Die verspiegelte Glastür
Jens holte noch einmal tief Luft, schaute sich ein letztes Mal um und öffnete dann die verspiegelte Glastür. Unvorstellbar, wenn ihn dabei jemand beobachten würde, wie er diesen Laden betrat, vor dem Mütter mit Kindern die Straßenseite wechselten, wenn sie es nicht vermeiden konnten, daran vorbeizugehen.
Wie oft war er an diesem Laden schon vorbeigekommen? Er lag ja an seinem Schulweg, seit seine Eltern in die große Stadt gezogen waren, vor ein paar Jahren. Zunächst hatte er ihm kaum Beachtung geschenkt, dem Laden mit den verklebten Schaufensterscheiben, der knalligen Neonreklame über dem Portal. Sicher, die Jungen hatten getuschelt, untereinander, von „verbotenen Dingen“, die da drin vorgehen sollten, doch genaues wusste man nicht, nur Gerüchte von älteren, die angeblich schon dort gewesen waren. Aber die konnte man natürlich nicht so direkt fragen, war auf Wortfetzen angewiesen, die man vielleicht einmal in der Pause aufschnappte.
„Eintritt unter 18 Jahren verboten“ stand an der verspiegelten Glastür. Mit der Zeit wuchs die Neugier, wurde immer unerträglicher. Das Wenige, das er wusste, vermischte sich mit allerhand Phantasien, besonders nachts, wenn er alleine in seinem Zimmer lag, allein mit seinen Gedanken, den bislang unerfüllten Träumen, die sich bisweilen fast gewaltsam Entladung in die Bettlaken suchten. Er hatte gelernt, vorsichtig zu sein, keine Spuren zu hinterlassen, seit die Mutter ihn einmal zur Rede gestellt hatte, ihn gezwungen hatte, die Laken abzuzuiehen und die noch feuchten Stellen auszuwaschen, mit der Hand. Seine Schwester hatte dabei zugesehen mit verächtlichem Blick, der sich tief in seine Seele gebrannt hatte. Nun verwendete er Papiertaschentücher und achtete peinlich genau darauf, sie in der Toilette zu entsorgen, noch nachts, vor dem erleichterten Einschlafen. Doch die Befriedigung war nur von kurzer Dauer, die Neugier kehrte wieder, wurde immer bestimmter.
Vor zwei Tagen war er achzehn geworden. Das Geld, das er zu seinem Geburtstag bekommen hatte, sollte wohl reichen – zumindest hoffte er das, als sich die verspiegelte Glastüre hinter ihm schloss. Was er erwartet hatte, wusste er eigentlich nicht so genau, doch war der erste Eindruck eher ernüchternd. Ein Vorraum, in gedämpftes Licht getaucht, dunkle Wände, in der Ecke neben dem Eingang ein Tresen. Dahinter saß ein Mann mittleren Alters, blickte kurz auf, bevor er sich wieder der Lektüre einer Zeitung widmete. Im Hintergrund konnte er einige im Halbrund angeordnete Türen erkennen, davor standen einige Männer, einer rauchte. Sie vermieden es, einander anzusehen, miteinander zu sprechen, die Blicke ins Leere gerichtet. Manchmal öffnete sich eine der Türen. Jens konnte sehen, dass sich dahinter kleine Kojen befanden, die gerade einem Mann Platz boten. Der ganze Raum war erfüllt mit einem undefinierbaren Geruch nach Luftverbesserer, der etwas anderes überdeckte, einen herben, süßlichen Geruch, der ihn an irgend etwas erinnerte. Aus Lautsprechern dröhnte Musik, langsame wiegende Rhythmen.
Jens blickte sich um. Niemand schien ihn zu beachten. An einer Wand fand er einen Schaukasten mit Bildern spärlich bekleideter junger Frauen, fein säuberlich numeriert. Über den Türen zeigte eine Leuchtanzeige eine Nummer an, die alle paar Minuten wechselte. Jens begann zu begreifen. Er suchte sich also eine freie Kabine, betrat sie, schloss die Tür. An der Rückwand der Kabine befand sich eine Art Fenster, mit einer Rollo verdeckt. „Einwurf ein Euro“ stand über einem rot beleuchteten Schlitz zu lesen. Verdammt, er hatte nur Scheine. Also verließ er die Kabine wieder, atmete tief durch. Es beachtete ihn noch immer niemand. Die Neugier hatte in ihm eine seltsame Erregung entstehen lassen, die seine Angst mehr und mehr überdeckte. Er blickte sich um und sah, wie ein Mann an den Tresen trat, etwas in seine Manteltasche steckte und kurz darauf in eine Kabine trat. „Aha, so einfach ist das“, dachte er und näherte sich ebenfalls dem Tresen, legte dem zeitunglesenden Mann einen 10-Euro-Schein vor die Nase. „Entschuldigung, ich, äh, könnten Sie ...“ stammelte er. Der blickte nicht einmal auf, nahm den Schein, legte ihm einen Stoß Münzen hin und las ungerührt seine Zeitung weiter. Jens nahm also die Münzen in seine schweißnasse Hand und ging hastig wieder in Richtung der Kabine, aus der er gekommen war.
Verdammt, besetzt. Die Erregung in ihm wächst, als er weiterhastet, endlich eine freie Kabine findet. „Nicht verspiegelt“ steht an der Tür – was sollte das nun wieder heißen? Egal, hinein, er muss es jetzt wissen. Mit zittriger Hand wirft er eine Münze in den Schlitz, und die Rollo hebt sich.
Sie gibt den Blick frei auf eine kleine Bühne, deren mittlerer Teil sich wie ein Präsentierteller dreht. Auf einem Handtuch kniet eine nackte Frau, die ihre Hüften im Takt der Musik wiegt. Sie hat rotes Haar, grüne Augen, kleine Brüste, lange schlanke Beine und trägt schwarze Schuhe mit hohen Absätzen. Doch all das nimmt Jens nicht wahr, sein Blick ist magisch angezogen vom Anblick ihrer rasierten Scham, die sie ganz frei und ungeniert zur Schau stellt, mit gespreizten Beinen kniend. Ganz unwillkürlich öffnet Jens seine Hose, um der Erregung Platz zu schaffen, die sich immer fordernder in den Vordergrund drängt. Er kann es gar nicht erwarten, bis sich die Frau wieder einmal herumgedreht hat und er einen Blick erheischen kann auf das süße Geheimnis, das er nun zum ersten Mal in Natur betrachten kann und nicht bloß in den Pornomagazinen, die die Jungen auf der Schultoilette heimlich anschauen und tauschen. Wie von selbst beginnt seine Hand die Bewegungen auszuführen, die ihm schon so oft das prickelnde Gefühl, aber auch die Schelte seiner Mutter eingebracht hatten.
Die Bewegungen der Frau werden immer lasziver, ihre Hände streichen über ihren flachen Bauch, ihre Oberschenkel, in gefährliche Nähe ihres Schoßes, auf dem sein Blick wie magisch gebannt ruht. Jens erregte Betrachtung wird jäh unterbrochen von der Rollo, die sich unerbittlich wieder vor das Fenster schiebt. Aus den Augenwinkeln kann er noch wahrnehmen, dass ihn die Frau angelächelt hat. Kann sie ihn am Ende auch sehen? „Nicht verspiegelt“, schießt ihm wieder durch den Kopf. Was, wenn sie ihn gar erkennt? Unwahrscheinlich, denkt er, in der Großstadt, wir sind nicht mehr in der Kleinstadt meiner Kindheit. Mit zittriger Hand wirft er wieder eine Münze ein. Die Frau ist mittlerweile aufgestanden, stolziert in ihren hohen Schuhen auf der Drehbühne, völlig nackt, als ob es das selbstverständlichste der Welt wäre. Immer wieder richtet sich ihr Blick kurz auf sein Fenster, ein geheimmisvolles, wissendes Lächeln umspielt ihre Lippen. Jens masturbiert immer heftiger, ohne dass er sich dessen bewusst ist. Seine Augen verfolgen diese Frau, überwältigt von der erstmaligen Konfrontation mit weiblicher Nacktheit. Fast mechanisch wirft er die dritte und vierte Münze in den unersättlichen Schlitz, denn die Frau ist nun von dem drehenden Podest heruntergestiegen und wandert langsam von einem Fenster zum nächsten, bleibt vor jedem eine Weile stehen, ihre Scham genau in Augenhöhe des Betrachters. Da, die fünfte Münze, sie ist schon beim Nachbarfenster angelangt, Jens kann nicht mehr an sich halten, er atmet schwer, nur noch Sekunden ...
Die Nummer auf der Leuchtanzeige wechselte, die Frau packte ihr Handtuch und verließ die Bühne, bevor sie sein Fenster erreicht hatte. Ein anderes Mädchen kam herein, dunkelhaarig, in einem weißen Stringtanga. Doch Jens war enttäuscht, jäh war der Bann gebrochen, er stand da, seine Hand klebrig, das Objekt seiner Begierde war weg. Er packte sich also wieder zusammen – zum Glück hatte er an die Papiertaschentücher gedacht, er musste vorsichtig sein. Er verließ die Kabine und machte sich auf den Heimweg. Er hatte Glück – keiner war auf der Straße, als er die verspiegelte Glastür aufstieß und hinaustrat in den hellen Tag.
Erst in der Nacht, vor dem Einschlafen, als er allein war mit sich, kamen die Bilder wieder hoch, und noch einmal verschaffte er sich Erleichterung, peinlich darauf achtend, keine Spuren zu hinterlassen. Zwei Papiertaschentücher benötigte er dazu, die gewaltige Entladung aufzufangen, die das Bild der nackten rothaarigen Frau ihm verschaffte, bevor er erschöpft einschlief.
[Beitrag editiert von: Strider am 07.02.2002 um 21:11]