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Die Verwandlung 2.0
„Let the bodies hit the floor! Let the bodies hit the floor!” - Schriller Gesang und harte Gitarrenriffs reißen Oliver Asmas aus seinen Alpträumen. Er schüttelt den Kopf. Es knackt dabei ungewohnt laut. Dann greift er blind nach seinem Handy, um den Alarm auszuschalten; was nicht funktioniert. Trotz wiederholter Versuche, bekommt er das Handy nicht in die Finger; als ob er keine hätte. Der Alarm plärrt weiter. Bald wird Olivers Mutter ebenfalls plärren: „Mach das Ding endlich aus!“. Wie fast jeden Tag.
Nach dem fünften Versuch schlägt Oliver entnervt auf das Handy ein, bis es schließlich auf den Boden fällt und still ist.
„Man, man, man, was war das wieder für ein kranker Scheiß?!“, kommentiert er seine Träume, noch halb darin versunken. Zulange hatte er sich gestern auf Gore-Seiten IS-Enthauptungen et cetera angeschaut; danach zulange in Call of Duty Muselmänner erschossen.
Mental bereitet er sich darauf vor, gleich aufstehen zu müssen. Fast die gesamte Arbeitswoche liegt noch vor ihm. Und bis zum nahenden Ende des Monats muss er dringend was verkaufen, sonst hat sich das auch wieder mit dem Job im Callcenter - wieder arbeitslos. Dann mit Statuts: Unvermittelbar. Er hört schon seinen Chef: „Oliver da muss dringend was passieren, sonst …“. Bei seinem Arbeitsbeginn zwei Monate zuvor war alles noch big family und alles kein Problem. Flache Hierarchien und so weiter.
„Scheiße.“
In letzter Zeit hat er nach dem Aufwachen deswegen ein flaues Gefühl im Bauch. Druck. Auch heute. Bloß nicht krank werden. Schnell was einwerfen. Oder?
Denn … irgendetwas ist anders; Oliver kann nicht genau ausmachen was. Als ob sein Gedärm in den ganzen Körper ausstrahlt. Ihm ist nicht wirklich schlecht wie sonst. Er hat eher das Gefühl hungrig zu sein. Sehr hungrig. Gierig. Das ist neu für ihn. Morgens kriegt er normalerweise nichts runter außer Kaffee und Kippe. Er muss an ein schönes Stück Fleisch denken. Roh.
Oliver will aufstehen, aber etwas ist da in seinem Blickfeld. Zwei schwarze Striche. Gebogen und scharf, fast wie Sicheln.
„Vielleicht hab ich was im Auge.“, denkt er und will sich die Augen reiben, „Ach herrje!“, noch mehr schwarze Striche; lang und hart. Oliver schaut an sich runter und muss spontan an ein Fischgerippe denken. Links und rechts der Bettdecke treten schwarze Insektenbeine hervor, die bogenförmig nach oben zeigen.
„Sind das meine?“
Er bewegt seine Beine. Alle. Wie abgesprochen bewegt sich eines nach dem anderen. Es sieht aus wie eine Laola.
„Wie viele das wohl sind?“, fragt er sich. Viele.
Dann versucht er aus dem Bett zu kommen. Noch ein wenig ungewohnt das Ganze. Fast schon unangenehm, so hilflos auf dem Rücken. Er windet sich. So lange bis er endlich aus dem Bett fällt und dabei auf den Beinen landet. Wieder schaut er an sich runter. Sein langer mit Chitin bewährter Körper glänzt leicht in den ersten Sonnenstrahlen. Sieht stählern aus.
Oliver will lachen, aber er gibt nur Schnalz- und Knacklaute von sich.
„Sick!“
Es klopft an seiner Zimmertür. Toktoktok. Oliver krabbelt reflexartig und in einem affenzahn an die Wand; in die dunkle Nische zwischen Decke und Tür.
„Cool!“
„Olivär! Olivär!“, toktoktok, „Mach dich endlich fertig. Ich hör doch das du wach bist.“
Er spürt, wie sich sein ganzer Körper anspannt; zum Sprung bereit macht. Er reibt lautlos seine Scheren aneinander. Automatisch. Nochmal wetzen.
Er fühlt die Wärme hinter der Tür. Und die Schritte, die sich wieder entfernen. Einen Augenblick verweilt er noch in der Position, bevor er zurück auf den Boden krabbelt. Er schaut an die Wände, flitzt dann so schnell es geht an ihnen entlang. Dreimal. Viermal. Zum Abschluss noch einmal über die Decke.
„Ganz praktisch.“
Der Drang nach Fleisch meldet sich zurück. Extrem.
„Wie soll ich nur ungesehen in die Küche kommen?“, geht es Oliver durch den Kopf, „Und erst vor die Haustür?“, als er die Sache weiterdenkt, „Ich habe ja gar nix passendes zum Anziehen!“
Das Problem verschiebt er. Er muss jetzt fressen! Egal was; Hauptsache Fleisch. Hauptsache viel.
Vorsichtig zieht er an der Zimmertür. Auf dem schmutzigen Flokati im Flur liegt die kleine Muschi. Sie wartet schon auf ihn und die tägliche Streicheleinheit. Sie hebt ihren Kopf und schaut Oliver an. Grade will sie anfangen zu fauchen und Reis aus zu nehmen, als Oliver vorschnellt und zugreift. Seine Giftklauen bohren sich in das Fleisch und er spürt, dass er etwas Bitteres hineinpumpt. Er muss gar nichts weiter machen. Muschi hört auf sich zu wehren, hängt wie tot in seinem gnadenlosen Griff. Oliver zieht sich ins Zimmer zurück, schließt die Tür. Er huscht unters Bett, beginnt zu kauen. Schmatzgeräusche. Muschis Herz schlägt noch. Er schmeckt das Blut. Reinster Nektar. Mehr!
Von Muschi ist nur noch ein bisschen Fell übrig. Nach seinem Mahl überkommen ihn Ekel und Schuldgefühle.
„Was mach ich bloß?“
Er spürt, dass sein Körper mehr Nahrung braucht. Es verlangt ihm danach. Immer mehr!
„Obwohl … eigentlich liegt es doch nur in meiner Natur. Das macht mich aus.“
Und noch ein Verlangen überkommt ihn. Nicht sich etwas einzuverleiben. Im Gegenteil. Etwas abzugeben. Aber dafür benötigt er ein passendes Weibchen. Dazu müssen alle Nebenbuhler eliminiert werden.
„Puh, das wird schwierig.“
Oliver hat kaum weibliche Bekanntschaften. Facebook, Twitter, ja. Aber in echt? Die zwei, drei Male gingen nie über einen Cocktail oder einen Galao hinaus und endeten in nächtlichen Masturbationsorgien vorm PC.
„Nimm sie dir einfach!“, sagen ihm seine Nervenbahnen. Seine Fühler vibrieren und schlagen nach allen Seiten aus, „Du bist ein Jäger, kein Sammler. Nimm dir was du brauchst. Das macht dich zu dem was du bist. Nur das zählt. Nur du zählst.“
Sein Handy klingelt. Doch nicht kaputt. Oliver erschrickt und geht in Abwehrstellung. Sein Chef.
„Mist! Schon so spät?“
Er versucht den Anruf anzunehmen, aber der Touchscreen reagiert nicht auf seine Insektenglieder. Er wird hippelig. Schaut sich um, sieht den Bleistift mit dem Radiergummi. Vorsichtig nimmt er ihn zwischen die Hauer und drückt das Gummi auf den grünen Lautsprecher.
„Hallo? Oliver? … Oliver! Du wirst seit über zehn Minuten an deinem Arbeitsplatz erwartet. Oliver? … Also so geht es einfach nicht weiter. Das ist doch keine Basis für eine Zusammenarbeit! Ich habe wirklich sehr viel Geduld gehabt. Tut mir leid Oliver, aber ich werde auf jemand anderen aus dem Pool zurückgreifen müssen. Alles Gute für Deinen weiteren Lebensweg.“
Aufgelegt. Oliver schaut auf das Handy. Er spricht die Worte leise nach: „… auf jemand anderen aus dem Pool zurückgreifen.“
„Pah!“, entfährt es ihm laut, „Jetzt kommt der nächste Idiot von der Zeitarbeit.“ Wie Blitze durchzuckt es seinen Kopf: Austauschbar. Jeder. Alles. Immer.
Er will das Handy zerbeißen. Hat es schon zwischen seinen Scheren, hält dann aber inne; denkt sich, es könnte noch nützlich sein. Aber ein Neues hätte er schon gerne. Sein jetziges ist bereits ein halbes Jahr alt. Das neue Modell schon längst auf dem Markt.
Dann fühlt er sie: Wärme; rein körperliche. Er muss sich gar nicht rumdrehen, um seine Mutter in der Tür stehen zu sehen. Ein Schrei. Sie rennt weg. Oliver verfolgt sie. Schnell; bevor die Chance vertan ist. Jetzt zuschlagen. Er ortet ihre Spur. Richtung Küche.
Sie hat sich in eine Ecke verkrochen. Sitzt dort zusammengekauert mit einem Messer in der Hand. Oliver mäandriert auf sie zu.
„W w was bist du?“, jammert sie.
„Wa ich bn?“, seine Aussprache wird undeutlich. Sein Kiefer mahlt bereits. Seine Scheren reiben aneinander. Zersetzungsflüssigkeit läuft im aus dem Maul.
„Ich bn dein Kin.“, er will den Speichel runterschlucken. Verschluckt stattdessen Buchstaben, „Bn ein Produkt.“
Oliver kommt seiner Mutter immer näher. Sie schreit, sticht mit dem Küchenmesser auf ihn ein. Die Klinge bricht an seinem Panzer ab. Billigware vom Netto.
Er haut seiner Mutter die Scheren in den Oberschenkel. Wieder Bitterkeit im Mund. Sie hört auf zu zappeln. Oliver kommt in einen Konflikt. Fressen oder Befruchten. Er will beides … aber er tut es nicht. Es geht nicht. Ein letzter Rest Menschlichkeit vielleicht. Darüber macht er sich keine Gedanken. Aber was jetzt? Weitersuchen. Nein, jagen! Du kannst sie alle haben.
Oliver bewegt sich Richtung Haustür. Er dreht sich nicht mehr um. Warum auch.
Ihm fällt die Kleidungsproblematik wieder ein.
„Drauf geschissen!“, seine No name Klamotten sind nur was für Loser.
Er macht die Tür auf. Die Sonne strahlt ihm mitten ins Gesicht, blendet ihn. Er kann kaum den kleinen Vorgarten überblicken. Unangenehm. Unsicherheit. Verloren. Schnell irgendwo drunter kriechen. Neu orientieren.
Oliver hält still. Kauert im Schatten. Überlegt; vegetativ. Wie geht es weiter? Denk nicht an morgen. Lebe den Tag; mach ihn zu deinem Tag.
Sein Verlangen nach Fleisch wird er durch die Schwachen stillen. Die interessieren sowieso keinen.
Und wen nimmt er sich zur Weitergabe seiner Erbmasse? Jobs sei Dank hat er sein Handy mitgenommen. Tinder hat ihm gestern sieben potentielle Weibchen präsentiert.
„Ich bin raus.“, liest er auf dem großen Werbeplakat für Outdoorbekleidung, welches auf der anderen Straßenseite steht.
„Schon mein ganzes Leben.“, denkt er.