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Die Unsichtbaren
Die Unsichtbaren
„Verdammt, wo sind wir hier, Chris?“, fragte Cindy.
„Sorpesee, mitten im Nirgendwo weit außerhalb der Zivilisation.“
„Danke für den geistreichen Kommentar, Leon.“
„Immer wieder gerne“, sagte dieser grinsend mit den Händen in den Taschen seiner Bermudashorts. „Du weißt ja, Cindy. Ich bin immer hilfsbereit.“
Es war hochsommerlich warm. Die Sonne ließ die vier Freunde schwitzen, selbst auf diesem Teil des Wanderwegs, der weitestgehend von Bäumen überschattet wurde.
Chris stand bei der mit Holz umrahmten Plastiktafel, die den gesamten Sorpesee zeigte. Ihr Wanderweg war grau unterlegt und ein roter Punkt sollte ihren Standort markieren. Hätte er zumindest, wenn sich irgendwelche Kinder nicht den Spaß erlaubt hätten, die Farbe wegzukratzen. „Ich glaube, wir sind irgendwo am nördlichen Ende des Sees! Also nicht mehr allzu weit bis zur Jugendherberge“, sagte er und tippte auf die am meisten zerkratzte Stelle der Karte. Nadine nickte. Die Spangen, die ihr schulterlanges brünettes Haar zurückhielten, glänzten im Sonnenlicht.
Viel mehr allerdings spürte Chris Cindys Blick im Rücken. Sie sah häufiger zu ihm rüber, wenn sie glaubte er würde es nicht merken. Allerdings machte er ihr auch nichts vor, er war vergeben. Damit musste sie leben, denn er würde standhaft bleiben. Um sich abzulenken, sagte er laut: „Sind jetzt alle da, oder fehlt noch jemand?“
„Andreas ist noch eben in die Büsche gegangen. Wollte für kleine Jungs, aber das ist schon ne Weile her. Vielleicht wichst er sich auch einen, was weiß ich.“ Leon zuckte mit den Achseln und kaute wieder an dem Bleistift, wie er es häufig tat. Er trug auch immer einen Notizblock mit abreißbaren Blättern mit sich, auf dem er beizeiten rumkritzelte.
„Wessen Idee war eigentlich dieser bescheuerte Waldausflug? Mir tun die Füße schon ganz weh vom Laufen“, maulte Cindy.
„Leons Idee“, sagte Nadine in einem nicht minder genervten Tonfall.
„Sachte, Ladys, kein Grund zur Aufregung. Uns war doch allen langweilig, oder? Warum das schöne Wetter nicht ausnutzen? Dann kommen wir auch mal raus, anstatt in der herberge zu versauern. Ahh, unser Marathonpisser!“
Andreas trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Schriftzug „Hell-born“ unter einem brennenden Totenschädel. Er war kräftig gebaut und ziemlich groß.
„Ich hab da was entdeckt, das solltet ihr euch ansehen!“, sagte er grinsend.
„Was soll das jetzt wieder sein?“, murrte Cindy. „Was soll's, ich bin morgen eh tot.“
Zusammen stiegen sie die Schräge hinauf. Ein ausgerissener Baumstumpf markierte ihren Weg. Die mächtigen Wurzeln ragten dem Himmel entgegen. Chris erinnerten sie ein wenig an sich windende Schlangen. Sie schwiegen. Nur die singenden Vögel und das Knistern des trockenen Laubs unter ihren Füßen war zu hören. Dennoch hatte Chris dieses Gefühl. Es war etwas Beunruhigendes. Vielleicht Nervosität oder auch Neugier. Es war, als würde sie etwas zu diesem Ort hinziehen. Chris wusste nicht, wie er es besser beschreiben sollte. Es war unangenehm und aufregend zugleich.
Niemand sprach es aus, schließlich war das vollkommen verrückt, aber Chris meinte die selbe Nervosität in den Gesichtern seiner Freunde zu sehen. Schließlich erreichten sie die kleine Lichtung und sahen die Blockhütte. Sie hatten sie von der Straße aus nicht sehen können, weil sie auf der einen Seite von Bäumen umgeben war. Die andere Seite war frei und gewährte eine wundervolle Aussicht auf das tiefe Blau des Sorpesees.
„Aus welchem Jahrhundert stammt die denn?“, sagte Leon.
Andreas trat auf die hölzerne Veranda. Es knarzte.
„Was haltet ihr davon?“
„Ich würde sagen, es ist eine Hütte.“
„Da würde ich dir zustimmen, aber wartet, bis ihr seht, was sich drinnen befindet“, sagte er amüsiert. Er öffnete die Holztür. Die rostigen Scharniere quietschten.
Chris fuhr ein Schauer über den Rücken.
„Kommt ihr?“, sagte Andreas und trat ein.
In der Hütte war es düster und es roch modrig. Durch ein schmutziges Fenster drang diffuses Licht in den einzigen Raum, der die Hütte zu dominieren schien. Auf der linken Seite gegenüber dem Fenster war ein Klappbett eingelassen. Mitten im Raum standen ein Tsich und zwei Stühle. Als seine Augen sich an das Zwielicht gewöhnt hatten, zuckte chris erschrocken zurück.
Chris musste sich nicht umdrehen, um zu sehen, dass sich auf den Gesichtern seiner Freunde der gleiche entsetzte Ausdruck abzeichnete, den zweifelsohne auch er trug. Cindy entfuhr sogar ein Schrei, der aber sofort erstickte, als sie die Hände vor den Mund schlug und sich abwand, um sich zu übergeben. Chris spürte wie sein eigener Magen bei diesem Augenblick ebenfalls rebelliert.
Auf dem Stuhl hing wie eine Puppe des Grauens die Leiche eines Mannes. Die Kleidung des Toten hing nur noch in Fetzen vom Leib und das Fleisch war bereits zum größten Teil verwest. Am Schädel hingen noch einige lose Fleischfetzen und Haarbüschel. In einer Augenhöhle hatte eine Spinne ihr Netz gebaut. Ein Käfer krabbelte über die bleichen Rippen des Brustkorbs. Er schien aufgebrochen worden zu sein. Zumindest prangte ein Loch von der Größe einer Bowlingkugel auf der Höhe des Brustkorbs. Die Rippen waren eingedrückt und zersplittert.
Der Bleistift zwischen Leons Lippen wippte auf und ab. Der einzige, den der Anblick nicht zu schockieren schien war Andreas. Chris wusste, dass er ein wenig morbid veranlegt war, aber er hätte ihm diese Gefühlskälte nicht zugetraut.
„Ach kommt schon, Leute. Ist doch nur ein Skelett. Schon lange tot der Typ“, sagte Andreas.
„Das war unnötig, Andreas“, sagte Chris.
„Eindeutig tot“. Andreas klopfte auf den Schädel, der daraufhin mit einem widerlich knirschenden Geräusch abbrach und über den Boden rollte. Sie wichen zurück. Cindy sah aus, als würde sie sich gleich nochmals übergeben. Chris war froh, als der Kopf unter das Klappbett außer Sichtweite rollte.
Auf dem Tisch stand eine grüne Flasche mit einem schwarzen Inhalt, den man im Zwielicht nicht näher erkennen konnte. Der zweite Stuhl auf der Fensterseite der Hütte, war leer.
Leon trat vor. „Sieht so aus, als hätte er Karten gespielt. Doch wo ist sein Mitspieler.“ Er nahm eine der durchweichten Karten hoch. Vor der Leiche lagen noch vier weitere, auf der anderen Seite ebenfalls. „Mit wem hat er gespielt?“
„Egal mit wem oder um was sie gespielt haben. Er hat anscheinend verloren“, antwortete Chris.
„Das geht uns alle nichts an, wir sollten hier verschwinden!“, sagte Nadine, die ihre Stimme ebenfalls wiedergefunden zu haben schien.
Ein Buch weckte die Aufmerksamkeit von Chris. Es war ebenso durchweicht wie die Spielkarten und lag auf dem Nachtschränkchen neben dem Klappbett. „Ein Tagebuch“, murmelte er und um sich von dem grausigen Anblick abzulenken, las er laut vor:
„Bert Gremheim, 17.05.1958, letzter Eintrag,
Meine Tage sind gezählt. Dies wird mein letzter Eintrag in dieses Buch sein. Wir haben unsere Peiniger die Unsichtbaren getauft. Man sieht sie nicht, wenn sie es nicht wollen. Doch bedeutet ihre Anwesenheit den sicheren Tod. Sie machen keine Gefangenen. Wer gegen die Regeln verstößt wird bestraft. Dieses Ding, wir haben es in die Flasche gesperrt. Es ist nicht mehr, als Rauch wie Arnold meinte, doch ich spüre, dass es mehr ist. Etwas dunkles. Ich erschaudere, als ich diese Zeilen schreibe, während in meinem Kopf der eintönige Chor singt: Sin, Sin, Sin …
Es ist ihr Name, doch wir nennen sie die Unsichtbaren. Sie kennen kein Gewissen. Vermutlich ist es ein Frevel von mir über Gewissen zu reden, haben wir doch diesen abscheulichen Dämon in die Welt gelassen. Nun ist er eingesperrt, ich habe das Beschwörungsbuch verbrannt. Doch ich spüre, dass die Unsichtbaren nahe sind. Wir haben gestritten. Einer von uns muss die Verantwortung übernehmen.
Ich habe vorgeschlagen das Schicksal entscheiden zu lassen. Ich werde mich letztendlich fügen, ich hoffe mein Bruder wird dasselbe tun. Uns bleibt nichts anderes übrig, ansonsten müssen wir beide sterben.“
Chris blickte in die aschfahlen Gesichter seiner Freunde. Andreas hob die Flasche auf und betrachtete den grauen Nebel darin.
„Wir müssen die Polizei alarmieren …“, brachte Nadine hervor.
Leon schien abwesend zu sein, er flüsterte nur ein Wort: „Sin …“
„Andreas, nicht!“, schrie Chris. Jener schüttelte die grüne Glasflasche.
„Sieht aus wie Rauch. Passiert schon nichts!“ Doch dann fiel ihm die Flasche aus den Händen und zerschellte auf den Dielenbrettern. Das klirrende Geräusch hallte in ihnen nach wie ein Tinitus.
„Du verdammter Vollidiot!“ Chris packte Andreas am Kragen und stiße ihn gegen die Wand.
„Jetzt beruhig dich, Chris. Oder bist du auf einmal abergläubisch geworden? Buhuu, der Schattenmann wird uns holen. So ein Schwachsinn. Das hier ist nur ein einsamer Irrer, der von einem Tier oder sowas angefallen wurde.“
„ja vermutlich, hast du recht“ Er entspannte sich wieder und ließ ihn los.
„Lass uns die Herberge zurückgehen“, sagte Nadine. „Wir müssen die Polizei rufen …“
Im Verlauf des Abends entlud sich die Spannung der schwülheißen Luft in einem gewaltigen Gewitter. Der Wind heulte und pfiff um die Ecken des Gebäudes. Der Regen peitschte gegen die Fensterscheiben, als wollte er sich gewaltsam Eintritt verschaffen. Blitze tauchten das Gebäude in gespenstisches Licht. Kurz darauf ertönte krachender Donner. Sie hatten die Polizei angerufen. Doch aufgrund des Sturms würden die Ordnungshüter erst am nächsten Morgen kommen können. Cindy war nach unten auf die Toilette gegangen. Nadine war nach oben gegangen. Sie brauchte Ruhe, hatte sie gesagt. Andreas hatte ebenfalls den Raum verlassen, sodass Chris und Leon allein im Aufenthaltsraum waren.
Chris lehnte auf einem Stuhl. Er hatte sich eine Zigarette angesteckt. Eigentlich war das Rauchen in Jugendherberge nicht gestattet, doch nach dem, was sie heute erlebt hatten, gab er nichts auf Regeln. Bei dem Wetter wollte er sowieso nicht draußen sein. Bisher hatte sich auch niemand beschwert. Leon stand an einem Fenster und beobachtete wie der Sturm wütete. Der See schien nur noch aus einer unruhigen, grauen Masse zu bestehen. Man konnte Himmel und See kaum noch auseinander halten.
Er zeichnete gerade auf dem Notizblock. Chris konnte das Kratzen des Bleistifts hören, als ein Blitz den Raum erneut den Raum erleuchtete. Sie konnte die gleißende Lanze am Horizont sehen, welche die Luft zerteilte. Wenige Minuten später folgte der grollende Donner.
„Was hältst du von der Sache, Leon?“, fragte Chris.
„Der Typ wird keinen Schönheitswettbewerb mehr gewinnen.“ Ohne es zu wollen musste Chris grinsen. Der Block verschwand wieder in der Hosentasche. Den Bleistift nahm Leon zwischen die Zähne.
Leon war einzigartig in dieser Hinsicht. Es schien so, als könnte ihm nichts den Humor nehmen. Egal was geschah, er konnte es immer ins Komische ziehen. Vielleicht ist das seine Art solche Dinge zu verarbeiten. Sie ins Lächerliche ziehen und ihnen das Unheimliche zu nehmen.
„Was glaubst du, was da passiert ist?“
„Ich weiß genausoviel wie du, Chris. Allerdings muss ich zugeben, dass mir das Wort Sin schonmal zu Ohren gekommen ist …“ Er senkte den Blick beinahe verlegen, wurde dann aber wieder ernst. Ein Ausdruck, der an Leon irgendwie deplatziert wirkte. „Und diese Wunden. Hast du seinen Brustkorb gesehen? Sah fast so aus, als wäre er von einer Kanonenkugel zerfetzt worden. Auch das habe ich schon gesehen.“
„Aha …“
Leon überlegte kurz. „Eine interessante und seltsame Geschichte. Mein Großvater war ein seltsamer, alter Kauz. Hielt sich für einen Schriftsteller. Hat sich oben auf dem Dachboden eingeschlossen und den ganzen Tag Geschichten geschrieben. Wir haben ihn nur selten herunterkommen sehen. Eines Tages kam er völlig verstört heruntergerannt. Hat etwas von Sin und Unsichtbaren und Wächtern gebrabbelt. Meine Eltern haben’s auf sein Alter geschoben und in ein Seniorenheim abgeschoben, nachdem es ihnen zu nervig wurde …“
Es schien ihm schwer zu fallen weiterzusprechen. Noch etwas, was Chris nicht von Leon kannte.
„Seine Paranoia, wie meine Mutter es zu bezeichnen pflegte verstärkte sich zunehmend. Er rief immerzu bei uns an. Er hätte Angst, sie würden ihn umbringen. Er habe ihr Geheimnis entdeckt, dafür müsste er sterben. Ich habe das alles für Schwachsinn gehalten. Das Gerede eines verrückten alten Mannes, bis heute zumindest.“
„Was ist aus ihm geworden?“, fragte Chris
„Niemand weiß genau, wie er es geschafft hat, aber letztendlich ist er aus dem Altersheim ausgebrochen. Man fand ihn im Graben neben einer Landstraße, 20 Kilometer westlich von der Anstalt. Er hatte …“
Jetzt versagte ihm die Stimme, als die Vorstellung ihn überfiel. Er malte mit dem Bleistift einen imaginären Kreis vor sein Brustbein. Chris verstand.
Nach einer Weile sagte Leon schließlich: „Sie haben es einem verrückten Landstreicher in die Schuhe geschoben. Aber jetzt bin ich mir da nicht mehr so sicher …“
Andreas stand in der Tür. Sein Gesicht war bleich vor Schreck.
„Der Zivi, der Koch, die Angestellten … sie … sie sind tot“. Andreas, der damit prahlte sich die härtesten Horrorsplatterstreifen anzusehen, stand dort tränenüberströmt. Ein zitterndes Wrack seiner selbst.
„Was?“ antworteten Chris und Leon zur gleichen Zeit.
Andreas sagte nichts. An seinen Turnschuhen klebte Blut. Stumm folgten sie den blutigen Abdrücken, die seinen Weg markierten. Ihnen bot sich ein Bild des Grauens. Die Küche war ein Chaos aus verstümmelten Körpern, Geschirr und dunklen Blutlachen. Ein Kampf hatte standgefunden, doch die Männer und Frauen hatten keine Chance gehabt.
An einer Freifläche an der weißgekachelten Wand über den Spülbecken standen die Worte: „Einer von uns“ in Blut geschrieben. Ein langer roter Strich führte vom letzten Buchstaben die Wand hinunter und endete am wulstigen Finger eines Mannes. Er hing über einem der Waschbecken. Wenn er einen Kopf gehabt hätte, könnte man glauben, er würde sich übergeben. Übelkeit stieg in Chris auf.
„Genug!“, schrie Andreas, „ich will hier raus!“
„Beruhig dich wieder, wir müssen jetzt kühlen Kopf bewahren!“
„Scheiß drauf, wir müssen hier raus!“
„Und wie weit meinst du kommst du bei diesem Sturm?“
„Ihr könnt ja gerne hier bleiben und euch umbringen lassen, Chris. Ich verschwinde!“
Dan war nichts zu machen. Chris packte ihn am Arm, doch Andreas riss sich sofort wieder los.
„Fass mich nicht an!“
„Beruhig dich, Andreas. Wir holen die Polizei und dann …“
„Nein, das geht nicht, der Sturm. Außerdem hast du es nicht gesehen? Einer von uns! Ich wette, es hat etwas mit der Hütte zu tun. Ich kann keinem mehr von euch trauen.“
„Jetzt werd doch wieder vernünftig!“
„Ich höre es, Chris. Den Chor. Sin, Sin, Sin. Es hört sich an wie Paukenschläge und immer wieder der Name dieses Monsters. Schattenmann. Einer von uns trägt ihn in sich, dass haben sie gesagt. Ich muss hier weg!“
Er drängte sich zwischen den beiden durch und rannte zu der Doppelglastür hinaus in den Regen. Chris wollte ihm gerade folgen
„Lass ihn gehen, Chris. Es ist zwecklos“, sagte Leon.
„Glaubst du ihm?“, fragte Chris. Ihm stand der Schreck ins Gesicht geschrieben.
„hast du das Massaker in der Küche nicht gesehen, das kann ummöglich ein Mensch gewesen sein …“
„Die Mädchen …“
Chris und Leon eilten die Treppen zu den Schlafräumen hoch. Die einzelnen Zimmer waren mit Tiernamen betitelt. Hirsch, Hase, Bär. Vor einem Schild mit der Aufschrift „Karpfen“ blieb er stehen. Ein Blitz tauchte den Korridor in gleißendes Licht. Leon meinte, eine Bewegung am Ende des Ganges erkennen zu können. Nein, da war nichts. Einbildung. Chris rüttelte am Türknauf, abgeschlossen.
„Siehst du das?“, fragte Leon und deutete auf den Boden. Er strich mit dem Finger über die nassen Spuren, die sich dort abzeichneten. Kein Blut, Wasser. Chris nickte stumm und pochte erneut an die Tür.
„Ist irgendwer da drin?“
„Wer will das wissen“, kam eine ängstliche Stimme von drinnen. Nadines Stimme.
„Chris und Leon!“
Kurzes Zögern.
„Beweist es!“
Leon holte den Notizblock hervor und schlug eine leere Seite auf. Chris wollte den Mund aufmachen und fragen was das jetzt sollte. Aber dann begriff er, Leons Zeichnungen waren einzigartig, das wussten sie alle.
„Sag mir, was ich zeichnen soll, Nadine.“
„Wenn du wirklich Leon bist, erinnerst du dich sicher an das Stillleben.“
„Du warst immer die bessere Zeichnerin, wie könnte ich das vergessen“. Der Bleistift fuhr mit schnellen, festen Strichen über den Block. „Wenn ich mich richtig erinnere, waren es Callas, die du gemalt hast.“
Er riss den Zettel ab. Er schob das Papier durch den schmalen Lichtspalt unter der Tür. Schließlich öffnete sich die Tür.
„Wie gut, euch zu sehen.“ Sie umarmte sie beide. „Verzeiht mir, aber ich musste fragen. Ich habe dieses Wesen gesehen und es hat mit mir gesprochen. Im Kopf. Ich weiß das klingt verrückt, aber es hat sich wie die Stimmen meiner Freunde und Bekannten angehört. Ich wollte einfach nur sichergehen …“
„Ja, wir verstehen das“, sagte Leon.
„Wo?“, fragte Chris
„Unten in der Eingangshalle. Ich wollte runter zu euch, als ich diese Gestalt unten gesehen habe. Ich konnte ihr Gesicht nicht erkennen. Ich bin sofort losgerannt, ohne mich nochmal umzudrehen. Als ich splitterndes Glas hinter mir gehört habe, bin ich sogar noch schneller geworden und beinahe über die Stufen gestolpert. Oben habe ich kaum den Schlüssel ins Schloss bekommen, so sehr habe ich gezittert.“
Als er zu Leon blickte, erkennte Chris, dass dieser den selben Verdacht hegte. Andreas Ausbruch war ihm gleich seltsam vorgekommen. Für so etwas war er nicht der Typ. Chris musste zurück an die Hütte denken. Andreas hatte als einziger kaum eine Gefühlsregung gezeigt.
„Wir sollten Cindy suchen.“
„Ich sehe nach ihr, bleib du bei der großen Künstlerin“, sagte Leon und schaffte es sogar, ein Lächeln zustande zu bringen.
Leon stieg die Treppen hinab. Sin, Wächter des Universums, hatte sein Großvater, der verrückte alte Herr, sie genannt. Er erinnerte sich nur zu gut an den aufgeregten Anruf zurück. „Ich habe Sand ins Getriebe der Welt gestreut, als ich über sie geschrieben habe“, hatte der alte Kauz mit angsterfüllter Stimme gesagt. Waren sie deswegen hier? Sie schienen zwischen die Fronten von etwas größerem geraten zu sein. Sin vs. Schattenmann. Runde 2. Leon schmunzelte. Töteten sie wirklich alle Mitwisser, oder unterschieden sie in Schuldige und Unschuldige? Der Bruder des Tagebuchschreibers schien entkommen zu sein. Zumindest war seine Leiche nicht in der Hütte gewesen. Leon musste feststellen, dass diese Fragen in zu keiner befriedigenden Antwort führten.
Vielleicht konnten sie die Unsichtbaren besänftigen, indem sie dieses Wesen selbst vernichteten oder zumindest einfingen. Der Schattenmann, oder wie er sich nannte, war gefangen gewesen, als sie die Hütte betreten hatten. Eine Flasche wie bei einem Dschinn. Sie hatten darum gespielt, wer für die Beschwörung gerade stehen sollte. Also wo war der Gewinner hin? Sie haben ihn vergessen lassen. Vielleicht war er in ihrem System noch wichtig. Leon hatte keine Ahnung, woher er das wusste, doch es erschien ihm sonnenklar.
Die Tür am Ende des Ganges bewegte sich. Leon hörte das quietschende Geräusch. Der Wind vielleicht? Diesen Gedanken verwarf er sofort wieder. Du weißt, was hier am Werk ist. Es war verrückt, doch das Gefühl, jemand wollte ihm etwas zeigen war stark. Im Tagebuch hatte gestanden, dass der bedauernswerte Kerl stimmen gehört hatte. Telepathie? Vielleicht pflanzten sie ihm diese Gedanken ein …
„Cindy?“
Nichts. Doch Leon wusste, dass hinter dieser Tür Antworten lagen, also ging er auf sie zu. An der Tür war ein weißes Blechschild befestigt. „Lagerraum“ stand dort in schwarzen Druckbuchstaben. Mit Rot war etwas darüber geschmiert worden. „Sin“. Leon bezweifelte nicht, dass es sich bei der Farbe um Blut handelte.
Es war kalt und nass. Der Wind peitschte das Wasser in sein Gesicht und ließ seine Gliedmaßen taub werden. Andreas stand auf der Hauptstraße vor der Jugendherberge. Vielleicht konnte er ein Auto auf dem Parkplatz kurzschließen. Verzweifelte Lage, verzweifelte Maßnahmen. Seitenstiche plagten ihn und ihm fiel das Atmen schwer. Doch der einzige Gedanke der ihn vorwärtstrieb, war, dass er hier weg musste. Weg von diesem Ort des Grauens.
Der Parkplatz war schon in Sichtweite. Er konnte das weißliche Licht der Laternen erkennen. Der Platz war leer bis auf drei Autos und einen Lieferwagen.
Was war das? Etwas war dicht an ihm vorbei gerannt, da war er sich sicher. Er hatte den Luftzug gespürt. Egal, er musste weiter. Fast geschafft. Du wirst noch verrückt hier. Kein Wunder bei dem, was du gesehen hast. Die Küche. Er wollte nicht daran denken, aber diese toten leeren Augen, all das Blut … ein greller Blitz erleuchtete den Parkplatz in einem gespenstischen Weiß, gefolgt von einem mächtigen Donnerschlag.
Andreas erstarrte. Das Wasser rann in Sturzbächen an ihm herunter. Seine Muskeln zitterten. Doch er zweifelte, dass die Kälte der Grund war.
„Nein, nicht du … du kannst es nicht gewesen sein!“, schrie er, als wollte er die Illusion auffliegen lassen. Doch es gab keine Illusion. Der Tod erwartete ihn.
Dünne Finger strichen über sein Gesicht. Andreas ließ es geschehen. Dann griffen die Finger zu wie Stahlhaken. Andreas’ letzte Worte gingen in einem Gurgeln unter, als die Klinge durch seine Kehle fuhr. Blut schoss hervor, mischte sich mit den fließenden Wassermassen und verwandelte den Parkplatz in eine Ansammlung tanzender rote Seen.
Der Schattenmann wandte sich ab. Die Emotionen dieses Dummkopfs waren köstlich. Doch erwartete ihn noch mehr in der Jugendherberge.
Leon schaltete das Licht an. Vor ihm standen Regale voller Kisten mit Lebensmitteln und anderen Dingen des täglichen Gebrauchs. Im hinteren Teil des Lagerraums befand sich ein Schreibtisch. Die Tischlampe beleuchtete den reglosen Körper eines älteren Mannes. Ausdruckslose Augen starrten mit stummen Schrecken an die Wand. In seiner Brust klaffte ein riesiger blutiger Krater. An den Enden standen die Rippen heraus wie eine Ziehharmonika des Grauens.
Ihn fröstelte. Leon empfand Mitleid mit dem alten Narren. Er war nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Eine leere grüne Flasche stand vor dem Toten auf dem Schreibtisch. An ihr klebte kein Tropfen Blut. Sie wirkte so deplatziert in diesem Szenerio des Grauens wie ein blaues Handtuch in einem Stapel Weißwäsche.
Obwohl es ihm mit jeder Faser seines Körpers widerstrebte, trieb ihn die Neugier voran. Er spürte, wie Übelkeit in ihm aufstieg, je näher er der Leiche kam. Die wievielte Leiche war das nun an diesem verfluchten Wochenende? Es hatte doch nur ein friedliches Wochenende unter Freunden werden sollen. Stattdessen waren sie in eine Sache hineingezogen worden, die ihre Vorstellungskraft überstieg. Sie hätten die Hütte niemals betreten dürfen. Doch sie hatten es getan, daran ließ sich nichts ändern.
Leon stand nun neben der Leiche und hangelte nach der Flasche, wobei er es vermied der Leiche zu nahe zu kommen. Schließlich hielt er die Flasche in Händen. Donner.
Das Geräusch ließ Leon zusammenzucken. Es hatte etwas Endgültiges. Sein Blick fiel auf die Wand über dem Schreibtisch, da wo der Tote hinsah. Dort stand in blutigen Lettern eine weitere Nachricht:
Nachricht für die große Künstlerin.
Darunter war die grobe Zeichnung einer Tür zu erkennen. Darunter war noch etwas geschrieben.
Hinter Türen lauern nicht nur Monster, sie können sie auch verschwinden lassen.
Das war ein Spruch seiner Mutter gewesen. Früher hatte er sich vor Monstern unter dem Bett gefürchtet. Seine Mutter hatte ihm beigebracht sich diese Monster genau vorzustellen. Wie sie in einem dunklen Raum hinter einer Türahmen standen. Dann sollte er die imaginäre Tür zu schlagen. Es hatte funktioniert. Da war Psychologie im Spiel. Aber hier halfen keine imaginären Türen. Hier brauchten sie echte. Er rannte los.
Ein Schatten. Chris gefiel das nicht. Er wurde größer, das gefiel ihm auch nicht. Er nickte Nadine zu, lass uns hier verschwinden. Sie schlichen den Gang hinunter und achteten darauf, keine Geräusche zu machen. Sie hatten nichts, um sich zu verteidigen. Als er sich das Massaker in der Küche in Erinnerung rief, überkamen ihn erhebliche Zweifel, dass sie irgendeine Chance hatten, aus dieser Sache lebend herauszukommen. Ihn verlangte es nach einer Zigarette, doch er zwang es nieder. Keine Zeit.
Sie gingen den Korridor entlang. Es donnerte erneut. Es hatte irgendwie etwas Endgültiges an sich. An einer Seite reihte sich Tür an Tür, die andere war eine einzige Fensterfront. An einer Tür mit einem hölzernen Schild, auf dem „Löwe“ geschrieben stand, lehnte eine rostige Axt.
„Chris? Siehst du das?“, fragte Nadine.
Die Kreolen an ihrem Ohr funkelten im Blitzlicht.
„Ja“, antwortete er knapp.
Er nahm die Axt ohne ein weiteres Wort. Nirgendwo war Blut zu sehen, nur Wasserspuren, die an der Tür zum Treppenhaus endeten.
„Wir sollten runtergehen.“
Nadine nickte nur und biss sich auf die Unterlippe.
Im Empfangsraum schien das Chaos selbst gewütet zu haben. Die Glastüren waren zertrümmert und gewährten Regen und Wind Einlass. Die Stühle und Tische im hinteren Teil des Raums waren größtenteils umgeworfen worden, als wären sie im Weg gewesen. Der Kicker, der einmal die Mitte des Raums eingenommen hatte, war an die Seite geschoben worden.
In der Mitte des Raums stand Cindy. Sie war blutverschmiert und blickte zu Boden. In ihrer rechten Hand befand sich ein Messer. Von der Klinge tropfte Blut.
„Cindy … nicht du …“, flüsterte Nadine.
„Es gibt nur noch den Schattenmann.“ Cindy hob den Kopf.
„So geht es den meisten. Ich habe ihr von meiner Kraft zu trinken gegeben. Sie war beeinflussbar, versprach ich ihr doch das, was sie sich am meisten wünschte. Ich habe mit ihr gesprochen, habe ihr eingeflüstert, alles werde gut, ich würde ihr Zugang zu ihrer großen Liebe schaffen.“
„Nein …“
Die Cindy-Parodie grinste diabolisch.
„Doch, Chris. Sie hat dich geliebt. Ihre Schwäche amüsierte mich. Ich zehrte von ihren Emotionen und flüsterte ihr ins Ohr. Erst als sie auf der Toilette mein wahres Selbst im Spiegel sah, wollte sie mich plötzlich loswerden. Aber so funktionieren die Dinge nunmal nicht. Obwohl diese Verzweiflung, diese Angst köstlich war …“
Hätte jemand darauf geachtet, wären ihm die wehenden Vorhänge und die wässernen Fußspuren aufgefallen, die sich auszubreiten schienen. Nadine spürte eine Bewegung nahe bei ihr. Etwas befand sich in ihrer Hand. Es war ein Stück Papier. Eine Tür war darauf gezeichnet. Darunter stand:
Mit freundlichen Grüßen, die Sin.
„Natürlich hat ein Körper ohne Seele gewisse Nachteile. Die Gefühle der Brüder nährten mich bei weitem nicht so gut. Als es ihnen dann schließlich gelang, hatten sie plötzlich die Hosen voll. Sie sperrten mich in dieses Glas, wohlwissend, das es mich nicht lange aufhalten würde. Ich harrte aus, während sie die Konsequenzen ihrer törichten Handlung tragen mussten. Aber bald schon spürte ich erneut den Hunger. Es ist wie eine Droge. Wobei Suchtmittel menschlich sind. Was für ein glücklicher Zufall, dass mich dieser Hohlkopf Andreas gefunden hat.“ Der Schattenmann, der durch Cindy sprach, hob das Messer. Dann stockte er. Chris meinte, in dem Gesicht eine Spur von Verzweiflung zu erkennen. Chris hielt die Axt so fest, dass das Weiß in den Knöcheln hervortrat.
„Sin“, Cindy spie das Wort mit Verachtung aus, „Sie können mich nicht töten, weil ich diesen Körper vollends besitze. Ich spüre den schillernden Strom eurer Ängste. Wabernde Regenbogen in eurer sonst so trüben, langweiligen Welt! Ein köstliches Mal.“
Chris trat vor. In seinen Augen stand energische Entschlossenheit. Es tat weh, Cindy so zu sehen, aber er redete sich ein, dass sie nicht mehr in diesem Körper wohnte. Was vor ihm stand war der Schattenmann. Ein Monster, das nicht in diese Welt gehörte.
„Mut, eine weiteres faszinierendes Gefühl. Oder sehe ich da eher Verzweiflung? Und Hass. So eine Fülle an Gefühlen, Emotionen … unkontrollierbar, chaotisch wie der Mahlstrom der Zeit selbst.“
Diese Augen, die nicht mehr Cindy gehörten, richteten sich auf Chris.
„Du willst dich mir also immer noch stellen, was?“ Ein grausiges Lächeln, das Chris sein Blut gefrieren ließ. „Ich werde dir zeigen, was ich mit deinen Gefühlen erschaffen kann, Mensch.“
Cindys Knochen knackten, die Haut brach auf. Die Gestalt wuchs und entfaltete sich wie Schmetterling nach der Verpuppung. Nadine schrie auf und wandte den Blick ab. Chris erstarrte im Anblick dieses Grauens. Das klirrende Geräusch des fallenden Messers wurde von niemandem wahrgenommen. Es blitzte erneut. Das grelle Licht machte die Züge der alptraumhaften Kreatur noch grotesker.
Noch nie hatte Chris sich so sehr Dunkelheit gewünscht. Das Monster war doppelt so hoch wie er mit einer Breite von Schulter zu Schulter, die selbst Goliath mit Neid erfüllt hätte. Der rechte Arm endete in drei sich wie Seeschlangen windenden Tentakeln, der linke in einer gewaltigen Klauenhand. Der Kopf war der eines Drachen, die gespaltene Zunge leckte über mit harten Hornschuppen gepanzerte Lippen. Der dicke Bauch hätte einem Troll alle Ehre gemacht.
„Sieh nun, was ich aus deinen Gefühlen geschaffen habe. Ich kann sie schmecken, ich kann sie sehen! Ich kann Bilder damit malen“, grollte die Kreatur.
Chris wollte den Blick abwenden. Er wollte dieses Monster nicht sehen. Aller Mut schien ihn zu verlassen. Nackte Angst schien sein einziger Gefährte zu sein und sie lähmte ihn.
Es ist nur eine Illusion, flüsterte eine Stimme in seinem Ohr. Er sah sich um. Doch da war nichts. Sie war so deutlich gewesen, dass er für einen Augenblick dachte, jemand würde neben ihm stehen und ihm ins Ohr flüstern. Der dämonische Koloss kam immer näher. Jeder Schritt ließ den Erdboden erbeben.
Nur eine Illusion, das wusste er auf einmal. Aber es war alles so real. Nein es ist nichts weiter als ein Trugbild! Er nahm seinen letzten Mut zusammen und schrie: „Du bist nicht real, du verdammtes Dreckvieh. Du hast Cindy getötet und alle anderen. Du wirst uns nicht bekommen.“
Er holte mit der Axt aus. Donner ließ den Raum erbeben, der Koloss stockte. Die Tentakel verharrten in der Luft, als wären sie gefroren.
„Du … bist … nicht … real!“
Die Axt traf in den fetten Wanst des Monstrums. Eine schwarze, zähe Flüssigkeit sprudelte hervor wie aus einer Ölquelle.
„Nein, dummer Junge! Wie kannst du es wagen. Du zerstörst mein Werk!“, jammerte die Monstrosität. Die Umrisse der Kreatur verschwammen bereits und schienen sich aufzulösen wie Rauch. Die Klauenhand, nun nicht mehr als ein schwarzvioletter Klumpen Materie, traf Chris am Bein. Er wurde durch die Luft geschleudert.
Nadine verfolgte, wie das zerfallende Trugbild Chris mit einer Art unförmiger Keule am Bein traf. Er schrie auf, verlor die Axt aus den Händen und wurde an die gegenüberliegende Wand geschleudert, wo er bewegungslos liegen blieb. Eine Wolke aus Rauch stieg an die Decke. Der tote Körper Cindys fiel in eine Lache aus schwarzem Blut.
„Nadine!“ Die Stimme schien aus einer anderen Welt zu stammen. Doch sie konnte die Stimme zu ordnen. Es war Leon.
„Hey, Rauchbombe. Dieses Ding sollte dir wohlbekannt sein!“
„Wage es nicht! Du weißt, dass mich dieses Gefängnis nicht für immer aufhalten kann!“ Ein ohrenbetäubendes Heulen ertönte, als der Rauch in die Glasflasche gezogen wurde. Der Schattenmann wand sich und versuchte dem Sog zu entwischen, wie eine Schlange aus dem Griff eines Mungos. Doch es half nichts. Schweratmend und zitternd verkorkte Leon die Flasche. Es war still, bis auf den Wind und die gelegentlichen Donnerschläge war alles still.
„Ist es vorbei?“ fragte Nadine.
„Nein, ich wünschte, es wäre vorbei …“
Stöhnend erwachte Chris und hinkte auf sie zu. Er deutete auf die Haarrisse, die sich bereits auf dem grünen Glas bildeten. „Sobald sein Gefängnis zerbricht, wird er sich einen neuen Wirt suchen. Die Sin werden das nicht zulassen. Sie werden uns eher töten, bevor es soweit kommt.“
Er schluckte.
„Es sei denn, wir werden ihn los.“
„Dazu brauchen wir eine Tür“, flüsterte Nadine. Leon nickte. Chris ließ sich ächzend auf einem der Stühle nieder, die an einem der Tische standen, die den Kampf auf wundersame Weise überlebt zu haben schienen.
„Genau“, sagte Leon. „ Kannst du das?“
„Ich weiß es nicht“, sagte sie.
„Versuch es“, meldete sich Chris. Er hatte seine Zigaretten gefunden und steckte sich eine in den Mund. Die Flamme eines Feuerzeugs zischte auf. „Oh Mann, das habe ich gebraucht jetzt!“
Nadine tauchte die Hände in das schwarze Blut, welches das Monstrum zurückgelassen hatte, und suchte sich eine Wand aus. Leon und Chris sahen der großen Künstlerin bei der Arbeit zu.
Schon bald standen die Grundrisse. Nadine erinnerte es ein wenig an das Zeichnen mit Tusche, nur dass sie hier die gesamte Hand verwendete. Schmunzelnd fügte sie einen Knauf hinzu. Sie glaubte nicht daran, dass es funktionierte, aber ihre Lage war alles andere als hoffnungsvoll.
Sie für ihren Teil wollte nichts unversucht lassen. Wenn sie die Karikatur einer Tür, gemalt mit dem Blut ihrer Freundin, das sich seltsamerweise in das Blut des Schattenmannes verwandelt hatte, retten konnte, dann wollte sie dem nicht mit Zweifeln im Weg stehen. Sie spürte, dass sie nicht die Einzigen im Raum waren. Sie wurden beobachtet von unsichtbaren Augen. Die Sin warteten, und das gab ihr Hoffnung. Vielleicht hielten sie es noch nicht für nötig, einzugreifen. Sie nickte.
„Ich bin fertig, und jetzt …“
Verblüfft stockte ihr der Atem mitten im Satz. Licht brach durch die schwarzen Linien in den Raum. Nadine strich sich eine Strähne ihres braunen Haares aus der Stirn. Die Konturen der Tür verhärteten sich. Die Tür schien Realität zu werden. Der Knauf war wie der Kopf eines Löwen geformt. Genau wie ich sie mir vorgestellt habe, dachte Nadine, als wäre sie aus meiner Vorstellung direkt in die Realität gesprungen.
Mit einem leisen Klicken schwang die Tür auf und gab den Blick auf eine weite Wüste frei. Die Sonne brannte vom Himmel. Ruinen eines alten Volkes schienen im Sand zu versinken. Nein, von verschiedenen Völkern. Sie konnte einen mittelalterlichen Turm sehen und eine Bürokomplex. Autowracks, Betonhäuser, sogar einen Panzer. Nadine assoziierte das, was sie sah mit einer Müllhalde.
„Etwas bleibt noch“, meldete sich Leon und riss sie aus ihren Gedanken.
„Jemand wird sich opfern müssen“, sagte er mit dünner Stimme.
„Wieso?“
„Die Sin können ihn nicht zurück in seine Welt schaffen. Einer von uns muss es tun …“
„Warum nicht?“
„Auch die Wächter des Universums sind nicht allmächtig. Sie sind nur die, die das Uhrwerk in Gang halten. Sie hoffen auf uns. Überlegt doch mal hätten sie es gekonnt, hätten sie es schon in der Hütte getan. Vielleicht haben sie uns absichtlich dorthin gelotst. Fragt mich nicht, woher ich das weiß. Ich spüre es einfach. Vielleicht ist es irgendeine Art von Telepathie. Es gibt Regeln. Es war unsere Aufgabe … Sie haben es nur in die richtige Richtung geleitet mit Hinweisen … nun müssen wir entscheiden, wer auf die andere Zeit geht und die Rauchbombe mitnimmt.“
„Einer wird gehen müssen, um die anderen beiden zu retten“, sagte Chris trocken.
Leon nickte.
„Und wer soll es sein?“, fragte Nadine.
„Was ist, wenn wir ihn nicht kontrollieren können? Wenn er ausbricht, wie er es bei Cindy getan hat?“
„Wir drei sind die letzten, die übrig sind. Wir haben den Horror dieser Nacht überlebt und sind weder tot, noch dem Wahnsinn verfallen wie mein Großvater. Wer wäre besser geeignet, ihn gefangen zu halten?“
Sie wussten alle, dass es stimmte. Wieder blitzte es, gefolgt von Donner. Der Wind hatte nachgelassen, doch es regnete nach wie vor. Das Regenwasser vermischte sich bereits mit dem seltsamen schwarzen Blut.
„Wir lassen das Schicksal entscheiden.“ Auf einmal hatte er einen Kloß im Hals. „Chris, hast du noch die Karten?“
Er überreichte ihm das Deck. 52 Karten, ein Pokerdeck. Leon mischte die Karten. Es war totenstill, als sie sich an den Tisch setzten. In der Mitte die Flasche mit dem Schicksal des Verlierers. Die Haarrisse dehnten sich weiter aus. Lange würde das Glas nicht mehr halten. Leon teilte aus.
Jeder erhielt vier Karten. Nadine fühlte sich an den Tag in der Hütte zurückerinnert.
„Wir drehen sie nacheinander um. Die Karte mit dem jeweils höchsten Wert gewinnt. Wer am Ende die meisten Karten hat …“
„ … muss gehen“, sagte Chris und zog an seiner Zigarette.
Die erste Karte der Vier wurde umgedreht. Chris hatte die höchste Karte, Karo-Ass. Die zweite wurde umgedreht. Nadine hatte einen Pik-König und gewann diese Runde. Die dritte Karte ging an Leon. Vor der letzten Karte hielten die drei Freunde kurz inne.
Sie drehten alle gleichzeitig um. Einen Kreuz-Buben für Nadine, eine Pik- Dame für Chris, ein Pik-Ass für Leon.
„Ich habe den Jackpot gewonnen, Ladys and Gentlemen“, sagte er mit einem dünnen Lächeln. Er stand auf und nahm die Flasche.
„Man sieht sich“, sagte er.
„Man sieht sich“, sagte Chris.
„Nan sieht sich“, sagte Nadine. Die Tür schloss sich hinter ihm mit einem Klick, die Konturen schwanden wieder, und dann war die Tür nur noch eine schwarze Zeichnung. Verliert niemals seinen Humor, der Junge, dachte Chris. Im nächsten Moment fragte er sich, wer war eigentlich Leon?
Die schwarze Flüssigkeit floss in dicken Tropfen an der Tapete entlang. Nadine und Chris starrten noch lange an die Wand. Schon bald würden sie die Schrecken der Nacht vergessen haben, dafür würden die Sin sorgen.