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Die Verschwörung
Es war bereits weit nach Mitternacht, als die letzten Gäste die Dorfschänke verließen. In diesen harten Zeiten verbrachten die wenigen Männer im Ort oft Stunden in der Wirtsstube, tauschten Neuigkeiten aus und jammerten über ihr trauriges Dasein. Vierzehn lange Jahre wurde das Heilige Römische Reich Deutscher Nation schon von Glaubenskriegen gebeutelt und ein Ende war nicht in Sicht. Überall entbrannten Kämpfe zwischen den katholischen und den protestantischen Ständen.
Auch jetzt im November 1632 wimmelte es in der Gegend von Lützen, einem kleinen Ort südwestlich von Leipzig, von Soldaten beider Gegner.
Gerade heute Abend hatte ein alter Mann aus dem Dorf von einem Lager vor der Siedlung erzählt, wo sich die schwedischen Truppen gesammelt hatten. Kasper, der Sohn des Wirts, hörte den Erzählungen aufmerksam zu. Obwohl bei gepantschtem Wein und verdünntem Bier manches davon erfunden war, steckte auch sehr viel Wahrheit in den Berichten.
Kasper half seinem Vater noch beim Aufräumen der Wirtsstube, nachdem der letzte Gast den Schankraum verlassen hatte. Als der Junge einen Eimer Wasser am Dorfbrunnen holen wollte, entdeckte er hinter einer Mauerecke drei Gestalten, die eng zusammenstanden und Kasper irgendwie verdächtig vorkamen.
Neugierig schlich er näher und hielt sich im Schatten der Häuser.
„Und du bist sicher, dass morgen das Gefecht stattfinden soll?“, fragte einer von ihnen, ein langer, hagerer Bursche. Zum Schutz vor der Kälte hatte er eine Decke über die Schultern geworfen.
„Die Schlacht wird stattfinden, was glaubt ihr denn! Der Schwedenkönig wird nie auf eine Gelegenheit verzichten, es den Kaiserlichen heimzuzahlen. Und das müssen wir verhindern“, antwortete der Ältere unter ihnen. Er trug schwedische Uniform. „Ihr könnt mir vertrauen, wenn ich es sage.“
„Aber der Nebel?“, warf der dritte ein, der einen verbeulten Schlapphut trug. „Er zieht schon seit Tagen jeden Morgen auf und senkt sich erst am späten Vormittag. Da kann man kaum die Hand vor den Augen erkennen, geschweige denn Gegner von den eigenen Leuten unterscheiden.“
„Gerade das ist eure Chance“, redete der Alte auf die beiden ein. „Keiner wird bemerken, dass ihr euch dem König nähert.“
„Aber wenn er uns nicht bemerkt, sehen wir auch ihn nicht“, konterte der Hagere.
„Das soll nicht das Problem sein. Ich besitze einen Plan, nachdem Gustav Adolf vorgeht.“
Kasper hörte Papier rascheln. Als er vorsichtig um die Hausecke schielte, sah er, dass die drei Männer wohl eine Zeichnung vor sich ausgebreitet hatten und sie im Schein einer winzigen Kerze näher studierten.
Plötzlich blickte der Mann mit dem Hut in Kaspers Richtung, stutzte einen Moment und der Junge fühlte sich entdeckt. Doch dann wandte sich der Verschwörer wieder dem Alten zu.
„Der König führt laut meinen Informationen den rechten Flügel an. Also ist es eure Aufgabe auf diese Seite zu achten. Hier, bei den vier Windmühlen wäre eine Chance für euch. Ein gutes Versteck, um die Schlacht überblicken zu können und im richtigen Augenblick zuzuschlagen.“
Dann faltete er den Bogen zusammen und übergab ihn dem Hageren. Dieser drehte für einen Moment den Kopf. Kasper konnte eine dicke Narbe in seinem Gesicht erkennen, bevor die Kerze ausgeblasen wurde.
„Noch etwas“, redete der Schwede weiter. „Gustav Adolf hat eine schlecht heilende Wunde aus einer vorangegangen Schlacht zurückbehalten. Daher kann er seinen Harnisch nicht tragen. Lediglich ein Lederkoller wird seinen Körper schützen. Ein gezielter Schuss oder auch Lanzenstich kann den sicheren Tod für ihn bedeuten. Meine Informationen habt ihr erhalten. Nun ist es an euch für das Weitere zu sorgen.“ Auffordernd streckte er seine Hand aus. „Und jetzt gebt mir den versprochenen Lohn. Ich habe mich an die Abmachung gehalten. Ihr wisst nun Bescheid.“
Im nächsten Moment wechselte ein dick gefülltes Ledersäckchen den Besitzer. Es klimperte verdächtig, als es der Alte in seine Tasche steckte. Dann verschwand er in der Dunkelheit.
Auch die beiden anderen Männer taten es ihm gleich und schlenderten in unterschiedliche Richtungen davon.
Ungläubig starrte Kasper in die leere Gasse. Hatte er eben unfreiwillig eine Verschwörung belauscht? Das wird ihm niemand glauben. Er hatte weder Beweise für das Gehörte, noch eine genaue Beschreibung der Männer. Und gelänge es ihm auch, die drei ausfindig zu machen, wem glaubte man eher, einem Soldaten der Armee oder einem armen Wirtshausjungen?
Die Antwort war nicht schwer. Und trotzdem wollte es Kasper jemandem erzählen und er wusste auch schon wem.
Eilig stellte er den leeren Eimer neben den Eingang zur Schenke und rannte dann durch die engen Gassen hinüber zum Fluss.
Gregor schreckte aus dem Schlaf, als Kasper die knarrende Kammertür aufschob.
„Was … was willst du denn hier mitten in der Nacht?“
„Frag nicht lange, Gregor. Zieh dich an. Wir müssen zu den vier Windmühlen.“
„Ach, müssen wir? Ich muss gar nichts, außer schlafen. Mein Vater braucht morgen meine Hilfe.“
„Wenn du erfährst, was ich belauscht habe, dann bist du hellwach. Los jetzt! Ich warte am Fluss auf dich!“
Und schon war Kasper in der Dunkelheit verschwunden.
Es dauerte nicht lange und Gregor trat aus der Hütte. Verschlafen gähnte er. „Wehe, es ist nichts Wichtiges, sonst kannst du etwas erleben!“
„Nun komm schon, Gregor. Ich erzähle es dir unterwegs.“
Während die Jungen den Fluss entlang zu den vier Windmühlen liefen, begann Kasper dem Freund seine Entdeckung mitzuteilen. Gregor hielt vor Staunen den Mund offen und er blieb wie angewurzelt stehen.
„Mensch, jetzt komm schon! Wir müssen uns beeilen, damit wir noch Zeit haben, uns in einer Mühle zu verstecken.“ Kasper zog Gregor am Ärmel mit sich.
Außer Atem erreichten die beiden den vorgesehenen Kampfplatz. Nichts deutete darauf hin, dass hier in wenigen Stunden ein Gemetzel, ja vielleicht sogar der Entscheidungskampf stattfinden wird.
„In welches wollen wir gehen?“, fragte Gregor und deutete auf die vier Gebäude. Das erste sah schon etwas verkommen aus, dagegen war das zweite stabiler.
„Lass uns hier reingehen“, schlug Kasper vor.
Die Tür quietschte in den Angeln, als sie diese vorsichtig aufschoben. Sofort flog eine kleine Schar Fledermäuse über sie hinweg in Richtung Ausgang. Gregor erschrak.
„Angsthase“, kicherte Kasper, war aber im ersten Moment genauso erschrocken wie sein Freund.
Sie schlossen die Tür und tasteten sich vorwärts bis zu einer Leiter, die in den oberen Teil führte.
„Da müssen wir hinauf. Von dort haben wir die beste Übersicht über die Schlacht“, stellte Kasper fest und kletterte eine hölzerne Sprosse nach der anderen nach oben.
„Los, jetzt du! Aber pass auf, die dritte Stufe ist morsch.“
Oben angelangt, krabbelten sie auf allen Vieren zu einem Loch in der äußeren Bretterwand. Noch herrschte Ruhe auf den Wiesen unter ihnen.
„Legen wir uns eine Weile schlafen, damit wir im Morgengrauen nichts verpassen“, schlug Gregor vor. Leider hatten die Jungen weder an etwas zum Essen noch an eine Decke gedacht. Frierend und hungrig kuschelten sie sich in einer Ecke aneinander.
Ein Geräusch weckte Kasper. Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und lauschte in die Dunkelheit. Da, wieder ein Scharren. Es musste von unten kommen. Er zupfte Gregor am Arm und legte sofort den Finger über den Mund. Obwohl sein Freund noch ziemlich verschlafen wirkte, deutete er den Hinweis richtig und schwieg. Kasper zeigte nach unten. Lautlos robbten die Jungen zur Luke und spähten in den unteren Teil der Mühle.
In diesem Moment trat ein Mann in ihr Blickfeld und Kasper erschrak. Es war der lange Hagere, den er in der Nacht mit seinen Komplizen belauscht hatte. Er unterhielt sich mit einem weiteren Mann, den Kasper aber nicht sehen konnte.
„Lass uns noch einmal auf den Plan sehen“, sagte der Lange.
Papier raschelte und eine Kerze wurde entzündet.
„In Ordnung. Jetzt müssen wir nur noch warten. Komm, wir schauen uns draußen ein bisschen um. Ich schätze, die Schlacht wird heute bei dem dicken Nebel bestimmt nicht stattfinden. Man sieht ja kaum die Hand vor dem Gesicht. Es ist unmöglich Freund und Feind auseinander zu halten.“
Gleich darauf verließen die Männer die Mühle.
„Wer war das?“, fragte Gregor.
„Das waren zwei von den Männern, die ich auf unserem Marktplatz belauscht habe. Sehen wir mal nach, ob wir den beiden folgen können, ohne dass sie uns bemerken.“
Gleich darauf traten sie aus der Mühle heraus. Doch was war das? Sie konnten nichts sehen, kaum etwas erkennen. Eine wabernde Nebelmasse breitete sich über das gesamte Land. Von überall her hörte man bereits laute Stimmen, die Befehle erteilten. Die Soldaten mussten inzwischen eingetroffen sein.
Schritt für Schritt bewegten sich die Jungen vorwärts.
„Bist du nicht der Lauscher aus dem Dunkel der Nacht?“, vernahm Kasper plötzlich eine heisere Stimme. Er drehte sich um und sah in die funkelnden schwarzen Augen des Mannes mit dem Schlapphut. Ein Gewehr hing ihm über der Schulter.
‚So hat er mich doch hinter der Hausecke gesehen’, dachte Kasper ängstlich.
„Wie viel hast du belauscht, Bürschchen?“
Gregor zupfte seinen Freund am Ärmel. „Komm, Kasper, lass uns abhauen!“ Er zitterte und da war nicht nur die Kälte Schuld, die an diesem nebligen Novembermorgen unter die Kleidung kroch. Doch Max wollte nichts hören. Er nahm all seinen Mut zusammen und stellte sich breitbeinig vor den Unbekannten. „Auf welcher Seite steht Ihr?“
Dieser lachte hämisch. „Eigentlich auf keiner. Doch ich kann es auf den Tod nicht ausstehen, wenn hinterrücks Anschläge verübt werden. Kämpfen Mann gegen Mann, das hat was. Da siegt derjenige, welcher am Geschicktesten mit Waffen umgehen kann. Aber einen Anschlag hinterrücks verabscheue ich.“
„Dann sind wir uns einig“, entgegnete Kasper, der dem Unbekannten glaubte, während sein Freund eher zweifeln dreinschaute. „Deshalb müsst Ihr uns helfen, den Hageren zu finden. Wisst Ihr, wer er ist?“
Bevor der Mann antworten konnte, riss plötzlich die Nebelwand auf und die feindlichen Linien wurden sichtbar. Ungläubig starrten Kasper und Gregor auf die Truppen, die sich auf beiden Seiten des Schlachtfeldes formiert hatten. Tausende und abertausende Soldaten standen sich gegenüber, zu Pferde, zu Fuß, mit Lanzen oder Gewehren.
Dann ging alles blitzschnell. Die Reiterei der Schweden setzte zum Angriff an. Sie wurden von den kaiserlichen Musketieren, die in einem Graben in Stellung gegangen waren, mit einem fürchterlichen Gewehrfeuer empfangen.
„Los kommt!“ Der Fremde zog die Kinder in den Schutz der Windmühle zurück. Dort stiegen sie nach oben und robbten zu einer Luke, von wo aus sie das Schlachtfeld überblicken konnten. Schon nach kurzer Zeit bot sich den Beobachtern ein grausiges Bild. Überall sah man Tote und Verletzte, Reiter sprengten aufeinander los. Das Fußvolk marschierte unaufhörlich vorwärts. Kanonen dröhnten, Gewehrsalven wurden abgefeuert. Im Hintergrund sah man Lützen, das in Flammen stand, in Brand gesteckt von den eigenen Reihen, damit die Schweden von dieser Seite nicht angreifen konnten.
„Da seht!“, rief Gregor plötzlich. „Das muss der Schwedenkönig sein. Schaut, wie sie ihm alle Platz machen!“ Der Junge deutete auf einen stattlichen Mann hoch zu Ross, mit einem ledernen Wams und einem Tuchrock bekleidet. Auch sein Pferd wirkte majestätisch.
In diesem Moment drang ein Sonnenstrahl durch die dicke Wolkendecke. Kasper zuckte zusammen und deutete auf einen der Reiter. „Da ist der Mann mit der Narbe!“
„Ja, du hast Recht, Junge! Doch wir können nur beobachten, was er tut. Ein Eingreifen ist von hier aus nicht möglich.“
„Aber Ihr habt doch Eure Waffe!“ Gregor deutete auf das Gewehr, das auf dem Boden lag.
„Ich kann ja mal mein Glück versuchen.“ Der Mann lachte.
Langsam näherte sich der Attentäter dem König. Plötzlich legte er seine Waffe an und schoss. In dem lauten Gewehr- und Kanonenfeuer konnte man es natürlich nicht hören, doch ein heller Rauch entschwand aus dem Gewehrlauf. Der König fasste sich im gleichen Augenblick an seine linke Schulter. Blut quoll aus der Wunde, doch Gustav Adolf hielt sich auf seinem Pferd.
„Der König blutet! Er ist von einer Kugel getroffen worden!“ Schreie drangen hinauf in die Windmühle. „Da, da ist der Schütze!“ Einer der Schweden hob seine Flinte, ein anderer rannte mit einem Speer auf den Mann zu. Der Lange versuchte noch zu entkommen. Doch im Nu war er von Schweden umzingelt und fiel kurz darauf vom Speer durchbohrt zu Boden.
„Gott sei Dank!“ Erleichtert atmete Kasper auf. „Der König ist gerettet!“
Der Schwedenkönig hatte sich an den Rand des Schlachtfeldes zurückgezogen. Einer seiner Soldaten begleitete ihn. Die von Entsetzen verwirrten Schweden versuchten ihren König zu schützen, indem sie sich um ihn scharten. Doch, wie es aussah, wollte Gustav Adolf nur weg, heraus aus dem Gedränge. Er ritt direkt unter den vier Windmühlen vorbei. Kasper konnte sein vor Schmerz verzerrtes Gesicht erkennen. Mit letzter Kraft, so schien es, gab er seinem Pferd die Sporen, als er erneut zusammenzuckte. Dann sank er von seinem Ross. Aber sein Fuß blieb im Steigbügel hängen und so wurde der sterbende König noch etliche Meter weiter geschleppt, ehe er sich befreien konnte. Als er am Boden lag und seinen letzten Atemzug tat, war er umringt von Feinden, die mit Gewehren und Piken auf den bereits leblosen Körper einschlugen. Letztendlich zogen sie dem Schwedenkönig seine Kleidung aus und hielten sie als Trophäe in die Luft. Gustav Adolf ließen sie jedoch in seinem Blute liegen.
„Wer … wer hat ihn jetzt getötet? Der Attentäter war doch bereits von den schwedischen Soldaten niedergesteckt worden.“
Als Kasper keine Antwort bekam, drehte er sich um. Der Fremde war verschwunden. Nur sein noch rauchendes Gewehr lag auf dem Bretterboden der Mühle.