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Die unsichtbaren Narben
Bisher kannten sie sich nur aus dem Chat.
Stund um Stund schrieben sie im Dia ... die Gesprächsthemen wollten nicht enden.
Man lachte zusammen, alberte rum, aber auch ernste Themen konnten die entspannte Atmosphäre nicht trüben.
Er fühlte sich wohl in ihrer Gegenwart ... auch wenn es nur virtuell war.
Irgendetwas zog ihn in ihren Bann.
Was das war, konnte er sich selbst nicht erklären.
Nur ... bei einem Thema wich sie immer wieder aus.
Zu ihrem Aussehen ...
Mit nur drei Worten handelte sie dies ab: klein, dick, hässlich.
Gleichwohl musste er diese Frau, welche ihn mit Worten so fesseln konnte, persönlich kennen lernen.
Und so kam es, dass er sie einlud … in ein kleines Restaurant, denn er wusste, dass sie die Sicherheit der Öffentlichkeit brauchen würde.
Erstaunlicherweise sagte Andrea zu und erklärte sich bereit, Thomas am nächsten Abend in einer kleinen italienischen Pizzeria zu treffen.
Sie stellte jedoch eine Bedingung: Er solle sie am Tisch erwarten und nur der Schein einer einzelnen Kerze durfte den Raum erhellen.
"Warum?" fragte er.
"Gewähre mir bitte meinen Wunsch, ohne es zu hinterfragen." antwortete sie.
Hier kam es ihm zu Gute, dass er den Besitzer des Restaurants sehr gut kannte.
Ein kleiner Nebenraum erfüllte perfekt alle Voraussetzungen: er konnte mit ihr allein sein, ohne dass sie sich bedrängt fühlte und die dämmrige Beleuchtung der Kerze tat das übrige zur Romantik.
Bereits seit 10 Minuten harrte er nun aus. Er war überpünktlich, denn er konnte es kaum erwarten, sie kennen zu lernen.
Ungeduldig schaute er immer wieder zur Tür.
Er nestelte am Besteck und rückte die kleine Vase mit den roten Rosen zurecht.
Der bestellte Lambrusco stand neben Wasser ebenfalls zum Genuss bereit.
Die Kerze stand etwas abseits auf einem zweiten Tisch.
"Schönen guten Abend" klang es da unvermittelt an sein Ohr.
Thomas hatte nicht bemerkt, wie sie den Raum betreten hatte.
Ganz gentlemanlike erhob er sich, reichte ihr die Hand und begrüßte sie mit einem strahlenden Lächeln.
"Schönen guten Abend" erwiderte er ihren Gruß, rückte ihr den Stuhl zurecht und musterte sie mit verstohlenem Blick.
Klein, dick, hässlich? Wie konnte sie nur so von sich reden? Sie sah traumhaft aus in ihrem kurzen Sommerkleid, welches gekonnt ihrer weiblichen Figur schmeichelte.
Ein Lächeln stahl sich auf sein Gesicht, als er ihr gegenüber Platz nahm.
Instinktiv wusste er aber, dass er sie nicht auf ihr Aussehen ansprechen sollte.
Antonio, der Kellner, rettete die Situation des Schweigens, indem er höflich und dezent die Speisekarten brachte. Auch ihm huschte ein Strahlen über's Gesicht.
"Schönes Paar." dachte er so bei sich.
In die Karte vertieft, entspann sich zwischen Andrea und Thomas ein hitziges Gespräch, was man denn essen solle. Und so war der Bann gebrochen.
Wie im Chat konnten sich beide ganz ungezwungen miteinander unterhalten.
Die Zeit verging wie im Flug und so kam es, dass sie die letzten Gäste waren.
Thomas wollte den Abend so gar nicht beenden, wusste aber nicht, wie er das anstellen könnte, ohne Andrea zu überrumpeln.
"Wir sollten Antonio endlich Feierabend machen lassen. Was hältst du davon, wenn wir hier am See noch ein wenig spazieren gehen? " fragte sie ihn schmunzelnd.
"Sehr gern." antwortete Thomas und war froh, dass sie seine Gegenwart anscheinend genauso genoss wie er ihre. Er bezahlte die Rechnung und nahm noch eine Flasche Lambrusco und 2 Gläser mit.
Während sie so am See entlang schlenderten, berührte Thomas die Hand seiner Angebeteten und hielt sie fest. Erleichterung machte sich breit, weil Andrea ihre Hand nicht weg zog.
An einer schönen Stelle ließen sie sich nieder. Beide genossen den Wein und die Atmosphäre, welche der See im Mondlicht ausstrahlte.
"Darf ich dir eine Frage stellen?" wagte Thomas es nun doch, den Blick weit hinaus auf das Wasser gerichtet.
"Ja." antwortete Andrea knapp und nestelte nervös an ihrem Kleid. Sie ahnte wohl, was ihn beschäftigte und was nun kommen würde.
"Wieso redest du so schlecht von dir? Klein, dick, hässlich ... davon kann ich nichts sehen. Ich finde dich wunderschön und du hast keinen Grund dich bei Kerzenlicht zu verstecken."
Stille, Schweigen ... welches in Wirklichkeit nur ein paar Sekunden dauerte, doch für ihn wie eine Ewigkeit wirkte.
Bin ich zu weit gegangen mit meiner Frage?
"Es geht gar nicht darum, dass ich ein paar Kilo zu viel habe. Ich bin stolz darauf, was ich schon erreicht habe.
Aber die Narben in meinem Gesicht kann mir keine Diät oder anderes nehmen."
Sehr feinfühlig bemerkte er, wie in sich gekehrt Andrea dies gesagt hat. Ja, sie wirkte traurig, verletzlich … sie hielt den Blick gesenkt.
Wie gern hätte er sie jetzt einfach in den Arm genommen, wusste aber, dass er das jetzt auf keinen Fall tun dürfe. Damit würde er eine Mauer aufbauen.
Er betrachtete sie im Mondschein und konnte keine Narben erkennen. Durfte er weiter fragen?
"Wieso Narben?" mehr wagte er nicht.
"In meinem Gesicht spiegeln sich die Narben meines Herzens, meiner Seele wider.
Jedes Mal, wenn ich in den Spiegel schau, sehe ich all die Verletzungen, die man mir beigebracht hat."
Betreten schwieg er, denn mit so einer Antwort hatte er nicht gerechnet. Es stimmte ihn nachdenklich, denn er stellte fest, wie wenig er doch über Andrea wusste. Was mag sie wohl erlebt haben, sodass sie die Narben ihres Herzens, ihrer Seele im Spiegelbild sehen konnte?
Andrea rettete die Situation, bzw. wollte den Abend nicht so ausklingen lassen und begann mit Thomas rum zualbern.
Sie lachten unbeschwert miteinander, tollten am See rum, tranken den restlichen Wein und fühlten sich beide wohl.
"Ich möchte dich zeitnah wieder sehen." offenbarte Thomas, als es Zeit wurde sich zu verabschieden.
Andrea ließ sich Zeit mit der Antwort, genoss es, wie er unruhig von einem Bein auf das andere wippte und konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
"Gern. Wann und wo?" erwiderte sie lapidar.
"Morgen. Bei mir?" zeigte er sich genauso frech erkenntlich.
"OK. Dafür brauch ich aber noch deine Adresse." grinste sie ihn revanchierend an.
Nachdem Thomas ihr die Adresse noch in ihr Handy eingespeichert hat (ganz selbstverständlich unter "Schatz"), verabschiedete er sich mit einem Kuss auf die Wange. Mehr nicht. Und er konnte sich ein schelmisches Lächeln über ihren entsetzten Gesichtsausdruck nicht verkneifen.
"Morgen gibt es dann noch eine kleine Überraschung für dich." Mit diesen Worten half er ihr ins Auto, schloss die Tür, begab sich zu seinem und fuhr mit einem zufriedenen Gesichtsausdruck nach Hause. Ja, er wusste, was er zu tun hatte.
Nach einer schlaflosen Nacht machte sich Thomas sehr früh am Morgen auf den Weg zur Arbeit. Seine Gedanken schweiften ständig ab, denn er musste nachmittags noch einkaufen gehen. Auf seiner Liste standen: eine weiße Schuhschachtel mit drei rosa Streifen, eine Rose und ein Spiegel.
Sehr liebevoll suchte er die wenigen Gegenstände aus.
Um Essen und Getränke machte er sich keine Gedanken, denn da hatte er etwas anderes geplant.
Zu Hause angekommen bereitete er das Geschenk vor, legte es auf den Tisch und zog sich für das Treffen mit Andrea um.
Er dachte sogar daran, dass sie kein helles Licht mochte und zündete daher zwei Kerzen im Wohnzimmer an.
Pünktlich klingelte es. Nervosität machte sich breit, sein Herz stolperte auf dem Weg zur Wohnungstür und schnell wischte er sich die schweißnassen Hände noch an einem Tuch ab.
Er öffnete die Tür und begann bei ihrem Anblick sofort zu strahlen. Auch wenn er nicht wirklich viel erkennen konnte, denn Andrea hatte das Licht im Treppenhaus nicht angemacht.
Er bat sie höflich herein, führte sie ins Wohnzimmer und bemerkte ihr Lächeln, als sie den Kerzenschein sah.
"Danke." hauchte sie nur.
Verlegen reichte er ihr das Geschenk.
"Bitte öffne es."
Sie nahm die Rose, sog den intensiven Geruch ein und löste behutsam die dekorative Schleife.
Beim Anblick des weißen Schuhschachterl begann sie zaghaft zu lachen.
"Oh, du erinnerst dich." kam es von ihren Lippen.
"Ja klar. Ich erinnere mich an alles, was wir geschrieben haben."
Er beobachtete sie genau, als sie das Schachterl öffnete, den Spiegel entnahm und ihn fragend anschaute.
"Nimm den Spiegel und betrachte dich."
"Nein!" antwortete sie panisch.
Er stellte sich hinter sie, umarmte sie, nahm zaghaft ihre Hand mit dem Spiegel in seine und hielt den Spiegel vor ihr Gesicht.
"Öffne deine Augen und betrachte dich in dem Spiegel. Bitte."
Sie wirkte ängstlich und begann zu zittern. Er bemerkte ihre innere Anspannung und gab ihr durch seine Umarmung weiterhin Halt.
"Bitte." wiederholte er.
Zaghaft öffnete sie ihre Augen und betrachtete ihr Spiegelbild.
Auf ihrer Stirn zeichnete sich ein Fältchen ab.
Sie verstand es nicht, was sie sah oder besser gesagt, was sie nicht sah.
"Ich kann dir die Narben auf deinem Herzen und deiner Seele nicht nehmen, das will ich auch nicht, denn sie gehören zu deinem Leben. Aber dieser Spiegel zeigt dich dir so, wie ich dich sehe." flüsterte Thomas ihr ins Ohr.
"Bitte nimm dieses Geschenk von mir an."
Andrea sieht die Narben ihres Herzens, ihrer Seele nun mit anderen Augen.
Sie ist nie an ihnen zerbrochen, sondern nur stärker und schöner dadurch geworden.