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Die verängstigte Seele
Die verängstigte Seele
Es lebte einmal eine sehr verängstigte Seele, die sich meist in ihrer dunklen Höhle verkroch und große Angst hatte hinaus in die Welt zu gehen, welche ihr nur bedrohlich und böse vorkam. Sogar den Tag über blieb sie lieber eingemummt in ihrer warmen Wolldecke im Bett liegen, und versuchte viel zu schlafen. Das Bett war der einzige Ort, an dem sie sich sicher und geborgen fühlte und keine Angst zu haben brauchte. Das Schlafen tat ihr zwar gut, und beruhigte sie, doch auf Dauer merkte die verängstigte Seele, dass ihr etwas fehlte...
Als sie sich traute einmal für kurze Zeit aus ihrer Höhle zu spähen, sah sie, wie die anderen Seelen draußen lebten. Sie schienen gar keine Angst zu haben hinauszugehen, und hüpften unbeschwert und frei durch die Welt. Da wurde die verängstigte Seele ganz traurig, denn sie wollte auch gerne so sein wie die anderen, doch sie schaffte es nicht, alleine aus ihrem dunklen Loch herauszukommen. Zu groß und mächtig war einfach die Angst, die sie darin festhielt.
Sie weinte deshalb tage- und nächtelang bittere Tränen und fühlte sich ganz machtlos und alleine. Sie erkannte, dass sie gefangen war in ihrer eigenen Höhle, und schrie deshalb oft um Hilfe. Doch niemand erhörte sie. Da sie so verzweifelt war, dachte sie bereits daran, ihrem jungen Seelenleben ein Ende zu setzen. Einzig und allein ihre Angst hielt sie davon ab diesen endgültigen Schritt wirklich zu wagen...
Eines unerwarteten Tages nahm ein kleiner hellhöriger Vogel ihre Hilfeschreie wahr und kam herbeigeflogen. Er setzte sich an den Eingang ihrer Höhle und versuchte hineinzuschauen. Doch die verängstigte Seele verkroch sich bis ganz ans Ende ihrer Höhle, so dass er nur Dunkelheit sehen konnte. Er war ein Fremdkörper für sie und machte ihr große Angst. Auch wenn er nichts erkennen konnte, blieb der kleine Vogel noch eine ganze Weile am Eingang sitzen. Er spürte, dass ganz tief dort drin etwas leben musste, und flog viel später erst wieder fort. Daraufhin kroch die verängstigte Seele vorsichtig wieder hervor, um noch ein paar letzte Sonnenstrahlen zu erhaschen, deren Wärme sie gerade noch am Leben erhielten. Der kleine Vogel kam schon nach einigen Tagen zurück, und erstattete ihr von nun an einmal in der Woche einen Besuch. Er war nämlich ein außerordentlich geduldiger und neugieriger Vogel und wollte gerne wissen, was das für eine Seele war, die sich so tief in ihrer Höhle verkrochen hatte...
"Wer bist du ?" piepte er des öfteren in ihre Höhle hinein und wartete auf eine Antwort. Doch es kam keine, denn die verängstigte Seele war es nicht gewöhnt zu sprechen, weil ja sonst nie jemand mit ihr sprach.
Mit der Zeit fand sie jedoch Gefallen daran, dass der Vogel regelmäßig vorbeigeflogen kam und ihr etwas vorzwitscherte. Er konnte sehr gut singen, und während die verängstigte Seele seinen wunderschönen Melodien lauschte, konnte sie für einen Moment einfach ihre Angst vergessen.
In seinen Liedern erzählte er ihr von der einzigartigen Natur, dem stetigen Wechsel der Jahreszeiten, sang von fernen Ländern, von Freiheit, Liebe und Hoffnung. Es waren beruhigende Känge, die die verängstigte Seele in ihr Herz aufnehmen konnte und die ihr Wärme spendeten. So brauchte sie sich nicht mehr ständig in ihre dicke Wolldecke einzuhüllen. Und es wurden Sehnsüchte in ihr wach, endlich auch all die Dinge zu sehen und zu erleben, von denen der kleine Vogel ihr vorsang.
Einmal fragte der kleine Vogel die verängstigte Seele: "Warum versteckst du dich immer in deiner Höhle ? Hier draußen ist es doch viel schöner !"
"Ich habe Angst,"erwiderte die verängstigte Seele, und erschrak zugleich, dass sie aufeinmal sprechen konnte.
"Wovor hast du denn Angst?" fragte der Vogel weiter.
"Ich habe große Angst vor der ganzen Welt, sie kommt mir nur böse vor !"Daraufhin dachte der kleine Vogel lange verwundert nach, bis er schließlich glaubte sie zu verstehen und gerührt sagte: "Oh je, du musst ja grausame Dinge erlebt haben, dass du so verängstigt worden bist !" Daraufhin kamen der verängstigten Seele schmerzvolle Erinnerungen hoch, die sie sehr lange herzzerreißend weinen ließen...
Der kleine Vogel blieb voller Mitgefühl bei ihr, und trauerte mit ihr, bis der letzte Tropfen alter Schmerz aus ihr herausgeflossen war.
"Komm," piepte er schließlich zu ihr, "Flieg mit mir. Du brauchst keine Angst mehr zu haben, weil ich bei dir bin."
Die verängstigte Seele fasste Vertrauen zu dem kleinen Vogel, und kam tatsächlich aus ihrer dunklen Höhle herausgekrochen.
Und so geschah es, dass sie schließlich auf dem Rücken des Vogels hinausflog, und das erste Mal die Welt ohne Angst erblickte. Diesmal hatte sie Freudentränen in ihren Augen, weil sie die Welt nie zuvor richtig wahrgenommen hatte, sondern sich immer nur vor ihr gefürchtet hatte.
Mit diesem Flug verflog auch die Angst der Seele etwas, und von nun an traute sie sich regelmäßig aus ihrer Höhle herauszukommen und die Welt Stück für Stück ein wenig mehr für sich zu erkunden...