Die Verleihung
Ich betrete die letzten sieben Stufen, die das Publikum von der Bühne trennen. Der rote Samtteppich dämpft meine schnellen und energischen Schritte ab. Eigentlich kann ich hohe Absätze nicht ausstehen, aber zu diesem Anlass blieb mir wohl nichts anderes übrig. Ich werde fast taub von meinem eigenen Herzklopfen. Der Weg bis zum Rednerpult erscheint endlos. Die gut fünftausend Augenpaare verfolgen jede meiner verkrampften Bewegungen. Die Live-Kameras sind auf mich gerichtet; bereit, jede meiner kleinsten Regungen bis in das letzte Wohnzimmer des Planeten zu übertragen. Es sieht zweifellos lächerlich aus, wie ich stocksteif über die Bühne stolziere. Endlich erreiche ich das Pult, eine rettende Insel, an der ich mich festhalten kann, kurz bevor ich ertrinke.
Dies ist er also, der Augenblick, den ich so lange herbeigesehnt habe. Wie oft habe ich mir vorgestellt, genau hier zu stehen, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, umgeben von zahllosen Menschen, die mich schätzen, die meine Leistungen der vergangenen Jahre anerkennen.
Erst jetzt schaue ich ins Publikum. Eine bunte Masse von erwartungsvollen Gesichtern blickt zu mir auf. Es herrscht eine bedeutungsschwere Stille, die nur durch gelegentliches Husten und Räuspern durchdrungen wird. Mit klitschnassen Händen ertaste ich meine Dankesrede, die auf dem Pult bereit liegt. Alles wartet darauf, dass meine Stimme der Stille ein Ende setzt, schließlich hat mich der Moderator mit so vielversprechenden Worten angekündigt. Bevor ich beginne, nehme noch einen letzten, leise zischenden, tiefen Atemzug. Der markante Duft meines Maiglöckchen-Holunder-Parfums benebelt mich noch zusätzlich.
„Meine sehr verehrten Damen und Herren; liebe Kollegen, es ist eine große Ehre für mich, heute gemeinsam mit Ihnen hier sein zu dürfen, um unsere Erfolge im Bereich der Quantenphysik zu feiern.“
Meine Stimme zittert nur leicht. Ich setzte meine gesamte Kraft ein, um klare, deutliche Worte hervorzubringen.
„Ich stehe hier stellvertretend für ein großartig harmonierendes Team von hochqualifizierten Wissenschaftlern.“
Das alles erscheint mir nun heuchlerisch. Ich erinnere mich genau, wie ich Tag und Nacht geschuftet habe, während die anderen sich einen gemütlichen Feierabend machten. Wie ich das Projekt am Laufen gehalten habe, als keiner mehr Motivation aufbringen konnte. Wie ich die fehlerhaften Ergebnisse meiner Kollegen korrigiert und sie erst in eine nutzbare Form gebracht habe. Aber immerhin lassen sie mich dafür nun allein den Preis entgegennehmen. „Unser Projekt braucht ein schönes Gesicht - und zwar deins.“, das hatte Dieter, mein ehemaliger Chef, zu mir gesagt.
„Ich bin stolz, glücklich und dankbar dafür, dass die Ergebnisse unserer gemeinsamen Arbeit in Zukunft die Technologien, die wissenschaftlichen Verfahren und nicht zuletzt das Leben vieler Menschen verbessern und erleichtern werden.“
Ein rauschender Applaus folgt diesen Worten. Verlegen streiche ich mir eine verirrte Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus meiner kunstvollen Hochsteckfrisur gelöst hat.
Aber stolz, glücklich und dankbar? Ich bin nichts von alldem. Haben sich all die Entbehrungen, all die Mühe und der Stress der letzten Jahre wirklich gelohnt?
Ich habe ein wenig Zeit, mich zu besinnen, da nun der Moment der eigentlichen Preisübergabe gekommen ist. Eine Triade von Anzugträgern schreitet mir entgegen. Der kräftigste von ihnen trägt den kostbaren Preis vor sich her wie ein heiliges Artefakt. Bis mich der Preis erreicht hat, weiß ich nicht wohin mit meinen Händen, denn ich will sie den Herren nicht allzu fordernd entgegenstrecken. Also falte ich sie ineinander, bis es soweit ist; fast so, als wolle ich beten. Die Herren schütteln mir die Hand, einer nach dem anderen. Tatsächlich bin ich nicht die einzige, deren Finger vor Aufregung im eigenen Saft schwimmen. Dann endlich geht der Preis in meinen Besitz über. Doch er fühlt sich nicht gut an in meinen Händen. Er ist kalt und schwer. Die Herren sprechen einige Worte voll des Lobes über mich und meine Leistung und treten anschließend wieder ab. Lassen mich alleine zurück mit diesem Stück Metall. Ich führe meine Dankesrede fort. Jetzt jedoch lese ich sie ab, ohne mich selbst reden zu hören. Vieles geht nun in mir vor.
Wie kann ich mir all das hier nur jemals gewünscht haben? Ich wollte die Leute immer beeindrucken, wollte, dass sie große Stücke auf mich halten. Warum das alles? Da unten sind sie nun versammelt, beeindruckt und stolz auf mich und meine Leistung. Doch es bedeutet mir nicht das Geringste. Sie sind alle so weit weg. So einsam habe ich mich in meinem ganzen Leben noch nicht gefühlt.
Heiße Tränen rinnen an meinen Wangen herunter. Die Zuschauer denken, es seien Tränen der Rührung über meinen Erfolg. Ich habe nicht einmal mehr Angst, dass meine mehrschichtige Schminke zerfließt, so sehr bin ich gefangen in meiner eigenen Leere. Während ich tapfer damit fortfahre, allen am Projekt Beteiligten meinen Dank auszusprechen, fällt mein Blick auf David. Ihn wollte ich am allermeisten beeindrucken. Zahlreiche Nachtschichten habe ich nur für ihn eingelegt, nur um ein kleines Lob von ihm zu bekommen oder einen Hauch an Wertschätzung. Da sitzt er nun und strahlt mich an, ohne die geringste Ahnung von meinem inneren Kampf zu haben. Neben ihm sitzt seine Frau in einem knappen Cocktailkleid. Er hält ihre Hand fest.
Wie konnte ich mich nur so verirren? Jahrzehntelang bin ich etwas hinterher gelaufen, das weder greifbar, noch wichtig oder real ist. Ich lebte in einer Scheinwelt, unfähig zu sehen, was ich wirklich gebraucht hätte. Eine herzliche Umarmung vielleicht oder die Gegenwart eines Menschen, der mich schätzt für das was ich bin, nicht für das was ich tue oder leiste.
Das Rauschen in meinen Ohren wird immer lauter. Das kann nicht nur der Applaus sein. Bald schon bin ich in Dunkelheit gehüllt, mir wird schwarz vor Augen.
In einem letzten bewussten Augenblick versuche ich meinen Sturz so zu gestalten, dass niemand unter meinen Rock sehen kann.