Was ist neu

Die Verwandlung

Mitglied
Beitritt
11.06.2002
Beiträge
3

Die Verwandlung

Als Detlef K. eines Morgens von den ersten Sonnenstrahlen des neuen Junitages geweckt wurde, sah er sich in eine große periodische Rotationsturbine verwandelt. Vom Anblick seines Körpers leicht verdutzt drehte er sich spontan noch einmal um und versuchte weiter zu schlafen.
„Haha“, dachte er sich mit halb geöffneten Augen, „eine große periodische Rotationsturbine – da bin ich schon mit schlimmeren Sachen aufgewacht.“
Und in der Tat, Detlef K. hatte Glück gehabt, blieb ihm doch an diesem Morgen das schwere Schicksal derjenigen erspart, die sich in eine große Plastiktüte voll von Pokémon-Sammelkarten verwandelt hatten und nur Sekunden später von brutalen und gewaltbereiten Vorschulkindern aufgeschlitzt und gefleddert wurden.
Detlef K. sah solche Sachen nicht so eng. Überhaupt war Detlef K. ein Mensch, der den Dingen sehr gelassen entgegen trat. Das konnte er auch, schließlich war er Gründer und Chef einer erfolgreichen Werbeagentur und somit relativ wohlhabend. Gerade erst gestern hatte er einen 10 Mio. $-Auftrag von einem innovativen Internetunternehmen bekommen, das sich mit der Produktion und dem weltweiten Vertrieb von künstlichen Hüftgelenken beschäftigte. Seine Aufgabe sollte es sein, mit einer groß angelegten Werbeoffensive neue Zielgruppen anzusprechen.
Detlef K.s Leben war ein Leben ohne größere Probleme. Er war es gewohnt, Probleme zu lösen, ihre Lösung zu delegieren, eine Lösung zu erdenken oder das Problem verprügeln zu lassen. „Warum also“, sagte er sich, „sollte ich dieses Problem nicht genauso lösen können?“ Er blickte an seinem glänzenden Aluminiumkörper herab, ließ seinen Blick wandern über die Kerosin-Ansaugvorrichtungen und die digitalen Signalgeber, schaute lange auf den großen Roten Knopf an seinem Bauch beziehungsweise an der Stelle, die er früher als seinen Bauch bezeichnet hätte und beschloss schließlich aufzustehen, um alles nötige in die Wege zu leiten.
Zunächst würde er ein Memo schreiben, um die verschiedene Arbeitsgruppen mit dem Problem vertraut zu machen. Diese würden dann verschiedenen Konzepte vorlegen und neue Arbeitsgruppen bilden, die sich mit den Lösungsansätzen vertraut machen würden um einen neuen, endgültigen Lösungsansatz zu erarbeiten. Dieser Lösungsansatz würde dann einer weiteren Arbeitsgruppe übertragen werden, die die Umsetzung des Konzeptes vorbereitet. Schließlich würde man dann Räucherstäbchen anzünden und unter satanistischen Gesängen müsste einer der Grafiker seine Seele dem Teufel verkaufen. Marketing ist ein hartes Geschäft.
Während er über solcherlei Dinge nachdachte, brachte Detlef K. seinen großen Rotationsturbinenkörper in Bewegung, indem er seine zwei Drucklufttanks abwechselnd komprimierte und wieder entleerte. Obwohl er sich nicht bewusst daran erinnern konnte, jemals zuvor in seinem Leben eine solche Methode angewendet zu haben, um aus dem Bett zu kommen, fiel es ihm überraschend leicht seinen Körper auf diese Weise in eine Pendelbewegung zu versetzen, die ihn immer schneller in Richtung Bettkante bewegte. Nachdem er anfangs nur unterbewusst hin- und herpendelte, realisierte Detlef K. langsam, was er da gerade so machte und wurde leicht euphorisch bei dem Gedanken, sich immerhin in eine solch hochtechnologische Maschine verwandelt zu haben. Er war kein Bleistift geworden, keine Luftpumpe, kein Besenstiel. – Nein! Er, Detlef K., war eine große periodische Rotationsturbine. Kurze Zeit sann er darüber nach, wie sich das auf seinem Briefkopf machen würde – „Dr. Detlef K. – Spezialist für vertikales Marketing und große periodische Rotationsturbine“, als ein plötzlicher, heftiger Ruck durch seinen Körper fuhr. Einen Augenblick hatte er sich nicht mehr auf das Pendeln konzentriert und dabei den Moment des finalen Aus-dem-Bett-Kippens verpasst – ein fataler Fehler, wie sich kurze Zeit später herausstellte. In einer großen schleudernden Bewegung flog er in einem uneleganten Bogen über die Bettkante hinaus und auf den harten Marmorboden, der unter dem Gewicht von drei Tonnen Hochtechnologie nachgab und Detlef K. den Weg in das untere Stockwerk unter lautem Getöse öffnete. Hier landete er auf dem gerade von seiner Haushälterin frisch gedeckten Frühstückstisch, der ebenfalls nachgab und nur ein weiteres Hindernis auf Detlef K.s Weg zum Erdboden darstellte, wenn auch die große Schüssel Haferbrei, die er mitriss, sicherlich aufprallhemmende Wirkung gehabt hat.
So lag Detkef K. nun in der Küche, begraben von großen Brocken italienischen Marmors, deutscher Eiche, einem Berg Haferbrei und diversen anderen Nahrungsmitteln und konnte nur noch kurz darüber nachsinnen, ob seine Hausratsversicherung in solchen Fällen greift, bevor er sein Bewusstsein verlor. Große periodische Rotationsturbinen sind komplexe Geräte und nicht für alle Belastungen geeignet, deshalb waren sie mit einer Abschaltautomatik versehen, die immer dann eingriff, wenn bestimmte Prozesse in Gang gesetzt wurden, die von der integrierten Rotationsturbinenlogik nicht mehr kontrolliert werden können. Durch einen italienischen Marmorfußboden in eine Schüssel Haferbrei zu fallen, war einer dieser Prozesse, und auch wenn der leitende Entwickler kein Inder sondern nur ein schlechter Schwabe gewesen war, hatte die Turbine die Situation richtig erkannt und abgeschaltet. Gerade rechtzeitig, bevor besagte Prozesse weitere Prozesse in Gang setzen konnten, die über andere Prozesse, die wiederum Prozesse kennen, die die Geschichte von den unmittelbar beteiligten Prozessen erzählt bekommen hatten, Reaktionen hervorriefen, die in den Augen Detlef K.s zumindest lästig, wenn nicht gar unerwünscht gewesen wären.
Einer der gemeineren unter den ausgelösten Prozessen hatte die Sache mit der Decke wohl Frau Gorbatschowa gesteckt, Detlef K.s russischer Haushälterin, die nun mit furchteinflößendem Gesichtsausdruck in die Küche stürzte und angesichts der katastrophalen Situation, die dort vorherrschte, erst einmal laut schrie: „Oh nein, Detlef K. hat sich in eine große periodische Rotationsturbine verwandelt und ist beim Aufstehen durch die Decke gebrochen!“ Noch ein wenig benommen von den aktuellen Entwicklungen und vor allem dem Gedanken daran, dass sie es wohl sein wird, die das Chaos wird aufräumen müssen, stand Frau Gorbatschowa sprachlos vor dem großen Haufen Schutt mit dem sich in eine große periodische Rotationsturbine verwandelten Detlef K. in der Mitte, als plötzlich eine Klingeln an der Haustür die gerade erst wieder eingekehrte Stille zerriss.
Vor der Tür stand ein Mann in einer grauen Uniform, der sich als Werner W. vom Ministerium für die Überwachung von Rotationsturbinen vorstellte. Ein noch gemeinerer der ausgelösten Prozesse hatte sich nicht an die Abmachung der anderen, netteren Prozesse gehalten, die meinten, heute mal nicht soviel Stress machen zu wollen, und hatte stattdessen den Inspektor informiert. Dieser baute sich nun in einer typisch autoritären Art vor Frau Gorbatschowa auf und belehrte sie darüber, dass in Deutschland der Besitz und Betrieb von großen periodischen Rotationsturbinen so eine Sache sei. Die Sache sei nämlich die, dass es verdammt noch mal verboten sei große periodische Rotationsturbinen überhaupt auch nur zu bauen, geschweige denn irgendetwas anderes mit ihnen zu machen. Von Amts wegen dürfe er sie jetzt erschießen, sagte der Inspektor, zumindest jedenfalls ein bisschen foltern, aber da er verstehen würde unter welchen sozialen und wirtschaftlichen Umständen Menschen leben, die gezwungen sind, heimlich große periodische Rotationsturbinen zu betreiben, und er Mitleid habe, werde er von einer Strafe absehen. Die Maschine müsse aber dennoch beseitigt werden, dass müsse er sicherstellen.
Das wiederum war kein allzu großes Problem für Frau Gorbatschowa, deren Neffe in Russland eine illegale nukleare Wiederaufbereitungsanlage betrieb und gerade vorgestern in einem Brief geschrieben hatte, wie hart und entbehrungsreich das Leben als Besitzer einer illegalen nuklearen Wiederaufbereitungsanlage sei, wenn man keinen große periodische Rotationsturbine zur Hand hat.
Detlef K. wurde noch am gleichen Tag von der Resten der Haferflocken gereinigt und mit einem großen amerikanischen Logistikunternehmen bis 10:30 Uhr des nächsten Tages direkt an die Grenze von Nowosibirsk gebracht, wo er bis heute erstklassige Arbeit leistet und abgesehen von ein paar linksalternativen Rowdies, die sich ihm ab und an in die Turbinenblätter werfen, ein ruhiges Leben im StandBy-Modus führt.

 

Ich mag es eigentlich gar nicht , wenn man großartige Texte durch den Kakao und müsste dir eigentlich sauer sein :mad:
aber in diesem Fall mache ich eine Ausnahme , weil es dir gelungen ist den armen Kafka wirklich witzig und gut zu parodieren:thumbsup:
Ehrlich, wenn dann so. Ich glaube du hast sogar das Schema welches Kafka benutzt nachvollzogen, zumindest bis zu einem gewissen Punkt.
Nun gut an einigen Stellen ist es ein wenig albern (Pokemon) aber das Gesammtbild stimmt. :thumbsup:

 

Echt klasse gelungen, die Parodie *grins* auf so eine Idee muss man erstmal kommen :)
...mal eine neugierige Frage am Rade: warum eigentlich ausgerechnet eine Rotationsturbine? *gg*

 

sorry, der Fehlerteufel hat sich bei mir eingeschlichen - muss natürlich "...eine neugierige Frage am RaNde" heißen ;-)

 

Danke für das Lob!

Tja, die Rotationsturbine... Gute Frage eigentlich, ich denke, dass entspricht einfach meinem Humor. Die Geschichte ist jetzt etwas eineinhalb Jahre alt, und damals habe ich einfach etwas gesucht, was in der Situation besonders kontrastreich wirkt. Eine Verwandlung in ein Tier ist zum einen schon relativ oft benutzt worden, zum anderen ist sie das Thema der zu Grunde liegenden Geschichte. Etwas sehr technisches schien mir in dem Moment die beste Idee zu sein, um ein möglichst große parodistische Wirkung zu erzielen. Allerdings bin ich gar nicht mehr sicher, ob es wirklich eine Rotationsturbine gibt, geschweige denn eine periodische. Ich glaube, ich habe damals einfach nur ein paar technische Wörter aneinander gereiht.
Im Nachhinein habe ich mal darüber nachgedacht, ob ich nicht besser einen Kühlschrank hätte nehmen sollen. Die Situation wäre wahrscheinlich genauso bizarr gewesen, der Humor würde aber vielleicht eine Spur eleganter wirken, zumal man sich einen Kühlschrank auch besser vorstellen kann.

 

Ganz im gegenteil Stucki, die Turbine ist schon gut so, würdest du einen kühlschrank nehmen könnte man sich was drunter vorstellen, schon richtig, dadurch würde es aber gewöhnlich und albern wirken, durch deine Turbine schafst du eine wunderbar skuriele Atmosfere.

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom