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Die unverstandene Zeit
Da sitze ich nun gemütlich auf einer Parkbank. Habe die Beine von mir gestreckt. Schaue in den fast blauen Himmel und begebe mich auf einer kleinen Wolke auf die Reise. Langsam, ganz langsam atme ich tief ein und aus. Ich wäre darüber fast eingeschlafen. Wäre schlecht. Denn wenn ich schliefe, stünde doch die Welt still. Oder etwa nicht?
Mitunter schleiche ich mich leise an die Menschen heran. Auf manche wirke ich geheimnisvoll. Kann aber auch durchaus mahnenden Charakter annehmen.
„Hey, Alte, was sitzt du denn da so und lässt dir die Sonne auf den Pelz brennen? Scheinst ja mächtig Zeit zu haben.“
Ein pickeliger, schlaksiger Bengel schmeißt sich neben mich auf die Bank, dass diese ins Wanken gerät und ich Angst habe, mit ihr – samt pickeligem Burschen – umzukippen.
„Ich habe nicht nur mächtig Zeit, nein, ich bin die Zeit persönlich.“
Mein Nebenan reißt die Augen auf und starrt mich fassungslos an. „Ay, das ist ja krass. Ich wusste gar nicht, dass die Zeit gestreifte Pullover trägt. Und überhaupt, seit wann kann die Zeit reden?“
„Was würdet ihr nur ohne mich tun? Die Welt würde im Chaos versinken. Nichts käme mehr zusammen. Ihr Menschen könntet einander nicht mehr verabreden und euch somit nicht mehr treffen und heute, morgen, nächste Woche oder das Jahr. All` das gäbe es nicht. Wie sollte das Miteinander noch funktionieren?“
Der Bursche neben mir springt auf, reißt sein Skateboard an sich, bedenkt mich mit mitleidigen Blicken und murmelt im Weggehen: „Die Alte hat den Schuss wohl nicht gehört. Die ist ja irre. Hoffentlich ist die nirgendwo abgehauen.“
Traurig blicke ich ihm nach. Der hat nichts begriffen.
Nanu, wer zupft an meiner Jacke? Ich sehe mich um. Ein kleines Mädchen steht hinter der Bank, nimmt meine langen, grauen Haare in seine kleinen Händchen und sieht mich mit großen, neugierigen Kinderaugen fragend an. „Wer bist denn du? Dich habe ich hier noch nie gesehen. Du kommst mir sehr klug – und vor allen Dingen – sehr alt vor. Musst du bald sterben?“
„Setz dich zu mir, dann werde ich deine Fragen beantworten. Zuerst einmal, ich bin die Zeit und ich bin alt, sehr alt. So alt wie die Menschheit. Sterben werde ich dann, wenn es keine Menschen mehr geben wird. Denn dann braucht mich Niemand mehr. Klug, ja ich bin sehr klug. Ich kann mich auf jede Situation einstellen. Mich gibt es überall. Auf der Erde, im Himmel, auf den Bergen, in Baumwipfeln, im Puppenwagen, in der Schule, am Arbeitsplatz und sogar im Kindergarten. Überall, wo die Menschen sind, da bin auch ich. Mir gehorchen die Menschen, die meisten jedenfalls. Ich bin sehr mächtig. Allerdings gibt es auch Menschen, in der Hauptsache Kinder, die nicht auf mich achten oder sogar nicht mögen.“
Das kleine Mädchen fängt an zu zappeln, steht auf, sieht mich an und meint: „Ich muss jetzt aber schnell nach Hause, sonst komme ich noch zu spät und meine Mama schimpft mich aus, dass ich die Zeit vertrödelt habe.“
Ich sitze noch immer auf der Bank und frage mich, ob man mich je verstünde.
Ein Mann und eine Frau streben eilig auf mich zu und setzen sich hin. Die beiden sind ende vierzig oder anfang fünfzig. Sie trägt ein blaues Kostüm und eine weiße Bluse. Er einen dunkelgrauen Anzug und ein hellgraues Hemd. Offensichtlich Geschäftsleute. Sie nehmen Hamburger aus einer Tüte und beißen hastig hinein. Noch mit halbvollem Mund fängt die Frau an zu reden: „Sag mal Rainer, schaffst du die Fertigstellung der Statistik noch bis heute Nachmittag? Du weißt, die Zeit drängt.“
„Ich hoffe es. Immer dieser Stress und diese Eile. Langsam aber sicher habe ich die Nase voll davon. Es ist wahnsinnig, wie sehr die Zeit rast.“
„Entschuldigen Sie, wenn ich mich einmische. Es ist aber so, dass die Zeit niemals rast und auch nicht schneller vergeht. Ich spreche aus Erfahrung, denn ich bin die Zeit.“
Die beiden schauen sich peinlich berührt an und ich merke deutlich, dass sie an meinem Verstand zweifeln.
Die Frau stopft sich den letzten Bissen in den Mund, fasst Rainer an der Hand, springt auf und zieht ihn mit sich fort.
Im Weggehen höre ich noch, wie der Mann sagt: „Es ist ja entsetzlich, welchen Schatten die Alte so neben sich herlaufen hat.“
Ich nehme ihm das nicht übel, blicke auf meine ausgelatschten Sandalen und denke darüber nach, mich von dannen zu machen.
Als ich aufschaue, sehe ich, wie sich ein alter Mann, gestützt auf einen leise quietschenden Rollator, der Parkbank nähert. Er sieht mich freundlich an und fragt höflich: „Darf ich mich zu Ihnen setzen?“
„Selbstverständlich. Ich freue mich, dass Sie mir Gesellschaft leisten wollen.“
„Ja. ja, man hat ja nicht mehr allzu viel Abwechslung. Das Alter macht einsam und schwerfällig. Am schlimmsten aber ist die Zeit, die einfach nicht vergehen will. Ich weiß gar nicht, was ich mit ihr anfangen soll. Ein Tag ist so lang und öde, wie der vorhergegangene. Ach, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Arthur König. Und wer sind Sie?“
„Ich bin die Zeit, eigentlich die unverstandene Zeit, denn die Menschen sind nicht in der Lage, sinnvoll mit mir umzugehen. Sie begreifen es nicht, dass ich ihr Freund und nicht ihr Feind bin. Entweder haben sie keine Zeit oder sie haben zu viel davon und wissen nichts mit ihr anzufangen. Das ist sehr bedauerlich. Leben Sie wohl.“
Ich reiche dem alten Mann die Hand, wende mich ab und mache mich auf den Weg.