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Die vergessene Leiche
Die Nacht trat langsam zur Wachablöse an, und entließ somit den Tag, der sofort weiter gegen Westen zog, um dort wiederum die Nacht abzulösen. Die Dunkelheit verdrängte auch das Tageslicht aus der kleinen Wohnung, die Thomas alleine bewohnte; der, um dem noch einmal kurz Einhalt zu gebieten, seine Lampe einschaltete, die sogleich die Dunkelheit verdrängte.
Wieder einmal war es Samstag abend, und wieder einmal saß er, ohne Gesellschaft, einsam vor dem Fernseher, und ertrug die Gesellschaft Thomas Gottschalks und seiner Showgäste. Er konnte sich nur noch dunkel daran erinnern, wie er das letzte Mal so richtig auf den Putz gehaut hat. Dazwischen waren schon einige Monate vergangen. Das war damals, als er mit seinen Mitspielern vom Fußballverein noch einen trinken war. Zuerst hatten sie noch über das vergangene Match gesprochen, 4-1 siegten sie - Thomas war Verteidiger, und bot eine solide Leistung, er fiel zwar nicht besonders auf, aber hatte in seinem Spiel auch keine gröbere Patzer- , und mit jedem Bier wurden sie angeheiterter, und man fing an Witze zu machen. Damals haben ihm diese Sticheleien noch nichts ausgemacht, erst am nächsten Tag, als die Kopfschmerzen weniger wurden, wurde ihm bewußt, daß seine sogenannten Freunde nicht mit ihm, sondern über ihn gelacht haben. Sie sagten sein Fußballspiel sei so erfrischend wie seine Witze. Zunächst dachte er, es wäre ein Kompliment, aber dann kam es ihm, daß er im Klub nie mit seinen Kollegen sprach, und wenn, dann nur das Nötigste. Klar, er wäre mit dem klar geworden, daß ihn die anderen als langweilig empfanden, daß hatte er schon vorher tausendmal gehört, aber daß sie nun auch noch sein Spiel kritisierten, das war ihm zuviel. Sein Fußballspiel war , neben der Arbeit, sein einziges Bindungsglied mit der Außenwelt. Durch das Spielen hatte er wenigstens an zwei Abenden in der Woche was vor. Und am Wochenende fand immer das Match statt. Fußball war sein letzter Halt, um nicht in der nichtssagenden Bedeutungslosigkeit zu versinken. Und jetzt, jetzt war es soweit, man respektierte nicht einmal mehr sein Spiel. Das stimmte ihn traurig. Drei Tage später spielte er nicht mehr für den SV. Er hat niemandem von seiner Entscheidung wissen lassen, er ist einfach nicht mehr zum Training erschienen. Seine Sportkameraden haben dies anscheinend mit Leichtigkeit überwunden, und keine Trennungsschmerz empfunden, denn niemand erkundigte sich, wieso er nicht mehr kam.
Seit dem Tag verbrachte er jeden verdammten Abend alleine zu Hause, und schaute fern. An den ersten Wochenenden rief er immer die Claudia an, irgendeine billige Hure, lud sie zu sich ein, und verbrachte eine Stunde mit ihr. Doch einmal weigerte sie sich zu kommen, sie meinte nur, sie hätte schon einen anderen Geschäftstermin. Das nahm Thomas ihr persönlich, und seitdem hat es sich auch mit dem Nageln aufgehört.
Die erdrückende Julihitze quetschte seinen Schweiß aus allen Poren heraus. Es war ermattend.
Jetzt saß er in seinem Fauteille, die Füße auf dem kleinen Tisch, und neben sich Bier & fettige Chips. Und dachte sich, als er eine Mallorca Reportage auf RTL II sah, daß er im nächsten Urlaub auch auf diese Party - Insel fahren wird, um einen Mordsspaß zu erleben. Aber er wußte genau, daß er keinen Flug nach Mallorca buchen wird, sonder statt dessen seine Ferientage, so wie immer, in seiner kleinen Wohnung verbringen wird.
Er langte zu seiner Rechten und löste das vorletzte Bier aus der Gerstensaftsextett-Verpackung. Das war bereits sein fünftes Bier, und die Folgeerscheinungen vom Alkohol machten sich schon bemerkbar. Seine Augenlider schmerzten bereits vor Müdigkeit, auch seine rechte Hand hatte die ersten Ermüdungserscheinungen, nachdem er sich schon zum vierten Mal an diesem Abend eine Überdosis Gefühl verabreicht hat. Das letzte Mal war, als eine Engländerin, nachdem sie von zwei Deutschen abgefüllt worden ist, sich zu einem flotten Dreier überreden ließ. RTL II war natürlich mittendrin statt nur dabei. Thomas ließ die Gelegenheit natürlich nicht entgehen, und gab es sich zum vierten Mal. Aber jetzt konnte er nicht mehr, seine Hand schmerzte bereits, und unter uns gesagt, nicht nur seine Hand.
Er war vollkommen erschöpft. Er war so fertig, daß er nicht einmal aufstehen konnte, um das Fenster zu schließen, durch welche die ersten Mücken, vom hellen Licht angelockt, flogen. Als sich die erste, jetzt war sie noch mickrig, sie hatte seit Tagen kein frische Blut mehr zu sich genommen, entschlossen hatte, sich auf seinen Unterarm bequem zu machen, konnte er sie nicht vertreiben, vielmehr faszinierte ihn das Schauspiel, das ihm dargeboten wurde, und beobachte teilnahmslos, aber mit einer gewissen Neugier dieses Spektakel. Das Tier begann das Menschenblut abzuzapfen. Die anderen Mücken bemerkten erstaunt, daß gegen sie keine Gegenwehr geleistet wird, so folgten sie dem Beispiel ihrer Genossin. Und langsam ließen sie sich dutzendweise auf dem Körper nieder, zuerst nur auf den unbedeckten Körperteilen wie Arme und Gesicht, aber mit der Zeit schlichen sie sich in seine Kleidung ein, und malträtierten auch die unbedeckten Stellen. Es begann fürchterlich zu jucken, seine Haut war schon ganz rot wegen den vielen Stechwunden. Doch er konnte sich noch immer nicht wehren, und der Alkohol tat das Übrigen. Er schlief nämlich ein, entweder weil er zu müde wurde, oder weil ihn bereits die Kräfte verließen. Jedenfalls schlief er ein, und merkte nicht, als er zwei Stunden später wegen Blutmangel das Bewußtsein verlor. Die Tiere hatten schon viel zu viel Blut abgezapft. Sein Körper war bereits von hunderten kleinen Mücken bedeckt, Die meisten hatten bereits wegen den zu sich genommenen Blut - Alkohol Cocktails eine für sich abnormale Körperform angenommen. Sie verfärbten sich in ein dunkles Rot und ihre zarten Körper waren zum Platzen voll, mit Blut angefüllt. Und durch den Alkohol wurden sie immer aggressiver und unersättlicher, so daß sie, obwohl sie schon genug Blut hatten, nicht von ihrer Beute losließen.
Sie verfielen geradezu in einen mörderischen Blutrausch.
Thomas wachte nie mehr wieder auf, die Mücken hatten nur noch eine blasse Körperhülle mit Millionen von winzigen Einstichwunden zurückgelassen. Er wirkte etwas ausgetrocknet und ein wenig verrunzelt, aber vor allem wirkte er ziemlich leer. Das war alles, was von ihm übrigblieb.
Einige Wochen später entdeckte man seine Leiche. Seine Mutter wollte ihn besuchen kommen, und als sie ihr der Hausmeister die Tür aufgesperrt hat, erblickte sie als erste die bereits mit einr dünnen Staubschicht bedeckte Leiche ihres Sohnes. Und der Fernseher lief noch immer, RTL II zeigte bereits wie ausgelassen die Deutschen Sylvester feierten.