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Die Verteidigungsrede des Wolfes
Die Verteidigungsrede des Wolfes
Ich erinnere mich noch sehr genau an den Tag, an dem die Dinge geschahen, für die ich mich heute vor Ihnen verantworten muss. Die Anklage stützt sich auf das Gestammel eines kleinen Mädchens, das kaum in der Lage ist, den eigenen Namen fehlerfrei zu schreiben und auf das Geschwätz einer alten Frau, die seit Jahren allein im Wald leben muss und dem Wahnsinn näher ist als der geistigen Klarheit.
Was für Ankläger, die mich durch Lügen und üble Halbwahrheiten vor die Schranken dieses Gerichtes gebracht haben!
Was aber geschah wirklich? Ich will es Ihnen freimütig berichten.
An jenem Tag, es war November und der Wind fuhr bereits mit eisiger Klaue durch den entblätterten Wald, traf ich auf einer Lichtung jenes junge Ding dort, das nun behauptet, ich hätte mich an sie herangeschlichen, sie mit heuchlerischer Stimme umschmeichelt, um so den Weg zu ihrer Großmutter zu erfahren. Nichts ist so unwahr wie dies!
Vielmehr hatte ich Mitleid mit ihr, als ich sah, wie sie frierend und voller Furcht durch den dunklen Wald irrte. Nie wäre es zu diesen unglücklichen Geschehnissen gekommen, hätte ihre Mutter sie nicht zu so später Stunde in den Wald geschickt, um Besorgungen zu erledigen, die auch auf den nächsten Morgen hätten verschoben werden können.
Ich frage Sie, gehört nicht die Mutter mit auf die Anklagebank, die Mutter, die ihr eigenes, hilfloses Kind zu so später Stunde allein in den tiefen, finsteren Wald schickte, nur um ihre Ruhe zu haben?
Tränen hatte ich in den Augen, jawohl, Tränen, als ich sie sah. Fern von zu Hause, ängstlich vor jedem Geräusch zusammenzuckend, schien sie den rechten Weg schon lange verloren zu haben. Ich dachte augenblicklich an meine eigene, unglückliche Kindheit, und das Herz blutete mir. Sprich sie an, dachte ich bei mir, obwohl ich doch sonst jegliche menschliche Nähe verabscheue, sprich sie an und hilf ihr, damit sie wieder heil aus dem Wald herausfinden kann.
Doch kaum hatte ich mich gezeigt, da brabbelte die Kleine, froh darüber, jemanden getroffen zu haben, auch schon los. Erzählte mir von ihrer Großmutter und dem, was ihre Mutter ihr mitgegeben habe, was sie heute schon alles gegessen und getrunken habe, sprach von ihren Spielen mit den Nachbarskindern und dass sie den Hans ganz toll und den Karl besonders blöd finde, redete und redete auf mich ein, ohne auch nur einmal Luft zu holen, als habe sie sechs Wochen kein Wort sprechen dürfen.
Ich, der sonst nie mit Menschen ein Wort wechselt, musste ihren stumpfsinnigen Wortschwall erdulden, bis es mir ein Graus wurde und ich mir die Ohren zu hielt.
Sie aber plapperte munter auf mich ein, bis ich nur noch einen einzigen, riesigen Mund vor mir sah, der sich unaufhörlich bewegte.
Wen wundert es, das ich mir keinen anderen Rat mehr wusste, als die Beine in die Hand zu nehmen und eiligst davonzulaufen.
Ich rannte und rannte, ohne auf den Weg zu achten oder mich umzuschauen. Nur nicht wieder diesem Kind in die Hände fallen, hoffte ich! Und plötzlich stand dieses Haus vor mir.
Es war völlig verfallen, nur noch eine Ruine mit undichtem Dach und eingefallenen Mauern. Hätte ich nur geahnt, dass ausgerechnet hier die Großmutter der Kleinen lebte, wäre ich gewiss weiter gelaufen. Doch ich hielt das Haus für unbewohnt und wollte mich nur ein wenig ausruhen.
Zunächst bemerkte ich die alte Frau auch gar nicht, die völlig abgezehrt in ihrem Bett lag. Sie aber sprach mich sofort an, unsicher zunächst und mit schwacher Stimme.
Endlich besuche sie jemand, so lange sei sie nun schon krank an das Bett gefesselt und fast immer allein. Und dann erzählte sie mir ihre ganze Leidensgeschichte. Sprach von dem viel zu frühen Tod ihres geliebten Mannes und der herrischen Tochter, die sie in dieser verdreckten Hütte untergebracht habe, als sie im Haushalt nicht mehr nützlich sein konnte. Nur manchmal schaue ihre Enkelin vorbei, ein liebes Kind, das gewiss, aber eben doch nur ein Kind, das immer spielen wolle und mit dem man kein vernünftiges Wort wechseln könne.
Das Leben sei ihr mit der Zeit einfach unerträglich geworden, stöhnte sie, lieber würde sie dem heute als morgen ein Ende setzen. Ich litt mit der armen Frau, doch wusste ich nicht, wie gerade ich ihr helfen sollte. Ich versprach unter Tränen, bei ihr zu bleiben und sie bis an ihr Lebensende zu pflegen, sie aber wollte von alledem nichts wissen. Alt sei sie, des Lebens überdrüssig, lieber wolle sie in meinem Magen enden als so weiter zu leben.
Lange sprachen wir noch miteinander, doch sie ließ sich von ihrem einmal gefassten Beschluss nicht mehr abbringen. So musste ich schließlich trotz meines heftigsten Widerstandes nachgeben. Um ihren Wunsch zu erfüllen und ihr keine weiteren Schmerzen mehr zuzufügen, verschlang ich sie mit einem Biss.
Glauben Sie mir: wenn ich wirklich so hungrig gewesen wäre, wie die Anklage behauptet, hätte ich bestimmt die nächste Schafweide gesucht und mir dort ein junges und saftiges Stück Fleisch geholt, weich und voller Geschmack, statt mich an dieser alten Frau zu vergreifen.
Kaum hatte ich die Großmutter gefressen, musste ich mich in ihr Bett legen, denn nicht nur ihre Geschichte, auch sie selber lag mir schwer im Magen. Leise weinte ich um die arme Frau, die nun hoffentlich ihren Seelenfrieden gefunden hatte, als unvermittelt das Mädchen in der Türe stand. Sie kennen ihre Version unseres angeblichen Gespräches und wissen, dass diese nur schwer zu glauben ist. Tatsächlich hat sie mich natürlich nicht für ihre Großmutter gehalten, denn selbst ein Blinder könnte uns gut voneinander unterscheiden.
So schonend, wie mir dies in meiner unglücklichen Lage möglich war, versuchte ich ihr das plötzliche Ableben ihrer Großmutter zu erklären. Sie aber hörte mir gar nicht zu, sondern rief nur, ihre Oma wolle bestimmt Verstecken mit ihr spielen. Sie begann, im ganzen Haus nach der alten Frau zu suchen, schaute unter das Bett und in den Kleiderschrank, kroch in jeden Winkel, bis ich die Geduld verlor und verärgert rief: "Da ist sie nicht, du dummes Ding, sie ist in meinem Bauch!"
Das hätte ich lieber nicht sagen sollen.
Sofort stürmte sie auf mich zu, riss mein Maul weit auseinander und schrie in meinen Rachen: "Omi, bist du da? Komm heraus, ich habe dich gefunden. Jetzt musst du mich suchen!"
Natürlich konnte die Großmutter in meinem Bauch keine Antwort mehr geben, doch das Mädchen ließ keine Ruhe und rief immerzu: "Komm heraus, ich habe dich gesehen."
Als jedoch nichts geschah, sah sie mich wütend an und stampfte mit dem Fuß auf den Boden. "Du hast mich angelogen, da ist sie ja gar nicht", schrie sie.
So ruhig wie möglich erklärte ich ihr, dass ihre Großmutter in dem jetzigen Zustand weder antworten noch zum Spielen herauskommen könne, doch sie war wie von Sinnen und hörte mir gar nicht zu.
Sie wolle auch dorthin, wo ihre Oma sei, und ich müsse sie sofort zu ihr lassen. Sie schlug mit ihren kleinen Fäusten wie wild auf mich ein, zerrte an meinem Schwanz und trat nach mir, bis mir vor Schmerzen die Tränen in die Augen schossen.
Da ich mich der kleinen Göre einfach nicht länger erwehren konnte, öffnete ich schließlich widerwillig mein Maul und das Mädchen sprang mit einem Satz hinein.
So landete dieses arme, unvernünftige Kind zu meinem Leidwesen auch noch in meinem Magen.
Als ich begriff, was geschehen war, erschrak ich furchtbar und versuchte sofort, sie wieder heraus zu würgen. Doch obwohl ich dabei fast erstickte, wollte mir dies nicht gelingen. Ich war verzweifelt, weinte und schrie, weil ich nun eine ganze Familie ausgelöscht hatte, ohne dies zu wollen.
Sie können mich gerne für meine Taten verurteilen, wenn ich wirklich Schuld auf mich geladen habe, aber sagen Sie mir:
Was hätte ich denn anderes tun sollen?