Die verdunkelte Sonne
Vor nicht allzu langer Zeit existierte ein 400 Seelen Dorf, das sich weit abseits von anderen Städten befand. Die Menschen, die dort lebten, waren allesamt Einheimische. Niemand kam von außerhalb und man hielt den Kontakt zu Fremden so gering wie nur irgend möglich. Lediglich Einkäufe mussten mit der Außenwelt abgeschlossen werden, aber ansonsten blieben die Leute unter sich. Der Name von einem der Bewohner war Pete. Eines Tages befand er sich auf der großen Weidefläche, die gleich an das Dorf anschloss, um spazieren zu gehen. Als er über die Wiese lief, spürte er eine eisige Brise, die an ihm vorüberzog. ‚Wie ungewöhnlich’, dachte er sich, denn in dieser Region kannte man eigentlich keine Kälte. Stets herrschten warme oder allenfalls milde Temperaturen. Doch so schnell die Brise gekommen war, war sie auch wieder verschwunden.
So dachte sich Pete nichts weiter dabei und ging seines Weges, bis er gegen Nachmittag wieder sein Zuhause erreichte, ein kleines, aber gemütliches Haus mitten im Dorf, in welchem er mit seiner großen Schwester zusammenlebte. Sie war alles für ihn und hatte sich um ihn gekümmert, solange er denken konnte, denn die Eltern der Beiden waren verstorben, als er noch klein war. Das Mädchen hieß Lilly und war 26Jahre alt, 9Jahre älter als ihr kleiner Bruder. Als Pete das Haus betrat, stand sie mit merkwürdig verklärtem Blick am Fenster und sagte: „Kannst du es sehen? So dunkel…“ - „Was ist dunkel?“, entgegnete der Junge, woraufhin Lilly antwortete: „Na die Sonne. Siehst du denn nicht, dass sie dunkler geworden ist?“ Pete starrte seine Schwester ungläubig an und schritt dann langsam auf sie zu. Als er nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt war, streckte er vorsichtig seinen Arm aus um sie zu berühren. Blitzschnell drehte sie sich um und schaute ihm direkt in die Augen. In diesem Moment waren diese so klar und leuchtend grün wie eh und je. Sie packte ihn und schrie: „Das ist das Ende, verstehst du das nicht?“ Pete war völlig perplex und wusste nicht, wie er darauf reagieren sollte, doch eine Sekunde später, löste Lilly schon wieder ihren Griff und rannte davon. Im ersten Augenblick konnte ihr Bruder nur bewegungslos dastehen und erst einige Zeit später lief er ihr hinterher. Er fand sie blutüberströmt in einer Ecke der Küche stehen. Neben ihr auf dem Boden lag ein Messer. Ihre beiden Arme waren aufgeschlitzt. „Fuck“, fluchte Pete und wieder überkam ihn diese verdammte Hilflosigkeit. Auf die Idee einen Arzt zu rufen, kam er gar nicht und so versuchte er selbst seiner Schwester zu helfen, indem er wieder hinaus lief um Verbandszeug zu besorgen. Doch als er wieder kam, lag Lilly schon am Boden und ihr Atem ging sehr flach. Sie hatte zu viel Blut verloren. Pete brach ihn Tränen aus und kniete sich neben sie. Er wollte bis zum Ende bei ihr bleiben und hielt sie fest in den Armen. Verzweifelt fragte er, warum sie das getan hatte. Doch statt einer Antwort flüsterte sie nur noch: „Flieh…“ und dann entwich der letzte Rest des Lebens aus ihr. Nachdem er Minuten, die ihm jedoch wie Stunden vorkamen, regungslos vor sich herstarrte, kam er langsam wieder zu klarerem Verstand, stand auf und lief zum Telefon im Flur. Auf dem Boden verteilte er blutige Spuren, da er in der Lache von Lilly gekniet hatte. Auch seine zittrigen Hände waren voller Blut.
Er griff nach dem Telefonhörer, der ihm aber entglitt und auf dem Boden landete. Er hob ihn wieder auf und wählte die Nummer des Arztes, was auch einige Zeit in Anspruch nahm. Bei dem Gespräch konnte er nicht allzu viel sagen und bat lediglich, dass ein Doktor zu ihm nach Hause kommen sollte. Als dieser endlich das Haus der Geschwister erreichte, fragte er Pete, was passiert war und schaute sich sofort den Leichnam an, doch außer einem verwirrten Stammeln konnte Pete nichts herausbekommen. Immer wieder sagte er: „Sonne, dunkel… Blut, tot, Schwester…“ Der Arzt sah ihn mit weit aufgerissenen Augen an und beendete sogleich die Untersuchung der Leiche. „Was sagst du da von dunkler Sonne, Bursche?“ Pete blickte ihn nur stumm an. Daraufhin stand der Doktor auf und begann den armen Jungen zu schütteln. „Du sollst mir sagen, was du da von dir gibst!“ Pete schrie vollkommen verängstigt auf, dass das seine Schwester zu ihm gesagt hatte, bevor sie sich umgebracht hatte. Der Arzt hielt inne und sah aus dem Fenster. Seine Augen weiteten sich noch mehr, wenn das überhaupt möglich war. „Der Weltuntergang“, flüsterte er und stürzte aus dem Haus. Pete stand nun allein in der Küche mit seiner toten Schwester am Boden. Ihm wurde schlecht und er hatte das Gefühl sich übergeben zu müssen, also verließ auch er das Haus und ließ die Leiche einfach dort liegen. Als er im Freien war, zitterte er, was er aber dem gerade Erlebten zuschrieb. Dass es kälter geworden war, konnte er in diesem Augenblick nicht realisieren. Er lief die vor sich liegende Straße entlang bis er das Haus von Lillys Freund Steve erreichte. Ihm musste er die schreckliche Nachricht als Erstes überbringen. Dort angekommen klingelte Pete an der Tür. Als Steve nicht sofort öffnete, drückte er erneut auf den Klingelknopf. Diesmal öffnete Lillys Freund nach ein paar Sekunden. „Pete?“, fragte dieser überrascht, „Ähm, was willst du hier? Komm doch rein, ist irgendwie ganz schön frisch draußen…“ Pete betrat ohne ein Wort zu sagen das Haus und bat Steve sich auf das Sofa zu setzen. „Du, ich muss dir etwas sagen…“, begann er. „Und was?“, entgegnete Steve. Doch als er die Miene des anderen Jungen sah, fragte er sofort: „Gott, es ist doch nichts passiert?“ - „Nun ja, doch, es ist etwas passiert, mit Lilly… Sie ist tot, Mann.“ - „Was? Aber das kann doch nicht sein, wie ist das passiert? Gott, bitte, sag mir, dass das nicht stimmt, bitte. Oh Gott, Pete, bitte…“ Steve brach in Tränen aus und Pete erläuterte ihm daraufhin, was vorgefallen war und auch, was Lilly zuletzt zu ihm gesagt hatte. Auch er reagierte wie der Doktor entsetzt auf die Worte „dunkle Sonne“. „Weißt du denn nicht was das heißt?“, meinte er, „Lilly war zutiefst gläubig, das weißt du doch. Ich kann sie vollkommen verstehen, ich glaube auch an dieses Symbol. Es steht für den Weltuntergang. In der Geschichte heißt es, wo auch immer es auftaucht, bringt es Verderben. Wir müssen hier weg!“ Mit diesen Worten rannte er zum Fenster und blickte in die Sonne. „Sie hatte Recht, guck doch mal.“ Pete schritt zu Steve heran und blickte hinaus: „Ach, das ist doch Schwachsinn. Ihr habt doch alle einen Schaden. Der Doktor hat auch schon was von Weltuntergang gefaselt. Was soll der Mist? Hallo? Meine Schwester ist tot, verflucht. Ach, ich muss hier raus. Tut mir leid…“
Daraufhin ging er und als er das Haus verließ, spürte er wieder diese Kälte. Er spazierte durch das Dorf und machte sich seine Gedanken bis auf einmal etwas Feuchtes auf seine Nase tropfte. Er blickte empor und dachte: ‚Was ist das denn? Regen? Echt seltsamer Tag heute.’ Mit einer merkwürdigen Leere, die sein Inneres erfüllte, ging er weiter bis er den Marktplatz erreichte. Dort hatte sich eine große Menschenmenge versammelt. Obwohl sein Interesse gering war, lief er trotzdem zu ihnen um zu erfahren was vor sich ging. Er wollte gerade einen der Anwesenden fragen, als sein Blick auf den Doktor fiel, der auf einem Podest stand. Sein Hals steckte in einer Schlinge. „So höret mich an!“, rief er, „Das ist das Ende! Spürt ihr es denn nicht? Ich will es jedenfalls nicht erleben. Viel Glück…“ und mit diesen Worten sprang er. Die Menge konnte das nicht mit ansehen und drehte sich entsetzt weg. Als sie sich wieder umdrehten, sahen sie den toten Doktor mit gebrochenem Genick am Strick baumeln. Es herrschte sekundenlang eine angespannte Stille bis die erste Frau zu schreien begann. Andere stimmten ein und begannen panisch davon zu laufen. Pete konnte sehen, wie sie in ihre Häuser zurückstürzten. Der Regen war inzwischen stärker geworden. Auch Pete beschloss nach Hause zu gehen, doch als er an seine Schwester dachte, die dort immer noch lag, überkam ihn das kalte Grausen. Trotzdem kehrte er dorthin zurück ohne jedoch einen Blick in die Küche zu werfen.
Er verbrachte eine unruhige Nacht, geplagt von Alpträumen, bis er sehr früh wieder erwachte und sich nach draußen begeben wollte. Heute musste er sich darum kümmern, dass jemand die Leiche seiner Schwester abholte. Er hoffte, dass sich die gestrige Panik gelegt hatte. doch als er nach draußen ging, fror er richtig und Regen prasselte unablässig nieder. Er sah Einwohner mit Koffern, die offensichtlich flüchten wollten und plötzlich ging ein größeres Hagelkorn zwischen all den Regentropfen nieder, das neben einem der Bürger einschlug. Erschrocken rannte dieser nur noch schneller davon. Diesem ersten folgten daraufhin weitere große Hagelkörner und Pete wich erschrocken ins Haus zurück. Er blickte aus dem Fenster und sah wie eines seinen Nachbarn Stuart am Kopf traf, der sofort zu Boden ging und nicht mehr aufstand. Pete blickte entsetzt auf den auf der Erde liegenden Körper. „Komm schon, steh auf. Los, steh auf.“, flüsterte er. Doch dann sah er ein kleines Rinnsal von Blut, das aus einer Wunde von Stuarts Schädel trat. „Oh Gott“, sagte Pete leise und blickte durch die Straßen. Er sah, dass nicht nur sein Nachbar am Boden lag, doch der Hagelsturm wurde immer schlimmer und seine Sicht dadurch getrübt. Aber er erkannte noch, dass sich die Leute nicht davon abhalten lassen wollten und weiterhin aus ihren Häusern stürmten. Plötzlich klopfte es an seiner Tür. Er öffnete und Steve trat ein. In der Hand hielt er eine Tasche. „Los, pack deine Sachen und komm mit.“ Pete starrte ihn an und sagte dann: „Bist du verrückt? Wenn wir da raus gehen, sterben wir mit hoher Wahrscheinlichkeit.“ – „Und wenn wir hier bleiben sterben wir zu 100prozentiger Sicherheit. Also, wir müssen es versuchen. Komm!“ – „Nein, ich bleibe hier, im Haus sind wir sicher.“ Steves Blick fiel an Pete vorbei ihn die Küche. Seine Augen weiteten sich. „Sie.. Sie.. Liegt immer noch hier?“ – „Oh, ja, in der ganzen Panik hab ich ganz vergessen…“ Steve schubste ihn beiseite und lief auf Lilly zu und ließ sich neben ihr niederfallen. Tränen überkamen ihn und er küsste immer wieder ihre Hand, wobei er ständig ihren Namen wiederholte. Doch dann veränderte sich sein Blick plötzlich und er drehte sich böse zu Pete um. „Gut, dann bleib doch mit der Leiche hier. Ich gehe.“ Mit diesen Worten ließ er Pete stehen und verließ das Haus. Die Tür fiel mit einem lauten Knall ins Schloss. Mittlerweile war der Sturm so stark, dass er nicht sehen konnte, wohin Steve gegangen war.
Pete fragte ich, ob er der einzige war, der geblieben war. Doch er glaubte nicht, dass alle in diesem Dorf solche Fanatiker waren. Ein paar mussten doch zumindest noch bei klarem Verstand sein und im Haus bleiben. Ja, er konnte sich gut vorstellen, dass ein paar Familien noch hier waren, wie z.B. die Familie Sanderson oder die Parkers. ‚Nun ja, als erstes decke ich jetzt aber meine Schwester zu, sonst verzweifle ich hier noch mehr.’, dachte er. Er stieg die Treppe nach oben und holte eine Decke, mit der er in die Küche zurückkehrte. Am Liebsten würde er sie begraben gehen, doch bei diesem Wetter konnte er das schlecht tun.
Mit zittrigen Händen warf er die Decke über die Leiche, wobei ihm Tränen über die Wangen liefen. Schnell verließ er wieder die Küche und legte sich in sein Bett. Er merkte, dass es immer kälter wurde, also versuchte er sich so gut wie möglich warm zu halten. Stunden später schlief er endlich ein. Am nächsten Tag warf er als Erstes einen Blick aus dem Fenster, doch er konnte nichts erkennen. Alles war einfach nur weiß. Pete begann am ganzen Körper zu zittern und zog das Wärmste an, was er besaß. Dann ging er zur Eingangstür und versuchte sie zu öffnen, doch es funktionierte nicht. ‚Verflucht, die muss glatt zugefroren sein. Die, die jetzt draußen sind, haben’s sicher nicht gepackt…’, dachte er, womit er genau ins Schwarze getroffen hatte. Die Gruppe der Flüchtigen hatte sich nicht weit vom Dorf entfernt, als diese von einem Schneesturm eingeholt worden war. Der Schnee hatte die gesamten Leute unter sich begraben, die daraufhin erstickt worden oder erfroren waren. So auch Steve, dessen letzter Gedanke seiner geliebten Lilly gegolten hatte.
Pete versuchte weiter die Türe zu öffnen, bis er realisierte, warum er draußen nichts außer diesem Weiß sah. „Schnee“, stieß er hervor, „das ist Schnee.“ Das ganze Dorf war über Nacht eingeschneit worden, die Schneemassen ragten so hoch, dass es sogar die Häuser unter sich begraben hatte. ‚Na klasse’, dachte er sich. ‚Wenn das ganze nicht abtaut, bin ich hier gefangen. Dann verhungere ich entweder oder ich erfriere. Sind ja rosige Aussichten…’ Er wusste absolut nicht, was er tun sollte. Immerhin konnte er ja auch gar nichts gegen seine aussichtslose Lage unternehmen. Also setzte er sich auf die Couch und wartete ab. Nach ein paar Tagen war der Gestank der Leiche seiner Schwester unerträglich. Doch er konnte nichts daran ändern. Er hatte das Gefühl, dass ihn das in den Wahnsinn treiben würde. ‚Wär’ ich lieber raus und hätte mich von einem Hagelkorn erschlagen lassen’, dachte er. Einige Tage später war er nun wirklich kurz vorm Durchdrehen. Sein Essen war aufgebraucht, Trinken war auch nicht mehr viel da und der Schnee wurde nicht weniger. Was er nicht wusste war, dass er der letzte Überlebende war. Die Kinder des Dorfes, die geblieben waren, waren erfroren. So auch einige Erwachsene und ein paar hatten sich umgebracht, da sie keinerlei Hoffnung auf Rettung mehr besaßen. Pete wollte sich nicht umbringen, aber er wollte auch nicht jämmerlich verhungern. Gegen die Kälte war er quasi schon immun geworden. Er spürte sie fast gar nicht mehr. Immer wieder lief er in die Küche um sich zu vergewissern, dass seine tote Schwester dort noch lag. In seinen Träumen stand sie auf und trat vor ihn um ihm zu sagen, dass er Schuld habe an ihrem Tod. Pete hielt das kaum aus, er lebte unter ständiger Angst und konnte kaum schlafen. Nach noch einer Woche war seine Paranoia so groß, dass er ständig nur noch durch das Haus rannte und sich immer wieder umblickte, um zu überprüfen, ob Lilly ihm vielleicht folgte. Irgendwann siegte dann seine Angst vor dem Verhungern über seine Angst sich das Leben zu nehmen. Er konnte keinen Tag länger mehr so weitermachen. Also lief er in die Küche, nahm das Messer, das schon seine Schwester benutzt hatte um sich umzubringen und schlitzte sich die Pulsader seines linken Armes auf. Ein jäher Schmerz überkam ihm, doch er musste sicher gehen, dass es reichte, also nahm er das Messer in die linke Hand, was sich als schwerer erwies, als er erwartet hatte und schlitzte sich so gut er konnte nun auch seinen rechten Arm auf. Wieder überkamen ihn höllische Schmerzen. Seine Arme brannten wie Feuer. Er setzte sich auf den Boden und lehnte sich gegen die Küchenvitrine neben seine Schwester. Das Messer hatte er von sich geworfen und er flüsterte Lilly einige letzte Worte zu:„Du hattest Recht, es tut mir Leid, dass ich dir nicht geglaubt habe. Das hier ist wirklich das Ende…“ Kurz darauf verschwamm der Raum vor seinen Augen und schließlich wurde er völlig schwarz. Und so starb Pete und damit auch der letzte Einwohner des Dorfes.