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Die verlorene Familie

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31.01.2003
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Die verlorene Familie

Die verlorene Familie

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlußlichter rasch kleiner wurden. Zwischen den Füßen der hageren Gestalt stand eine große schwarze Reisetasche. Sein dunkler Mantel hing ihm bis zu den Knien.
Obwohl Marcel Weber gerade einmal die Dreißig erreicht hatte, wirkte er auf den ersten Blick wie ein Rentner. Das Gesicht war ernst und eingefallen, die Körperhaltung nach vorn gebeugt und die Arme hingen schlaff herab. Er nahm einen letzten tiefen Zug und schmiß die Zigarette auf die Schienen. Seufzend blies er den Rauch in die Luft.
Marcel schaute auf seine Armbanduhr. Kurz nach viertel zwölf und wieder war er nicht eingestiegen, wie in den Tagen zuvor. Der nächste Zug würde erst in sechs Stunden fahren. Was gäbe er dafür, damit er ihnen allen morgen nicht gegenüber stehen, nicht in die Augen blicken muß! Doch für eine Flucht fehlte ihm der Mut.
Marcel nahm seine Reisetasche und verließ den Bahnhof. Das Echo seiner Schritte erfüllte die Halle und folgte ihm bedrohlich. Als er auf der Straße stand, schien es ihm keineswegs als hätte er das Gebäude verlassen. Die Nacht zog ihre dunklen Wände um ihn, als wollte sie ihm den Weg in die Stadt verbieten.
Wo sollte er die nächsten Stunden verbringen? Die gemeinsame Wohnung hatte Marcel bereits vor drei Wochen gekündigt und war anschließend in ein Apartment in Hamburg gezogen, doch Hamburg war nun weit entfernt. Ins Landhotel wollte er auch nicht zurück. Bereits dreimal hatte er ausgecheckt und immer kehrte er mit der gleichen Ausrede zurück. „Schon wieder den Zug verpaßt. Die Bahn könnte ihre Fahrpläne auch mal überarbeiten!“ Jedesmal hatte ihm die Hausdame an der Rezeption das gleiche Zimmer zurückgegeben.
Plötzlich erinnerte sich Marcel an die alte Kurvenschenke, eine gemütliche Kneipe mit einer Pension am anderen Ende der Stadt. In diesem Stadtteil kannte ihn niemand und auch sonst war er in der Stadt recht unbekannt Marcel ging langsam in Richtung Kurvenschenke.
Je weiter er sich dem Stadtinneren näherte, desto fremder kamen ihm die vom Herbstlaub bedeckten Straßen und Fußwege vor. Plötzlich erschien es ihm, als hätte er mehr Zeit in der Firma und in ausländischen Hotels verbracht als bei seiner Frau Daniela und in seiner Heimatstadt.
„Haben die niemand anderen in der Firma?“ hatte ihn Daniela jedesmal gefragt, wenn er auf Geschäftsreise ging.
„Die sagen ich bin der beste Mann für den Job.“, hatte er immer geantwortet. „Und außerdem komme ich ja zurück.“
Vor sechs Jahren war Marcel Daniela das erste Mal in einer Dresdner Cocktailbar begegnet. Sie hatte gerade ihre Ausbildung zur Fotografin abgeschlossen und er kämpfte sich durch die letzten drei Semester Elektrotechnik. Es dauerte nur ein halbes Jahr bis sie heirateten.
Das erste Ehejahr war hart für Daniela. Marcel war voll und ganz in seine Diplomarbeit, die er für eine große Computerchipfabrik schrieb, vertieft. Die Firma bot ihm sogar eine feste Stelle an, wenn er einen guten Abschluß erhielte.
„Keine Sorge, Schatz. Noch drei Monate, dann bin ich mit der Arbeit fertig. Der Job ist mir so gut wie sicher.“, tröstete Marcel Daniela. „Dann können wir auch unsere Hochzeitsreise nachholen.“
Schließlich bestand er seine Diplomarbeit mit einer glatten Eins und erhielt sofort eine gut bezahlte Stelle in der Firma. Doch Marcels Ehrgeiz wuchs mit jedem Monat weiter. Innerhalb von zwei Jahren stieg er zu einer führenden Position auf und wurde der wichtigste Berater für weltweite Firmenkunden. Daniela kam es mittlerweile vor, daß jede Geschäftsreise länger dauerte als die Vorhergehende. Und auch als sie vergangenen Winter schwanger wurde,
war Marcel nicht der Erste, dem sie es erzählen konnte.
„Er muß sich endlich um dich kümmern! Wozu habt ihr denn geheiratet?“ schimpften Danielas Eltern.
„Wenn das Baby erst einmal da ist, wird er sich schon ändern, ganz bestimmt.“, verteidigte Daniela Marcel. „Und außerdem macht er das ja nur für mich und das Kind. Er hat gut verdient in den letzten Jahren.“
Dann kam der Tag, der sich seitdem in Marcels Erinnerung unauslöschbar eingebrannt hat. Er nahm zu dieser Zeit an einer Konferenz in Zürich teil. Mitten in einer Vorlesung klingelte sein Handy. Er verließ den Saal.
„Ja! Was ist?“ rief er genervt in sein Telefon.
„Hallo, Marcel. Ich bin’s.“ Marcel erkannte die Stimme seines Schwiegervaters.
„Was gibt’s denn?“
„Du mußt sofort nach Hause kommen! Daniela liegt im Krankenhaus.“
„Was? Wie geht’s ihr? Ist es etwas Schlimmes?“
„Sie hat ...“
„Moment! Warte kurz!“
Marcels Kollege steckte seinen Kopf aus dem Konferenzsaal. „Los, unser Vortrag ist als nächstes dran. Komm schon!“ rief der Kollege.
„Ja, ich komme doch schon!“ Marcel nahm sein Handy wieder ans Ohr. „Hallo? Hör’ zu. Sag’ Daniela, daß ich in drei Tagen bei ihr bin. Mach’s gut!“
„Warte, du solltest noch wissen, daß deine Frau eine Fehlgeburt ... Hallo?“ Danielas Vater hatte nur noch ein Tuten gehört.
Marcel war bei der Kurvenschenke angekommen. Er nahm sich ein Zimmer und ging ohne Abendessen zu Bett. Vor seinem Auge lief der morgige Tag ab. Alle Verwandten und Freunde von Daniela werden da sein. Sie werden da stehen, aufgereiht in einer schwarzen Linie. Sie werden auf ihn warten, ihn aber nicht willkommen heißen. Und sie werden ihm die Schuld geben, an Danielas Selbstmord.

 

Hallo MikeL!

Herzlich Willkommen! :)

Deine Geschichte ist gut und flüssig geschrieben, Du baust geschickt eine Spannung auf. Ich wollte nicht aufhören zu lesen, wollte wissen, was los ist, schon nach dem ersten Absatz. :)
Du charakterisierst Deinen Prot sehr gut und nachvollziehbar, das Ende kommt überraschend und wirkt hart, Du löst die Spannung.Wenn ich anfange, darüber nachzudenken, ist die ganze Geschichte eigneltich sehr hart, ein KArrieretyp, der darüber seine Familie sosehr vernahclässigt... leider kommt das vor.
Sehr gut geschrieben, angenehm zu lesen!

Eine Kleinigkeit:

"und auch sonst war er in der Stadt recht unbekannt Marcel ging langsam in Richtung Kurvenschenke." - Punkt vergessen.

schöne Grüße, Anne :)

 

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