Mitglied
- Beitritt
- 04.10.2006
- Beiträge
- 210
- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 17
Die verdammten Bullen
Gatter strauchelte. Schwerfällig versuchte er, sich zu fangen, aber Erschöpfung und sein durch den Unfall geschröpfter Orientierungssinn machten ihm einen Strich durch die Rechnung. Ächzend fiel er hin und prallte mit dem Gesicht voran auf den von klammem Laub bedeckten Waldboden. Der Reflex, den Sturz mit den Händen abzufangen, war da gewesen, aber nicht die Kraft, ihn zu realisieren.
Keuchend blieb Gatter liegen, der Rucksack war ihm in den Nacken gerutscht und drückte sein Gesicht mit seinem hundertzwanzigtausend Euro schweren Gewicht in den modrigen Waldboden. In Gatters Ohren heulte es, die Sirenen verfolgten ihn nun bereits, seitdem Menninghaus den Wagen mit sechzig Sachen vor einen Baum gesetzt hatte. Er war sich nicht sicher, konnte sich nicht sicher sein, ob es sich um echte Sirenen handelte oder um etwas, das ihm sein wenigstens mittelschwer erschüttertes Hirn vorgaukelte. Die Kühle des vom Regen durchweichten Laubes tat gut. Das Gefühl der Atemlosigkeit, das ihn seit dem Überfall auf die Raiffeisenbank in Neuwied nicht mehr losgelassen hatte, versickerte in klammen Moder des Unterholzes.
Die Raiffeisenbank. Alles war so gelaufen, genau wie Menninghaus es geplant hatte. Rein, Waffen raus, einem gesund aussehenden Kunden (man wollte schließlich nicht, dass einem da jemand wegstarb) sofort aufs Maul geben, damit war die Sache klar gewesen. Keine Mätzchen, Geld her. Und dann nichts wie weg.
Menninghaus war auf die A61 gefahren. Gatter hatte sich nichts dabei gedacht. Hauptsache, man kam voran. In Neuwied hatte sich Menninghaus fast schon auffällig straßenverkehrsordnungskonform verhalten, und als ihnen die verdammten Bullen mit johlenden Sirenen und hektisch flackernden Lichtern entgegengebraust kamen, hatte Gatter alles an Selbstbeherrschung aufbieten müssen, sich nicht in embryonaler Haltung auf dem Beifahrersitz zusammenzukrampfen. Durch den bleischweren Knoten in seinen Eingeweiden hatte Gatter erst bemerkt, dass auch Menninghaus kein Kaltblut war, als sich dessen Anspannung bei hundertvierzig Sachen in einen Monolog ohne Punkt und Komma auflöste.
In missbilligender Erinnerung drehte sich Gatter schnaubend zur Seite und sammelte seine Kräfte. Mein Gott, was hatte sich Menninghaus für einen Kram zusammengefaselt. Angefangen hatte es mit einer Informationsviertelstunde über den Sozialreformer Raiffeisen, einen Mann mit doppeltem Vornamen, der Gatter inzwischen entfallen war und dessen Bank sie gerade ausgeräumt hatten. Und danach: die Eifel. Eifel, das war für Gatter bislang nur eine Richtung gewesen, eine, von der er nicht einmal wusste, wo sie genau lag. Wie Olpe. Menninghaus aber stammte aus einem Kaff mitten im Deutsch-Belgischen Nationalpark, Dreiborn oder so ähnlich. Damit nicht genug, seine Heimatverbundenheit trug offenbar enzyklopädische Züge. Menninghaus begann, ihn mit geologischen, topographischen und völkerkundlichen Bonmots über „seine“ Eifel zu traktieren, die Gatter nach bestem Können zum einen Ohr herein- und zum anderen hinausventiliert hatte.
Als Menninghaus wie selbstverständlich bei Weilerswist auf die A1 abbog, schwante Gatter etwas. Seine Anmerkung, so komme man aber nicht nach Holland, quittierte Menninghaus mit einem opaken Lächeln und dem nicht minder diffusen Hinweis, er habe da etwas vorbereitet, Gatter solle sich mal keine Gedanken machen. Gatter machte sich Gedanken. Jetzt erst recht.
Das letzte Licht schwand, als Menninghaus schließlich von der Autobahn abfuhr. Gatter war hingebungsvoller Stadtmensch, das merkte er jetzt. Die straßenlaternenlose Dunkelheit ließ ihn schaudern. Es war wie eine Fahrt durch die Tiefsee, außerhalb des Wagens, den Menninghaus tollkühn durch sich scheinbar ziellos dahinwindende, finster umwaldete und regennasse Landstraßen steuerte, weste das Nichts.
Dazu kam das unablässige Geplapper. Mit vorgeschobenem Unterkiefer blickte Gatter zu dem schnatternden Etwas hinter dem Steuer hinüber. Dann auf das Autoradio. Wieder zu Menninghaus. Blablabla, Hohes Venn, Monschau, weiß der Teufel was alles, es sprudelte nur so. Gatter konnte nicht mehr. Er schaltete das Radio ein. Es lief ein Oldie, jemand besang seinen eindringlichen Wunsch nach einem Hammer. Menninghaus hielt inne, legte die Stirn in Falten, schaltete es wieder aus. Gatter knipste es umgehend wieder an, diesmal lauter. Nun befand sich auch Menninghaus’ Unterkiefer im Vorwärtsgang. Mit energischer Geste schaltete er das Gerät erneut aus. Gatter machte dies mit so viel Schwung rückgängig, dass er befürchtete, er habe sich die Schulter ausgekugelt. Menninghaus signalisierte per Seitenblick, dass er dies nicht guthieß und schaltete das Radio aus. Einen Augenblick lang war alles still. Dann machte die Straße einen Knick. Der Wagen fuhr geradeaus.
Die Erinnerung an den Aufprall brachte Gatter ruckartig auf die Füße. Sein Gehirn hatte sich noch nicht die Mühe gemacht, zu rekonstruieren, was eigentlich passiert war. Im Grunde war es auch egal. Menninghaus konnte jetzt nicht mehr reden. Als Gatter aus der ersten Benommenheit wieder zu sich gekommen war, hatte er zunächst das Radio eingeschaltet, das war das erste gewesen, das ihm eingefallen war. Aber es ging nicht. Dann sah er, warum. Der Motor des Wagens und Menninghaus teilten sich den Fahrersitz. Es bestand kein Zweifel daran, dass er tot war. Es dauerte allerdings eine Weile, bis Gatter sich halbwegs sicher war, dass er selber noch lebte. Er versuchte, die Beifahrertür zu öffnen, aber die war nicht mehr da. Trotzdem kam er nicht aus dem Wagen. Irgendwann merkte er, dass er noch angeschnallt war. Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits das Heulen der Sirenen im Ohr. Verdammte Bullen. Irgendwie war er aus dem Wagen gekommen, irgendwie hatte er daran gedacht, den Rucksack mit der Beute an sich zu nehmen, war irgendwohin losgelaufen. Mit pochendem Schädel, brennender Kehle, stechendem Brustkorb.
Gatter atmete tief durch und setzte sich wieder in Bewegung. Vielleicht, dachte er, vielleicht ist es ja gut, dass ich nicht weiß, was ich tue. Dadurch bin ich nicht berechenbar. Dann dachte er: Idiot. Er trottete weiter, ließ sich von nass herabhängenden Ästen ohrfeigen, taumelte ziellos im halbgaren Licht des dreiviertelleeren Mondes ins eifelanische Unterholz.
Irgendwann trat er plötzlich aus dem Wald heraus und stand vor einem Zaun. Zivilisation, dachte er matt und handelte sich einen heftigen Stromschlag ein, als er gedankenverloren seine Hände um den blanken Draht des Weidezaunes legte. Nachdem er sich davon erholt hatte, sah er, dass am anderen Ende der Wiese, die von dem Zaun eingefasst war, ein hölzerner Verschlag stand, vermutlich vorgesehen für die Unterbringung von Futtervorräten und der verdammten Batterie, die ihm zwei taube Arme und einen unsicher galoppierenden Herzschlag eingebracht hatte. Ein Versteck, wenigstens für ein paar Stunden. Umständlich befreite er sich von seinem Rucksack und warf ihn ungelenk über den Zaun. Dann legte er sich auf den Boden und robbte unter dem bedrohlich niedrig hängenden, untersten Draht des Zaunes hindurch, tatsächlich, ohne erneut elektrokutiert zu werden.
Scheiße, dachte Gatter, als er in etwas Feuchtkaltes griff, das sich bei näherer Betrachtung als genau das herausstellte. Er hatte kurz das Gefühl, dass der Boden bebte. Rhythmisch. Menninghaus hatte etwas von Vulkanen erzählt, aber das konnte es ja wohl nicht sein. Keuchend kämpfte sich Gatter auf die Beine. Er hörte ein Schnauben, das er für sein eigenes hielt, ein Trommeln, das er als seinen Herzschlag fehlinterpretierte. Über allem jaulten heiser die Sirenen. Als er hinterrücks von einer wütend herantrabenden Tonne Lebendgewicht gerammt und durch die Luft geschleudert wurde, fuhr ihm ein abstruser letzter Gedanke durch den Kopf: Jetzt hatten ihn die verdammten Bullen doch erwischt.
Womit er gewissermaßen nicht ganz falsch lag.