Die Versöhnung
Zwei Männer sassen sich in einem Wartehäuschen eines Bahnhofs am Stadtrand gegenüber. Paul Frei der jüngere der Beiden schaute ungeduldig auf die Uhr. Der Zug hätte schon vor fünf Minuten einfahren sollen. Er nahm die Zeitung, die er kurz zuvor niedergelegt hatte, wieder auf und blätterte ziellos. Der gegenübersitzende Wilhelm Meier sass bis auf die auffällig zitternde rechte Hand bewegungslos da und starrte vor sich hin. Die Minuten verstrichen und Paul Frei wurde sichtlich nervös, die linke Hand führte er minütlich vor sein Gesicht, um sich der Zeit zu vergewissern. Diese Ungeduld fiel Wilhelm Meier auf und sein Blick wurde verständnislos und drückte gegenüber dem Nervösen Verachtung aus. Herr Frei schien das vor lauter Kümmernis nicht zu bemerken.
Von weit her ertönte immer näher kommend eine Sirene eines Ambulanzautos. Beide riefen fast synchron und nun sich anblickend: „Ist etwas passiert?“ „Das muss mit der Verspätung des Zuges zusammenhängen. Die Tatsache, dass der Bahnhofsvorsteher noch keine Meldung per Lautsprecher gemacht hat, ist angesichts der zwölf Minuten Verspätung verdächtig.“ Herr Frei war sichtlich froh, dass er sich aussprechen konnte. „Nur Geduld, der Zug kommt schon, es liegt nicht in unserer Hand diesbezüglich etwas zu ändern.“ Entgegnete Herr Meier freundlich. „Ich nehme zwar ihre gute Absicht war, aber sie scheinen nicht zu verstehen, dass ich zu einem wichtigen Gespräch eingeladen bin und es mir viele Probleme machen wird, wenn ich dieses verpasse.“ Die erhobene Stimme von Paul Frei brachte Wilhelm Meier nicht aus der Ruhe, nachdenklich wartete er den Anbruch der nächsten Minute ab, dies konnte er auf der Bahnhofsuhr ablesen, und fuhr dann überlegt weiter: „Sehen sie, es gibt einen Grund für die Verspätung dieses Zuges und für diesen Grund gibt es wieder einen Grund. Ob sie rechtzeitig zu ihrem Gespräch kommen, hängt von Dingen ab, die sie nur mässig beeinflussen können und sie müssen die allfällige Verspätung hinnehmen.“ Herr Frei wurde aufbrausend: „ Das sehe ich ganz und gar nicht so, ich habe eine Zusage zu dem Gespräch gemacht und bin deshalb Verantwortlich dem nachzukommen. Kein Schicksal bestimmt mein Teilnehmen oder Fernbleiben, es wird nur durch das Eine oder das Andere geformt. Wir sind frei und deshalb tragen wir für unsere Entscheidungen die Verantwortung.“ „ Ich stelle fest, dass sie öfters leiden müssen im Leben, nämlich immer dann, wenn Situationen, die ihrer Zuständigkeit entgehen, aufkommen und sie aus ihrem Plan werfen. Ich demgegenüber nehme hin, was immer geschieht. Wissend dass es eine höhere Macht sein muss, die alles lenkt und ich nicht die Weitsicht habe, alles in seinen Zusammenhängen zu verstehen. Diese Einsicht gibt mir Gelassenheit.“ Paul Frei konnte diese moralisierende Ignoranz nicht länger ertragen, erhob sich und spottete beim Hinausgehen: „Höhere Macht, höhere Macht, wo ist denn ihre höhere Macht? Kann sie nicht dafür sorgen, dass dieser Zug endlich einfährt?“
Beim Öffnen der Türe des Wartehäuschens ertönte der Lautsprecher: „ Wegen eines tragischen Unglücks ist der Zugverkehr von diesem Bahnhof aus bis auf weiteres eingestellt.“ Nun erhob sich auch Wilhelm Meier und beide gingen Richtung Bahnschalter. Aufdringlich erkundigte sich Herr Frei nach den Geschehnissen, erhielt aber keine brauchbare Auskunft. Nun sprach er triumphal zu Wilhelm Meier: „ Sehen sie, ich habe es ihnen gesagt, die Verspätung hängt mit der Sirene zusammen, es hat ein Unglück gegeben. Wo ist da ihre höhere Macht geblieben? Hat sie dieses Unglück etwa auch gewollt?“ Wilhelm Meier erwiderte: „Man kann nie wissen, vielleicht hat dieses Unglück ein schlimmeres verhindert, oder ist geschehen als Schuldausgleich für gewisse Menschen. Die Sicht auf die einzelnen Dinge relativiert sich immer im Ganzen. Das Gute und das Schlechte in der Welt bedingen sich gegenseitig. Weil die Menschen die Möglichkeit haben zu wählen, können sie sich auch für das falsche Entscheiden, das dann Übel mit sich zieht. So geschehen ist es vermutlich in diesem Fall.“ Paul Frei schüttelte über die Erklärungsversuche von seinem Diskussionspartner nur den Kopf und schaute sich am Bahnhof um. Da erblickte er einen verstörten Mann mit auffällig heruntergezogenen Mundwinkeln. Zu diesem eilte er hin und fragte aufdringlich: „Wissen sie welches Unglück geschehen ist?“ „Wollen sie das wirklich wissen?“ fragte der Mann zurück. „Ja klar.“ Ertönte es aus Paul Frei heraus. „Nun gut, ein fünfzehn Jähriges hochschwangeres Mädchen hat sich vor eine Regionalbahn geworfen. Sie ist seitlich getroffen worden, der Aufprall hat sie zerschmettert und der gut entwickelte Embryo hat sich aus ihrem Bauch gelöst und ist seitlich an der Bahn vorbei vorbeigeflogen. Die mitfahrenden Passagiere darunter viele Schulkinder haben die ganze Szenerie miterlebt und sind nun nahe der Unfallstelle versammelt, entsetzt, zerdrückt und verzweifelt. Es wimmelt von Polizei. Ein paar Therapeuten begleiten die traumatisierten Kinder, ohne wirklich etwas beizutragen. Es ist ein ungeheures Drama. Nun wissen sie es, ich hätte es ihnen nicht gesagt, wenn sie nicht so gierig gefragt hätten.“
Die beiden Männer die sich vorher noch in hitziger Diskussion befanden, erbleichten nun gleichzeitig. Herr Frei sagte voller Entsetzen zu Herr Meier. „Ich sage ihnen nur noch etwas; wie heissen sie eigentlich?“ „Wilhelm“. „Gut, ich bin Paul, ich sage dir etwas Wilhelm. Was willst du nun aus deiner Sicht diesen Kindern erklären? Etwa dass es gut gewesen ist, was geschehen ist? Dass es so kommen musste, um anderes Unheil zu verhindern? Etwa, dass aus dem Baby im Leib vielleicht mal ein Mörder geworden wäre und dass, oh Glück, dieses Übel nun verhindert worden ist, etwa durch die Einwirkung einer höheren Macht? Dass wir das nicht verstehen können und es nur demütig hinzunehmen ist und dass jedes Wiederstreben gegen diese Ansicht nur ein Antagonismus gegen die all gute Schicksalsgewalt darstellen würde? Ist es so deine Meinung? Genau das ekelt mich so tief an, dass ich, selbst wenn es so wäre, dies nie glauben könnte und mich mit allen mir möglichen Mitteln gegen eine solche Sichtweise wehren würde.“ „Du hast vollkommen Recht Paul und was ich jetzt sage, meine ich nicht als Verteidigung all meiner vorherigen Aussagen und auch nicht als Kritik an deinen, sondern nur um alle Besserwisserei angesichts der Tragik der Situation auszuschalten. Stellt sich nicht auch die sogenannte Freiheit in Frage? Das Mädchen hat zwar den Freitod freiwillig gewählt, aber was an Verzweiflung, Angst und Zerrissenheit muss in ihrer Seele gelebt haben, sich so zu entscheiden. Sicher war die Situation nicht mehr tragbar für sie. Sie konnte es nicht hinnehmen, als junge Mutter den Blicken der Menschen ausgesetzt zu sein, sich schändlich zu fühlen gegenüber ihren eigenen Eltern und einer solch schweren Aufgabe wie das Erziehen eines Kindes angesichts ihres Alters entgegenzublicken. Für was kann man sich verantworten, wenn man nur noch einen Weg sieht? Und was hat das Baby in ihrem Bauch für eine Entscheidung getroffen? Es ist ganz und gar für es entschieden worden, von Freiheit ist da keine Rede. Die Kinder im Zug für was haben sie sich entschieden, dass sie das Trauma dieser Erfahrung ein ganzes Leben lang mit sich tragen müssen? Was ist da zu reden von freier Gestaltung des eigenen Lebens, wenn Dinge passieren, die man nie gewollt hat und dennoch ein ganzes Leben prägen?“ Paul antwortete nun ganz gelassen und fasste Wilhelm am Arm, um sich mit ihm vom Bahnhof wegzubewegen: „Auch du hast vollkommen recht mein Freund.“
Gemeinsam gingen sie schweigend zu der Versammlung der Trauernden. Dort angekommen sahen sie die über dreissig Kinder, die zum Teil wie tot am Boden lagen und nur verständnislos in die Welt blickten, die verstörten Eltern der Getöteten und die hilflosen Therapeuten, die auch eher geschockt als tatkräftig waren. Um jeden Einzelnen von ihnen baute sich eine Mauer der Resignation, der Entfremdung gegenüber sich und allen und der Perspektivenlosigkeit angesichts einer Welt in der solches Übel geschehen kann, auf.
Getrieben von einer Versöhnung, die die beiden Männer spürten, gingen sie intuitiv und ohne sich abzusprechen hin und redeten alle Menschen am Platz einzeln liebevoll an. Sie führten sie langsam wieder in ein gesammeltes Bewusstsein zurück und beriefen sie dazu sich alle zusammen zu finden, in einen Kreis zu stellen und sich an den Händen zu halten. Alle gemeinsam weinten so bis spät nach dem Sonnenuntergang.