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Die Unterwelt
Die Unterwelt
1
Die Finsternis bricht über mich mit einer solchen Geschwindigkeit herein, dass ich mehr als eine halbe Minute brauche, um zu verstehen, dass ich nicht tot bin.
Ich fühle meinen Puls, der rasend galoppiert. Ich spüre meinen Körper, der ein einziger schmerzender Quell zu sein scheint.
Was ist passiert?
Gerade eben wanderte ich noch durch diesen einsamen, verlassenen Park. Weder Mensch noch Tier war weit und breit zu sehen und dann – aus heiterem Himmel - gab die Erde unter mir nach.
Mein Blick geht nach oben gen Himmel, oder dorthin, wo er sich im allgemeinen befindet. Doch was ich sehe, gefriert mir den Atem. Es ist, als ob die Erde ein zweites Mal in Bewegung gegangen ist und das Dach über mir verschlossen hat.
Ich sehe den rauen, dreckigen Untergrund von Mutter Natur, vielmehr erahne ich ihn, erfühle ihn, so dunkel ist es.
Ich richte mich auf und bemerke, dass ich eine Spur größer bin, als dieses Loch es zulässt. Loch, oder was auch immer es ist.
Ich taste mich vorwärts. Greife mit beiden Händen in den Dreck und spüre nun die lehmige weiche Konsistenz – wie Scheiße fühlt es sich an. Und riechen tut es, als wären hier Leichen begraben.
Für einen Moment erstarre ich.
Der Gedanke lässt mich nicht los.
Was, wenn das ein Spiel des Teufels ist und ich hier lebendig begraben bin, wie schon etliche zuvor. Und dieser beißende Geruch tatsächlich...aber nein, das kann nicht sein.
Für alles gibt es eine vernünftige Erklärung. Ich kann nicht zulassen, dass ich mich solch abstrusen Ideen hingebe.
Also schüttele ich mich und diesen Gedanken fort und bewege mich weiter. Vorsichtig und bedacht bei dem geringsten Anzeichen von Helligkeit reagieren zu können.
Langsam beschleicht mich ein anderes, ein neues und gleichsam erschreckendes Gefühl. Ich habe Hunger.
Ich habe einen solchen Hunger, dass sich mir der Magen dreht.
Aber wie ist das möglich. Gerade war ich doch noch in diesem Restaurant am Rande der Stadt und habe gegessen wie ein König. Unmöglich, dass ich hungrig bin.
Oder vielleicht doch?
Habe ich vielleicht den Sturz und das Aufwachen als einen einzigen Moment wahrgenommen und bin aber tatsächlich schon seit mehreren Stunden hier unten? Ist es möglich, dass ich mich auf meine eigene Wahrnehmung nicht mehr verlassen kann?
O Gott. Was ist bloß passiert?
„HIILFEE!“ Mein Schrei hört sich dumpf an, so, als würde er augenblicklich von diesem lehmig feuchten Boden aufgesaugt.
Dieses elendige feuchte Loch, das mich umschlossen hält wie ein feuchtes ewiges Grab.
Ich setze mich hin und wundere mich ein zweites Mal an diesem Tag über mich selbst. Ich vergieße Tränen. Ich weine und habe Hunger und ich fühle mich allein und ausgeliefert. Und das Schlimme ist, ich weiß nicht, wem ich mich ausgeliefert habe und warum und wie und ...
Ich beobachte einen Tropfen, der auf den dicken Stein vor meinen Füßen gelandet ist und beim Aufprall in etliche, viel kleinere zersprungen ist. Fasziniert sehe ich die Oberfläche, auf der funkelnde Punkte tanzten. Licht. Es ist Licht. Gott, Verdammt!
Augenblicklich springe ich auf und versuchte die Quelle des Lichts ausfindig zu machen. Stürze blindlings in einen weiteren dunklen Korridor. Stoße mir den Knöchel an einen Scheißfelsen, humple weiter und immer weiter. Der nächsten Korridor und immer mit den Händen schützend vor meinen Körper, um all die Dinge zu ertasten, die meinem Körper Schaden zufügen könnten. Ich laufe – soweit man in gebeugter Haltung überhaupt von Laufen reden kann, bis ich völlig außer Atem bin. Völlig außer Atem und völlig am Ende.
Ich sehe mich um und erkenne immer noch dieselbe schreckliche Dunkelheit um mich herum, immer noch denselben Dreck und den selben lehmigen Matsch.
Durch das Laufen habe ich viel Energie verbrannt. Soviel, dass ich von dem Rumpeln zusammenzucke. Es hört sich an wie ein Grollen aus den Tiefen der Hölle. Doch es ist nur mein eigener Magen.
Begleitet von diesem Knurren überlege ich, ob ich einfach nur in die falsche Richtung gelaufen, oder an der falschen Stelle abgebogen bin. Herrgott, das kann doch sein, oder?
Ich gebe meinem Instinkt die Schuld. Hätte ich auf meinen Verstand gehört, wäre ich an der Stelle erst einmal sitzen geblieben, dort, wo mir das Licht aufgefallen war und hätte mich erst einmal vorsichtig in die eine, dann in die andere Richtung bewegt. Nicht dieses sinnlose Draufloslaufen, sondern mit bedacht.
Ich beschließe zum Ausgangspunkt zurückzugehen und es von da aus noch einmal zu versuchen. Trotz der Dunkelheit traue ich mir zu, ihn wieder zu finden.
Als ich den dritten Korridor passiere, muss ich mir eingestehen, dass ich mich geirrt habe und ich nun ganz und gar nicht mehr weiß, wo ich bin.
Ist es nicht merkwürdig, dass man ausgerechnet in so einer Situation, in der man jede Kontrolle verloren hat, die völlig aussichtslos schein, plötzlich anfängt zu lachen? Aber genau das passiert mir. Ich muss lachen. Ich muss so heftig lachen, dass ich einen Lachkrampf bekomme und Tränen vergießen muss.
Begierig stürze ich mich, nachdem ich mich mit Gewalt dazu zwinge, mit dem Lachen aufzuhören, auf den Boden, suche wie ein Verdurstender nach den Tropfen, die mir den Weg weisen können. Dieses Quell des Lebens.
Ich spähe auf den Boden wie ein Adler auf eine wieselartig flüchtende Maus und tatsächlich scheint in diesem flüchtenden Gedanken wieder eine Spur Wahrheit zu stecken. Die Tropfen flüchten. Sie landen nicht auf einem harten Stein, sondern werden einfach so von dem lehmigen Boden getrunken.
Einfach so.
Und ich liege auf den Boden, lasse meine Hände darüber fliegen und bete, dass es nicht wahr ist. Das es nicht wahr sein kann, dass ich hier für immer und ewig festsitze.
Nein, sage ich zu mir.
Für immer, ganz sicher nicht.
2
Der frühe Morgen, oder was auch immer es für eine Tageszeit sein mag, bereitet mir einen sorgenvollen Augenblick, als ich erkenne, dass sich nichts geändert hat. Umgeben von dieser unwirklichen bizarren Landschaft, deren dunkle Krater meinen Rücken gepeinigt haben, stehe ich stöhnend auf. Sämtliche Glieder signalisieren mir, dass mein Energievorrat am Ende ist. Ich bin erschöpft. Doch gleichsam entsteht in mir ein großer Widerwille. Ich mag mich nicht einem Schicksal ergeben, der für Menschen gedacht ist, die aufgeben, bevor sie etwas gewagt haben. Ich mag nicht still und heimlich in irgendeinem Erdloch verenden wie ein elendiges Tier. Ich will alles versuchen – kämpfen, um mich von dieser Umklammerung zu lösen.
Also beginne ich.
Ich stoße meine Fingerspitzen in das Erdreich, dort wo es am durchlässigsten erscheint, wo der Widerstand geringer ist und ich die Hoffnung hege, dass ich mir einen Tunnel bis hinauf ans Tageslicht graben kann.
Schaufle händevoll Dreck und warmen lehmigen Boden beiseite, fege mit meinen Handflächen über den Boden bis sie ganz rissig sind und aus sämtlichen Poren das Blut zu rinnen scheint.
Je länger es dauert, desto mehr Willen erzeuge ich, je mehr Dreck ich beiseite räume, desto unbeugsamer werde ich. Ich will hier nicht verrecken.
Während ich kaum vorwärts komme und die Verzweiflung überhand zu gewinnen scheint, meldet sich in den Zeiten größter Depression auch zu allem Überfluss mein leerer, hungriger Magen. Er verspottet mich. Er schickt mir Wahnvorstellungen in meinen Kopf von unfassbaren Dingen. Fleisch, soviel, dass ein Mensch es nicht alleine essen kann. Wein, soviel, dass mehrere Hochzeitsgesellschaften berauscht würden. Und dazu dieses elendige Knurren. Dieses Rumpeln aus den Tiefen meiner Eingeweiden. Es scheint, als ob es ein Beben ist, das aus meinem Innern heraus, meine Gedärme durcheinander wirbelt. Mein Herz poltert und meine Lungen keuchen. Ich fühle mich so elend wie nie zuvor in meinem ganzen Leben.
Es wäre ja auch ziemlich verwunderlich, hätte ich Vergleichbares schon erlebt und könnte von den Erfahrungen zehren, wie ich mit solchem Schmerz, solch unfassbaren Leid umzugehen habe.
3
Am Ende des Tages sind wir alle alleine.
Keiner ist in der Nähe, wenn du ihn brauchst, wenn du ihn wirklich, wirklich brauchst. Niemand, der dich in den Arm nimmt und dir Trost spendet. Keiner, der Mitgefühl zeigt. Nur du – niemand sonst.
Mein Körper scheint so ausgetrocknet zu sein, dass er nicht einmal mehr Tränen für mich übrig hat. Ich habe versagt.
Ich habe es nicht zu ende gebracht.
Der Tunnel, den ich gegraben habe, dieser kümmerliche Kanal, der gerade so weit in das Erdreich hineinreicht, dass ich mit meinem Kopf anstoße, noch bevor ich gänzlich darin verschwunden bin, ist alles, was ich geschafft habe. Mehr habe ich nicht zustande gebracht. Nur das da.
Ich frage mich, ob ich für Sünden bestraft werde, die in meiner Vergangenheit ruhen. Irgendetwas, was ich getan oder ausgelassen habe zu tun.
Wer ohne Schuld ist, der werfe den ersten Stein – so heißt es doch. Doch anstatt einen Stein zu werfen, hat man mich im Ganzen einfach gepackt und in ein so tiefes Loch geworfen, dass ich niemals wieder das Tageslicht sehen werde.
Ich bin verdammt worden die kärglichen Reste meines Lebens im Dunkeln zu fristen und diese Scheiße um mich herum zu ertragen.
Als mein Magen wieder anfängt zu rumpeln, wundert es mich nicht. Ich hatte ja wieder meine Depression. Es wunderte mich auch nicht, dass es diesmal so laut wurde, dass ich jedem ausgewachsenen Grizzly Konkurrenz machen dürfte. Was mich jedoch wunderte – und nicht in einem Sinne von – Oh guck mal, wie schön – war, dass das Gefühl des Sterbens so heftig über mich einbrach, dass ich mich an alles klammerte, was sich in meiner unmittelbaren Umgebung befand. Ich langte wahllos zu und hielt mich fest. Ich war mir sicher, ich würde sterben.
Mein Herz rast wie wild, das Pochen in meinen Schläfen ist so stark, dass ich das Gefühl habe, sie werden gleich auseinander bersten. Ich stoße vor lauter Schmerz meine Hand in das Erdreich am Ende des Kanals, woraufhin es zusammenbricht und über mich einfällt. All der Dreck, all der Schmutz, mit dem ich mich die ganze Zeit über befasst habe, fällt über mich zusammen, verschüttet mich und begräbt mich bei lebendigem Leibe.
4
Dreck, der einem näher ist, als zwei Zentimeter kann sich als etwas unvorstellbar Modriges, unvorstellbar Ekelhaftes herausstellen. Versuche ich durch den Mund zu atmen, würde dieser augenblicklich mit diesem Dreck verstopft. Atme ich durch die Nase, ganz dünn, sind es nur einzelne kleine Partikel, die ihren Weg zur Lunge finden. Die Augenlider halte ich beinahe geschlossen – nur so kann ich mir sicher sein, dass ich es nicht noch näher sehen muss.
So liege ich da – eine Zeit lang. Kaum atmend und erstaunlicherweise immer noch lebend. Selbst der Tod ist mir nicht vergönnt.
Und dann erst – mit der Geschwindigkeit eines Düsenjets überfällt mich dieser Gedanke.
Meine Hand ertastet etwas anderes als Dreck.
Meine Hand, die ich in den Tunnel stieß, ist frei.
Ich kann es nicht fassen. Sie ist frei!
Mein Gott. Ich lebe. Ich lebe und kann die nahende Freiheit spüren, die so greifbar und wirklich ist. Nur einige Handbreit von mir entfernt. Ich stemme meine Füße auf den Boden und drücke mich in die Höhe, so stark, als hätte ich diese Zeit hier unten mit einem Mal weggewischt. So, als hätte sie gar nicht erst existiert.
Mein Körper schraubt sich in die Höhe. Ich komme Zentimeter für Zentimeter der Freiheit entgegen. Stoße meine Füße ab und meinen Körper in die Höhe und breche den lehmigen Boden über mir Stück für Stück auf.
Mit lautem Gestöhne dringe ich durch die Oberfläche, halte mich an dem Rand des Lochs fest und ziehe mich heraus. Das fordert all meine Kräfte heraus und bringt mich an den Rand einer Ohnmacht. Aber als ich erst das Licht erblicke, spüre ich neue Kräfte und kann von neuer Energie schöpfen, die so jung und lebendig durch mich hindurchfließt wie ein Jungbrunnen. Ich atme die reine frische Luft einer klaren doch dunklen Nacht. Einzig allein der Vollmond ist erhellend über mir.
Ein wenig grotesk ist es schon – da komme ich endlich aus diesem dunklen Loch nach Tagen qualvoller Schwerstarbeit herausgekrochen, um mich gleich darauf in einer düsteren Umgebung wiederzufinden, die zwar meinen Verstand und meine Augen berührt, aber mein Glücksgefühl nur wenig trübt. Ich bin frei und ich lebe.
Und auch das neuerliche Rumpeln des Magens verändert diese Fakten nicht. Auch wenn das Grollen meinen schleppenden Gang unheilschwanger verfolgt, bin ich mir gewiss, dass ich etwas geschafft habe, was noch nie ein Mensch zuvor erreichte. Ich war wie Orpheus an den Rand des Todes geschritten und hatte nur mit meinen Händen, den mir gegebenen Fähigkeiten und meinem Willen die Grenzen des Todes überschritten und Gevatter Tod überlistet.
So mache ich mühsam einen Schritt nach dem anderen, bewege mich über diese grüne Aue, dieses weiche grüne Gras und hätte ich mich nur umgesehen – die Augen vor der Wahrheit geöffnet, so hätte ich sie sehen können. Die Wächter des Todes stiegen aus ihren Gräbern und folgten mir.