Die Verlassene
Ich blickte hinab in die Tiefe, der Wind zerzauste mein lockiges Haar. Ich war allein in der rettenden Höhe, weit weg von all jenen, die mir böses wollten und zum ersten Mal seit langem fühlte ich mich sicher. Von hier oben konnte ich all die schrecklichen Orte sehen, zu denen ich nie wieder zurückkehren wollte, an denen so viel Schlimmes passiert war. Die Luft hier war eisig, doch durch den Schmerz der Kälte fühlte ich mich endlich wieder lebendig, denn sonst war es, als hätte jemand anderes mein Leben gelebt und ich hätte nur den Verlust und all die anderen Gefühle des Lebenden gespürt. Meine Erinnerungen waren schwach und der Traum verschwamm mit der Realität, der Wahrheit. Doch was war die Wahrheit, was waren Lügen? Ich wusste es nicht, es war mir egal. Mein Leben war nichts mehr wert, ich hatte alles verloren und konnte nicht mehr gewinnen. Es war aus, das wusste ich.
Tränen liefen mir über die Wangen als meine Gedanken zu Brian wanderten, dem Jungen, den ich so unendlich liebte. Dem Jungen, dem ich mein zartes Herz geschenkt hatte. Doch Brian hatte nicht genug aufgepasst, er hatte mein Herz nicht beschützt. Dabei war ich mir so sicher, dass er es konnte, wenn er nur wollte. Aber er wollte nicht, er hatte es weg geworfen und dafür das Herz einer anderen genommen: Sarah. Er vergötterte sie und beachtete mich gar nicht mehr. Ihm war es egal, was mit mir geschah und Sarah, meine beste Freundin, hatte mich im Stich gelassen. Ein Schluchzen drang aus meiner Kehle und die Tränen hinterließen eine feuchte Spur auf meinem Gesicht. Wie ich diese beiden hasste, doch die Enttäuschung über ihr Hintergehen war noch größer. Seit dem vertraute ich niemandem mehr, denn sie beide hatten mich verlassen.
Genau wie meine Mutter. Auch sie ließ mich allein, weil sie mich nicht liebte… Sie ließ mich bei meinem Vater, der nie da war, keiner wusste wo er sich herum trieb und was er tat. Meine Mutter war geflohen, weil sie es mit mir nicht mehr aushielt, ich war wahnsinnig, meinte sie. Doch das war ich nicht, ich konnte nur nicht mehr klar denken, weil Träume so real und die Realität so falsch wurden. Keine Erklärungen konnten sie aufhalten, sie ging wortlos davon.
Ich hatte keine Eltern, keine Freunde und es interessierte niemanden, wie es mir ging. Deswegen musste ich weg und kam hierher. Nach oben, um auf sie alle herabblicken zu können. Meine Seele fühlte sich leer an und manchmal, wenn ich genug geweint hatte, spürte ich nichts mehr, gar nichts. Das war der Zeitpunkt, an dem ich merkte, dass ich ganz allein war und niemanden mehr hatte, der auch nur einen Gedanken an mich verschwendete. Ich war ein Nichts, ein dummes, unnützes Nichts, an das sich schon jetzt niemand mehr erinnerte. Mit einem Mal fühlte sich mein Körper ganz leicht an, als könnte ich fliegen und ich trat an den Rand des Abgrundes. Die Vögel sahen aus als riefen sie: „Komm mit uns! Bei uns kann dir nichts mehr passieren!“ Ein Lächeln erschien auf meinem Gesicht, sie hatten recht, mir konnte nichts mehr passieren. Ich breitete die Arme aus, trat noch näher an die Kannte und sprang. Ich schlug mit den Armen wie ein Vogel und flog überglücklich in die Tiefe. Jetzt war ich erlöst, ich war frei. Es wurde immer heller um mich herum und ich fühlte, wie eine sonderbare Kraft mich nach oben zog, immer näher zum Himmel.