleiben.
Die Frau hob den Kopf, und ich sah ihr Gesicht. Sie hatte braune, klare Augen und schöne, ebenmäßige Gesichtszüge, obwohl das viele Leid, das sie in ihrem Leben schon erfahren haben musste, sich darin spiegelte. Sicher war sie als junge Frau wunderschön gewesen. Und auch jetzt noch, an einem eiskalten Wintertag wie diesem und nur mit einer dünnen Jacke, die kaum die Kälte abhielt, strahlte sie Zuversicht aus. Befreitheit. Und eine seltsame Art von Weisheit. Als könnten diese braunen Augen in eine Welt sehen, die besser ist als diese.
Mir war kalt, und ich kehrte um. Ich fühlte mich seltsam. Als ich heimging, fiel mir auf, dass ich nicht mehr unablässig auf meine nicht ganz perfekt manikürten Finger starrte und mich über ihre Unvollkommenheit ärgerte.
Am nächsten Tag stand ich spät auf. Die Party hatte lange gedauert. Und als ich zum Fenster hinaussah, griff ich fast automatisch wieder nach meinem Mantel und ging zur Tür. Doch heute nicht um des lieben Teints Willen. Ich spürte ein seltsames Kribbeln in den Fingern, als ich den Weg zum Park einschlug. Am Eingang wäre ich beinahe ausgerutscht. Der Schnee von gestern Nacht war auf dem Gehweg angefroren, und ich konnte mich nur langsam vorwärtsbewegen.
Und nach der dritten Biegung stand ich wieder bei der alten Bruchsteinmauer und wusste doch eigentlich gar nicht, was ich hier zu suchen hatte.
Doch als ich schon wieder umkehren wollte, sah ich vier oder fünf Männer, die einen Halbkreis um die Mauer bildeten. Was hatten sie dort zu suchen?
Vorsichtig ging ich weiter, während die Kälte langsam meine Finger lähmte. Ich fühlte mich aus irgendeinem Grund traurig.
Und als ich dann bei den Männern ankam und mich durch sie hindurch zu dem Platz drängelte, wo die Alte gestern gesessen hatte, fiel mein Blick auf die Szene, die ich in meinem tiefsten Herzen schon befürchtet hatte.
Auf einer schwarzen Bahre, die schon wieder halb von Schnee bedeckt war, lag der Körper der alten Frau. Leblos und schlaff, aber mit einem friedlichen Zug um die Lippen. Sie hatte dieser Welt Ade gesagt, dieser erbarmungslosen, grausamen Welt, in der Menschen an einem kalten Wintertag allein und hilflos unter den Augen der Öffentlichkeit starben.
Jetzt sah ich einen der Männer an, und er fing an zu reden.
„Erfroren. Heute Nacht. Es ist schlimm, sehr schlimm.“ Und er schüttelte bedauernd den Kopf.
Dann hoben zwei andere die Bahre hoch, und ich blieb im Schneegewirbel stehen und sah zu, wie sich die kleine Truppe langsam entfernte und zu einem winzigen Punkt wurde.
Und ich verabschiedete mich von der Frau, die ich nicht kannte und sie doch so gut verstand.
Es wurde Abend. Als ich heimkam und meinen Mantel ablegte, duftete es schon aus der Küche. Mums Stuffed Potatoes , ihre Spezialität.
Als ich zum Tisch ging, musterte ich unsere ganze Wohnung, jede Wand einzeln, den Tisch, die Stühle, den alten Kamin. Als ich das warme, dampfende Essen vor mir stehen hatte, nahm ich die Bissen fast andächtig in den Mund, so, als wäre es etwas Heiliges. Mir hatten die Stuffed Potatoes wohl noch nie so gut geschmeckt wie an diesem Abend.
Ich ging früh ins Bett. Und wenn mir jetzt jemand die Wahl zwischen einem Luxus-Partykleid und dieser warmen, beschützenden Daunendecke geben würde, ich wüsste, für was ich mich zu entscheiden hätte.