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Die unglaubliche Reise in einem verrückten Zug

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07.03.2010
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Die unglaubliche Reise in einem verrückten Zug

Ich war aufgeregt, als ich in die Bahn einstieg, denn ich hatte ein Bewerbungsgespräch in Tübingen, sowie eine damit verbundene einstündige Zugfahrt vor mir. Es würde der perfekte Job für mich in einer Werbeagentur sein. Ich hatte mich extra für eine frühe Abfahrtszeit entschieden, denn wie jeder über die Deutsche Bahn weiß, „wartest du vergeblich Stunden und denkst dann, du kannst nicht mehr, kommt von irgendwo ein Bähnlein her“…
Aber ausnahmsweise war sie an diesem Tag pünktlich.

Es war noch ein Plätzchen neben einer älteren Dame frei, weshalb ich mich dort nieder ließ. Nach wenigen Minuten wurde mir jedoch klar, warum der Sitz unbesetzt geblieben war: Ein unangenehmer Geruch drang mir in die Nase. Die Alte hatte entweder einen undichte Rosette, oder ein Kilo Bohnen zum Mittag gegessen, etwas anderes würde diese Art von Ausdünstung einfach nicht rechtfertigen. Also erhob ich mich so unauffällig, wie es ging und sah mich nach einem weiteren freien Platz um. Neben einem Typen á la Siegfried und Roy war der einzige unbelegte Sitz. Erst als ich in einer Kurve fast umgefallen wäre, ging ich auf ihn zu.
„Ist der Platz noch frei?“, versuchte ich so belanglos wie möglich zu fragen. Ein nasales, irgendwie herausgedrückt wirkendes „Mein Spätzchen ist gerade noch auf dem Klo, aber solange kannste dich hinsetzen“, bestätigte meine Vermutung. Entweder sein „Spätzchen“ würde dem maskulinen Teil der Gesellschaft angehören, oder Adolf Hitler würde nächstes Jahr posthum den Friedensnobelpreis bekommen, so wettete ich. Als er schließlich mit femininen Klopfbewegungen und flirtendem Lächeln neben sich auf den leeren Sitz tätschelte, wurde mir fast schlecht.
Aber was sollte ich machen? Ohne ihn nochmals anzusehen, ließ ich mich in das Polster plumpsen. Ich versuchte ihm so wenig Beachtung wie möglich zu schenken, aber schon nach kurzer Zeit fummelte er an einem kleinem Blöckchen rum, stupste mich mit seinen schwuchteligen Fingern, inklusive rot lackierten Nägeln an meinen Arm, und sagte: „Du-u, haste Bock auf Stadt-Land-Flu-us?“ Bevor ich eine Antwort auf die Frage geben konnte, kam sein „Spätzchen“ um die Ecke. Es war schlimmer, als ich es mir je erträumt hätte. Er hatte ein halb geöffnetes Hemd, nebst knallenger Jeans an, und unter dem Oberteil trug er ein Netzhemd. Ein goldener Ohrring, eine Halskette mit silbernem Emblem, auf dem ich ein Penis zu erkennen glaubte, ein durch das Hemd durchdrückendes Brustwarzenpiercing und schwarze Lackschuhe rundeten das groteske Bild ab. Ich war nicht mal im Stande „Hi“ zu sagen, da fing er schon an zu plappern: „Mensch, Montgomery, da haste dir aber ein Püppchen angelacht!“
Püppchen? Der spinnt doch! Jetzt wollte ich nur noch weg.
„So ich will euch nicht länger den Platz wegnehmen. Tschüss und schöne Fahrt.“ Die zwei Turteltäubchen ließ ich mit diesen Worten stehen und flüchtete in das nächste Abteil. Ich musste zwar stehen, aber das war mir egal. Kurze Zeit später kam mir eine Blondine entgegen und ich musste sofort meine Heterosexualität ausleben – ihr könnt euch bestimmt denken warum – und zwinkerte ihr zu. Und siehe da, sie lächelte zurück, ging aber dann in das nächste Abteil weiter.

Nach einer Weile musste ich an mein bevorstehendes Bewerbungsgespräch denken und meine Aufregung stieg spürbar. Plötzlich spürte ich einen enormen Blasendruck, weshalb ich zur Toilette des letzten Wagons ging, welche die einzige des ganzen Zuges darstellte, doch diese war besetzt. Also wartete ich mit angestrengtem Gesichtsausdruck, aufgrund der Dringlichkeit des bevorstehenden Geschäfts. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, bis sich die Tür entriegelte. Ich traute meinen Augen nicht, als die alte Dame, mit der ich schon so reizende Bekanntschaft machen durfte, herausgehumpelt kam. Und mit ihr wehte mir auch ein herber Geruch entgegen.
Mit angehaltenem Atem taumelte ich in die Kabine und sah etwas noch viel Schlimmeres: die Spülung ging nicht mehr! Mit blassem Teint pinkelte ich, ohne richtig hinzusehen. Ich versuchte nur Stückchen für Stückchen die angehaltene Luft auszuatmen. Sekunden nachdem ich fertig war entfloh ich endlich der Kloake. Als ich schwer schnaufend vor der Toilette stand, schaute ich in das entsetzte, angewidert dreinblickende Gesicht der Blondine. Mit einem „Pfui Deibel!“, ging sie an mir vorbei in die Kabine. Ich hörte sie von drinnen johlen: „Iiiihhh! So ein perverses Schwein!“ Damit konnte ich wohl den Quickie während der Bahnfahrt vergessen.

Ein wenig niedergeschlagen ging ich in den letzten Wagon, wo noch ein Plätzchen neben einem fülligen Herrn frei war. Ohne ihn zu fragen hockte ich mich hin.
„Guten Tag!“, sagte der Herr. Ich war so in Gedanken, dass ich ihm keine Antwort gab. „Mensch, isch denn dess zu viel verlangt, mol zurück zu grüße?“, fragte er und schaute mich vorwurfsvoll an.
Ein Schwabe. Der hatte mir gerade noch gefehlt, dachte ich leicht genervt.
„Guten Tag, der feine Herr“, entgegnete ich ihm mit einem gezwungenen Lächeln, ohne mir einen ironischen Unterton verkneifen zu können. Der Schwabe blätterte ungeachtet dessen in einem Heft und fing an zu plaudern: „Was die in de USA für en Wasserverbrauch henn, dess gibt’s ja gar net! Die müsste mal lerne richtig zu dusche, so wie ich! Wasser uff zum nass mache, Wasser ab zum eischäume, Wasser uff zum abspüle, fertig! So wird dess gmacht als Sparfuchs, un net allein 10 Minute s’Wasser laufe lasse, bevor ma überhaupt anfängt zu dusche, damit’s au ja net zu kalt isch!“ Ich nickte ihm mit einem Gesichtsausdruck zu, den ich normalerweise nur aufsetze, wenn ich in eine Zitrone beiße.
„Lasch mich mol kurz durch? Ich muss mol was aus meim Rucksack hole, der liegt do obe uff da Ablage:“ Widerwillig stand ich auf und ließ in durch. Ich war wie perplex, als ich sah, was er aus seinem Rucksack hervorholte: Fünf Orangen, eine Presse und ein Glas.
„Weisch, s’gibt doch nix besseres am frühe Morge, als en frisch gepresster Orangensaft!“, rechtfertigte er das bizarre Bild während er sich wieder neben mir nieder ließ. „Dess ekelhafte, schädliche Zeugs aussem Discan, Discont, nah, aussem Supermarkt isch nix für mich. Dess sin halt Vitamine“, sagte er wie ein Lehrer der seinen Schülern einen Sachverhalt erläutert und deutete mit großer Geste auf die Orangen.
„Ja, sehr viel, äh, Vitamin C“, antwortete ich.
„Wilsch a e bissl?“ Er hatte nun das Glas voll und fünf ausgepresste Orangen lagen auf dem Fensterbrett.
„Nein, danke!“ Ich schloss die Augen. „Lieber Gott, bitte lass diese Fahrt bald vorübergehen“, betete ich vor mich hin. Der Schwabe hatte es anscheinend gehört: „Was betsch denn du? Bisch du en Katholik? Von dene will i gar net erscht ofange, von dene Säckel!“
Er schien sich richtig aufzuregen. Plötzlich bremste der Zug abrupt und der Schwabe schüttete mir den Saft übers Hemd. „Sie Idiot, sehen sie was sie gemacht haben!“, schrie ich entsetzt und hielt ihm das versaute Oberteil hin. „Oh je, dess tut mir so leid, ich konnt ja net mit der Bremsung rechne“, versuchte er das Missgeschick zu erklären. Mit einem wütenden Blick ließ ich ihn stehen.

Ich wollte zur Toilette um mir den Fleck mit Wasser abzuwaschen, aber als ich dort ankam klebte ein Zettel an der Tür: Wegen defekter Spülung geschlossen.
Ich konnte kaum meine Wut unterdrücken. Plötzlich kam eine 30-sekündige Bahndurchsage, von der ich, wie eigentlich immer, nur zwei Wörter verstand und diese in diesem Fall aus „Problem“ und „Verspätung“ bestanden. „Das wird ja immer besser“, dachte ich, während ich mir an den Schläfen rieb. Ich schaute auf die Uhr. Eine viertel Stunde wäre die Fahrt noch ungefähr gegangen, doch nun standen wir erst einmal. „Das Bewerbungsgespräch ist erst in eineinhalb Stunden“, redete ich mir leise Mut zu. Ich war richtig erleichtert, dass ich so viel Zeit einkalkuliert hatte. Aber mein Fleck war immer noch nicht beseitigt.
Ich konnte unmöglich zu dem Gespräch mit einem verfleckten Hemd ankommen!
Verzweifelt schaute ich an mir hinunter. Plötzlich tätschelte mir jemand von hinten auf die Schulter. Nur von diesem Gefühl her konnte ich schon sagen, um wen es sich handelte. „Du-u, haste ein Problemchen?“ Ich sah dem „Spätzchen“ ins Gesicht und erklärte ihm, was passiert war. „Hey, ich hab die Idee“, sagte er nach einer Weile. Und schon hatte er sein Hemd ausgezogen und sah nun aus, als hätte jemand ein Fischernetz über ihm abgeworfen. „Nimm meins, das steht dir eh besser. Wir machen einfach ’nen Tausch“, schlug er vor und streckte mir sein schwarzes Hemd entgegen. Widerwillig gab ich ihm mein Hemd und zog seins an. Es passte mir überraschender Weise sehr gut und da dies das heterosexuellste Kleidungsstück an ihm war, fühlte ich mich sogar wohl. „Su-per chic“, rief er im Tonfall eines Modeschöpfers, den die Muse geküsst hatte, und der nun sein neustes Werk bestaunte.
Ich bedankte mich und sagte, dass ich noch mit jemandem reden müsse und schlich mich irgendwie davon.

Ich wollte bis ans andere Ende des Zuges weitergehen, doch schon im nächsten Abteil stellte sich mir ein dunkelhäutiger Typ in den Weg. „Hey, friend, wolle was kaufe, habe beautiful watch, only zwunzig Öro.” Er öffnete seine Jacke und ich schaute auf geschätzte 500 Uhren. „Eigentlich nur verkaufe in Stadt, aber nutze hier kleine Stopp, einmalige Chance“, fuhr er fort und als ich ihn immer noch sprachlos ansah, fügte er hinzu: „Ok, weil du my friend, nur funfzehn Öro“. Ich war völlig kaputt und wollte nur noch in Ruhe gelassen werden, deshalb wollte ich schon meinen Geldbeutel herausholen, um zu zahlen. Doch er war weg! Mit Tränen in den Augen suchte ich meine Taschen ab. Mein Geld, mein Ausweis, mein Führerschein – alles war da drin! Ich hätte den Zug in die Luft sprengen können.
Kalter Schweiß stand mir auf der Stirn, als ich den Wagonboden und meine Hosentaschen nach dem Geldbeutel absuchte. Dann fiel es mir wie Schuppen von den Augen! Ich hatte den blöden Geldbeutel in mein Hemd gesteckt, als ich meine Fahrkarte gekauft hatte!
Wie ein tollwütiger Fuchs suchten meine Augen den Zug nach dem „Spätzchen“ ab, welches mein Hemd anhatte.
Nach einigen Sekunden erhaschte mein Blick den unfreiwilligen Dieb. Er stand im Gang zwischen den Sitzreihen neben Montgomery und schien mit dem mir schon bekannten Schwaben eine erregte Diskussion zu führen.
Entschlossen, endlich mein Portmonee wieder in den Händen zu halten, und dann endlich einmal für ein paar Minuten meine Ruhe zu haben, ging ich auf meine zwei Freunde mit großen Schritten zu. Je näher ich kam, desto mehr Gesprächsfetzen drangen in meine Ohren.
„Dess isch eine UNVERSCHÄMTHEIT, ihr seid zwei Dreckspatze, fertig! Ihr schwule Säckel versaut doch die ganz’ Jugend! Ekelhaft, in aller Öffentlichkeit, ihr solltet euch schäme!!!“

„Jetzt reicht es aber, ich und Montgomery, wir lieben uns! Und das hat JEDER zu respektieren, Sie homophobes Arschloch!!!“
Diese Worte schlugen mir just in dem Moment entgegen, als ich die stänkernde Gruppe erreicht hatte, und ich war verwundert, wie maskulin sich Montgomery und Co. streiten konnten. Von rosarote Wattepüschelchen-Würfen keine Spur.
„Ich lass mich net von zwei widerwärtigen Schweineigeln beleidigen!“ Mit diesem Ausruf, und der Boshaftigkeit Caligulas im Blick, sprang der Schwabe von seinem Sitz auf.
Letzte Möglichkeit für mich dazwischenzugehen, dachte ich. Beschwichtigend hob ich die Hände und lehnte meinen Oberkörper nach vorne. Doch ich kam zu spät.
„Schluss mit lustig! Ich bin schwul und das ist gut so. Ich schlag dich K.O. du Schwaaaaaabensau!!!“, schrie Montgomerys Freund und holte mit einem großen Armschwung zum Schlag aus.
Doch zu diesem Schlag kam es nicht, denn sein harter Ellenbogen traf meine Schläfe und ich ging mit einem erstickten Keuchen zu Boden.

Mit pochendem Schädel und verschwommenem Blick kam ich wieder zu Bewusstsein. Das erste, was ich erblickte waren die schemenhaften Umrisse von einem Gesicht eines Mannes und dessen Hände, die auf meine Wangen eintätschelten.
Langsam erhob ich mich. Mein Kopf dröhnte, wie wenn jemand mit einem Vorschlaghammer auf mein Haupt eindreschen würde.
Mit müdem Blick schaute ich aus dem Zugfenster, da kam nach und nach die Erinnerung wieder. Zugfahrt….Geldbeutel….Bewerbungsgespräch! „Mein Gott!“, entfuhr es mir. Plötzlich hellwach, aber immer noch mit schmerzverzerrter Miene schaute ich auf die Uhr. 10 Uhr 42! Nicht einmal mehr zwanzig Minuten bis zu meinem Vorstellungsgespräch.
Wieder fuhr mein Blick hektisch zum Fenster. Wir fuhren wieder! Dann schaute ich zu dem Mann, der vor mir stand und mich mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck ansah. Es war Montgomerys Freund. „Es tut mir ja soooo leid, mein Lieber! Um Gottes Willen, was habe ich da denn bloß angestellt? Gott sei Dank geht es dir wieder besser!“, kopfschüttelnd fasste er sich an die eigenen Backen. „Wie lange…ähm…wie lange fahr’n wir noch?“, fragte ich langsam, als ob der Schlag tausende meiner Hirnsynapsen zerstört hätte.
„Du-u wir sind gerade erst wieder losgefahren, ich denke in zehn Minuten sind wir am Hauptbahnhof. Und hier, das gehört glaub ich dir“, antwortete er mir und streckte mir mit dem Blick eines reuigen Diebes meinen Geldbeutel entgegen. „Ich hatte es wirklich nicht bemerkt“, fügte er noch zu seiner Verteidigung hinzu.
„Schon O.K.“, sagte ich erschöpft und nahm ihm mein Portmonee aus der Hand und steckte es in meine Hosentasche. „Ich möchte mich jetzt ausruhen, ich habe, so glaube ich, bei dieser Zugfahrt genug erlebt.“ Dem letzten Teil des Satzes verlieh ich anscheinend so einen Nachdruck, dass das "Spätzchen" nur noch nickte und sich artig von mir entfernte und sich neben seinem Freund ca. zehn Reihen vor mir nieder ließ.
Ich schloss die Augen und atmete tief ein und aus. Ich hatte mein Geld wieder, ich hatte meine Papiere wieder, ich hatte ein sauberes Hemd an. Ich versuchte mich mit positiven Gedanken innerlich zu beruhigen. „Ich kann es noch schaffen!“, flüsterte ich mir selbst zu.
So saß ich deutlich ermutigt und mit einem zufriedenem Lächeln in meinem Sitz, als der Zug plötzlich langsamer wurde, und eine weibliche Stimme durch die Lautsprecher ertönen ließ: „Tübinger Hauptbahnhof, Ausstieg links.“ Ich öffnete die Augen und schaute auf die Uhr: 10 Uhr 51.

Als die Zugtüren zischend aufsprangen, flitzte ich aus dem Zug in Richtung Ausgang des Bahnhofes. Noch sieben Minuten. Zu Fuß bräuchte ich mindestens 20 Minuten, schoss es mir durch den Kopf. Hilft nur ein Taxi. Schwitzend schoss ich durch die Eingangshalle und erreichte um Punkt 10 Uhr 55 den Taxenstand.
Schnell stieg ich in die erste Kraftdroschke ein. „Bitte ganz schnell zur Charlottenstraße, wenn es geht in 5 Minuten“, wies ich den Taxifahrer an.
Ein schwarzhaariger Mann mit hellbrauner Haut wendete mir sein Antlitz zu.
„Normal ich brauchen 8 Minuten. Aber ICH“, und bei dem „ich“ legte er eine Pause ein, die wohl der Bewunderung dienen sollte, „bin de König von de Bosporus, ich schaff’ de Weg in sechs Minuten. Und wenn du mir gebe viele, viele Trinkgeld ich mache für dich in vier!“, schlug er vor, und machte dabei den Eindruck eines Marktschreiers, der den Preis aushandelte.
„Alles was Sie mögen, nur schnell, bitte“, entgegnete ich.
„O.K. anschnalleee, los geht de wilde, wilde Fahrt!“, rief er fast in ekstatischer Erregung und drückte seinen rechten Fuß durch.
Ich hatte ja schon in einigen Achterbahnen gesessen, aber diese Fahrt mit dem Bosporus-König schlug alles: mit 80 km/h durch die Stadt, Überholmanöver von rechts, wildes Wechseln der Fahrbahn und schließlich noch die Überfahrt einer roten Ampel. Mir hing der Magen in der Kniekehle und zu den höllischen Kopfschmerzen gesellte sich nun auch noch Schwindel.
Exakt um 11 Uhr kam das Taxi mit quietschenden Reifen vor der Werbeagentur zum Stillstand. Mir war zwar schlecht, aber ich hatte es geschafft. Innerlich jubelnd drückte ich meinem Freund im hellelfenbeinenen Höllengefährt einen Zwanzigeuroschein mit einem hastigen „Stimmt so!“ in die Hand.
Ich verließ den Wagen und spurtete wie Usain Bolt in Hochform zum Eingang der Agentur. Doch was ich da sah, war schlimmer als alles, was ich an diesem verfluchten Morgen erlebt hatte.
An der Eingangstür hing ein Zettel mit folgender Aufschrift:

Liebe Teilnehmer der Bewerbungsgespräche für die Stelle eines Werbetexters zur Verstärkung unseres Teams der Tele-Promotions-Agentur in OB 2.
Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass die zuständige Kraft, Frau Dr. Ziegenbein, kurzfristig erkrankt ist, und wir die Auswahlgespräche verschieben müssen. Wir haben Sie versucht mit einer gestrigen E-Mail zu informieren. Wenn Sie dennoch heute in der Erwartung eines Bewerbungsgespräches hier erschienen sind, bedauern wir dies sehr, und bitten Sie um Verzeihung. Über den neuen Termin werden sie per E-Mail informiert.

„Meine Fresse!“, rief ich aus. Was hatte ich nur verbrochen? Wieso hatte ich gestern Abend bloß nicht mehr mein Postfach gecheckt?
Vor Wut biss ich mir die Unterlippe blutig. Enttäuscht wendete ich der Hiobsbotschaft den Rücken zu.
Ich wusste gar nichts mehr, nicht einmal, ob ich diesen blöden Job überhaupt noch wollte. Nur bei einer Sache war ich mir relativ sicher: dass ich auf keinen Fall mit dem Zug nach Hause fahren würde…

 

Hallo Gerstiego

Ich war richtig aufgeregt, als ich in die Bahn einstieg.

Die Aufregung des Ich-Erzählers vermeinte ich noch in den ersten Zeilen wahrzunehmen, als ich zu lesen begann. Der Einstieg beginnt hastig und etwas ungelenk, fünfmal im ersten Abschnitt z. B. Bahn/Zug erwähnend. Es erzeugte mir so nicht wirklich Neugierde, was da für ein Erlebnis nachkommt. Das richtig vor aufgeregt ist eine Redensart, die spontan im Gespräch aufkommen mag, doch in einem literarischen Text entbehrlich ist. Dieser ganze Absatz würde stark gekürzt mir wahrscheinlich ansprechender wirken.

Es war noch ein schönes Plätzchen neben einer älteren Dame frei, weshalb ich mich gleich dort nieder lies.

Auch hier bringst du eine Plattitüde ein, die den Lesefluss so eher hemmt: schönes Plätzchen. Ein Platz im Zug ist einem genehm oder eher nicht. Aber schön? Das gleich ist dann überflüssig. Kurz und prägnant liest es sich besser. Und bei lies bedarf es für diesen Akt ein doppeltes s.

Neben einem Typen á la Siegfried und Roy war der einzige unbelegte Sitz. Erst als ich in einer Kurve fast umgefallen wäre, ging ich auf ihn zu.

Siegfried und Roy sind mir aus den Medien bekannt. Ich kann hier aber nicht entnehmen, weshalb sich der Prot. davor zurückschreckte, neben einem Ebenbild aus den beiden zu setzen? Nachfolgend schimmert dann durch, dass du in diesem Typ eine Tunte siehst.

oder Adolf Hitler würde nächstes Jahr postum den Friedensnobelpreis bekommen,

posthum

Als er schließlich mit femininen Klopfbewegungen und flirtendem Lächeln neben sich auf den leeren Sitz tätschelte, wurde mir fast schlecht.

Den ganzen Abschnitt, über diesen Textausschnitt hinaus, finde ich zu überzeichnet. Ich kann zwar nachfühlen, wenn sich der Prot. ungern in Körperkontakt dem Typ annähert, doch liest sich dies schon etwas krass. Bei einer ausgeprägten Homophobie würde er ja wohl eher weit wegrennen.

Kurze Zeit später kam mir eine Blondine entgegen und ich musste sofort meine Heterosexualität ausleben – ihr könnt euch bestimmt denken warum – und zwinkerte ihr zu.

Da macht der Prot. ja eher einen jämmerlichen Eindruck, wenn er meint, damit sein Ego aufbauen zu können.

Mit angehaltenem Atem taumelte ich in die Kabine und sah etwas noch viel Schlimmeres:

Hier nahm die Geschichte – für meinen Geschmack – einen unnötig weiten Abstand zu jeder Ästhetik ein. Nichts gegen reale Szenen, aber mus es denn gleich so degoutant daherkommen?

Ich hörte sie von drinnen johlen: „Iiiihhh! So ein perverses Schwein!“ Damit konnte ich wohl den Quickie während der Bahnfahrt vergessen.

Ja, die Blondine hatte recht, auch ich ergriff die Flucht vor dem Prot. aus dem Text, da es wohl in dieser Weise und Wortwahl so weitergeht.

Ich habe nicht grundsätzlich etwas gegen derbe Stücke, wenn sie zumindest literarisch das Niveau halten. Hier überzeugte mich dieser Aspekt in deinem Erstling leider nicht.

Schöne Grüsse

Anakreon

 

Hallo Gerstiego!

Ich finde deine Geschichte ganz nett, bis auf ein paar Ausnahmen (Zeitfehler, inhaltliche Fehler, für mich unangenehme Worte und Vergleiche):

warum der Sitz unbesetzt geblieben ist

warum der Sitz unbesetzt geblieben war

Entweder sein „Spätzchen“ würde dem maskulinen Teil der Gesellschaft angehören, oder Adolf Hitler würde nächstes Jahr postum den Friedensnobelpreis bekommen

Der zweite Teil des Satzes ist für mich persönlich geschmacklos...

mit seinen schwuchteligen Fingern

Auch das finde ich geschmacklos...

Ich traute meinen Augen nicht, als die alte Dame, mit der ich schon so reizende Bekanntschaft machen durfte, herausgehumpelt kam. Und mit ihr auch ein bestialischer Gestank.

Der Gestank humpelt also aus der Bahntoilette? :)

Mensch, isch denn dess zu viel verlangt, mol zurück zu grüße?

Erscheint mir wie eine Mischung aus bayrisch, berlinerisch und sächsisch. Nach schwäbisch klingt es für mich nicht.
Hast du dich näher mit dem schwäbischen Dialekt befasst, oder hast du dir das aus den Fingern gesaugt?
Wenn du selbst Schwabe bist und dich damit auskennst, dann nehme ich diese Kritik zurück.

Widerwillig stand ich auf und lies in durch.

ließ ihn durch

„Lieber Gott, bitte lass diese Fahrt vorübergehen“

Vorübergehen wird die Fahrt mit Sicherheit irgendwann. Fragt sich nur wie schnell. ;)

Aber meinen Fleck war immer noch nicht beseitigt.

Aber mein Fleck

Und hier, das gehört glaub ich dir“, antwortete er mir und streckte mir mit dem Blick eines reuigen Diebes meinen Geldbeutel entgegen. „Ich hatte es wirklich nicht bemerkt“, fügte er noch zu seiner Verteidigung hinzu.

War es nicht das "Schätzchen", das dem Protagonisten versehentlich den Geldbeutel stahl?

dass Montgomery nur noch nickte und artig sich von mir entfernte

und sich artig von mir entfernte

„Alles was sie mögen, nur schnell, bitte

Sie

Liebe Teilnehmer der Bewerbungsgespräche für die Stelle eines Werbetexters zur Verstärkung unseres Teams der Tele-Promotions-Agentur in OB 2.
Leider müssen wir Ihnen mitteilen, dass die zuständige Kraft, Frau Dr. Ziegenbein, kurzfristig erkrankt ist, und wir die Auswahlgespräche verschieben müssen. Wir haben Sie versucht mit einer gestrigen E-Mail zu informieren.

Ziemlich unwahrscheinlich, das Unternehmen kann nicht davon ausgehen, dass jeder das E-Mail Postfach einen Tag vor dem Vorstellungstermin inspiziert... ich denke eher, dass Anrufe getätigt würden.

Ich finde es lustig welche Klischees du aufgreifst und wie du sie in deine Geschichte einbindest, deshalb konnte ich mehr oder weniger über die Fehler und Geschmacklosigkeiten hinwegsehen.

Liebe Grüße,
Elfa

 

Moin Gerstiegn,
hat mir viel Mühe gekostet, die Geschichte bis zu Ende zu lesen.
Die Sprache klingt wie dahingekotzt (tut mir leid für den derben Ausdruck) und die Aneinanderreihung von Klischees und völlig überzeichneter Personen ergeben für mich keinen Sinn. Die ganze Reise ebenso wenig. Was soll das sein? Slapstick? Tut mir leid, ich konnte weder über die beiden Schwulen lachen, noch über den Schwaben und schon gar nicht über die ältere Dame. Von der Blondine einmal ganz abgesehen. Kam noch jemand vor? Ja richtig? Der türkische Taxifahrer. Haha. Und der (afrikanische?) Verkäufer von Uhren.
Ich fahre viel Zug und bin ein kommunikativer Mensch. Tut mir leid. Solche Typen gibt es nicht. Nicht das Literatur ein Abbild der Realität sein muss, selbst Überzeichnungen haben ihre Berechtigungen und natürlich passiert in solchen Geschichten mehr und es ist intensiver, als es normal der Fall ist. Aber: Du hast zwar nicht direkt und ausdrücklich die einzelnen Personen wegen ihrer sexuellen, kulturellen, altersmäßigen Besonderheiten bzw. bezüglich ihrer Herkunft bloßgestellt, aber weit weg bis du davon nicht (ich würde so gar sagen, sehr nah dran). Und ehrlich, das hat mit Literatur nichts zu tun. Wenn du deine Charakterisierungen und die offensichtliche Meinung deines Protagonisten nicht einbettest in einen Gesamtzusammenhang (wie immer er sein möge), kann ich nur annehmen, dass es dir um die Verunglimpfung dieser Menschen geht. Und das gehört (meiner Meinung nach) nicht in dieses Forum.

Herzliche Grüße Heiner

 

Hallo Elfaron,

Erst mal will ich mich für deine faire Kritik bedanken. Ich hab die Fehler verbessert :)

Also ich wohne in Baden-Würrtemberg, kenn mich also mit Badisch und Schwäbisch aus ;)

Und mir dem Schätzchen hattest du recht, war mir gar nicht aufgefallen!

Eine Anmerkung noch: Diese etwaigen Geschmacklosigkeiten und Verunglimpfungen, wie sie du und heimee erwähnen, sind lediglich Ansichten des Ich-Erzählers, und stimmen nicht mit meinen eigenen überein. Sie sollten die Geschichte einfach durch die Überspitzungen witziger machen.

Und noch was, heimee: diese Geschichte sollte einfach zum Schmunzeln sein, und hatte nie den Anspruch ein Werk elaborierter Weltlieratur darzustellen.

Liebe Grüße,
Gerstiego

 

Also ich wohne in Baden-Würrtemberg, kenn mich also mit Badisch und Schwäbisch aus

Wieder was dazu gelernt ;) Entschuldige bitte, dass ich dich da fälschlicherweise kritisiert habe.

Diese etwaigen Geschmacklosigkeiten und Verunglimpfungen, wie sie du und heimee erwähnen, sind lediglich Ansichten des Ich-Erzählers, und stimmen nicht mit meinen eigenen überein. Sie sollten die Geschichte einfach durch die Überspitzungen witziger machen.

Aber es gibt sehr viele Menschen die diese Art von Humor nicht als witzig empfinden. Ich finde schon man sollte da vorsichtiger vorgehen. Wenn du die Geschichte witzig erscheinen lassen möchtest, dann versuche es so, dass sich niemand angegriffen fühlen könnte.

Liebe Grüße,
Elfaron

 

Moin Gerstiego,

Eine Anmerkung noch: Diese etwaigen Geschmacklosigkeiten und Verunglimpfungen, wie sie du und heimee erwähnen, sind lediglich Ansichten des Ich-Erzählers, und stimmen nicht mit meinen eigenen überein. Sie sollten die Geschichte einfach durch die Überspitzungen witziger machen.

Meine Frage war einfach, auf wessen Kosten du dich lustig machst. Und in welche Ecke das Ganze automatisch weist.

Und noch was, heimee: diese Geschichte sollte einfach zum Schmunzeln sein, und hatte nie den Anspruch ein Werk elaborierter Weltlieratur darzustellen.
Ich habe aus meiner Sicht geschrieben. Ich fand es weder komisch noch zum Schmunzeln, sondern schlicht unterirdisch.
Herzlichst Heiner

 
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Hallo Gerstiego,

also lustig fand ich deine Geschichte auch nicht, eher eine Aneinanderreihung gängiger Klischees. Zu wenig Ironie, um richtig witzig zu sein.
Die einzige Person, die mir einigermaßen symphatisch war, war der türkische Taxifahrer. Ich hatte nur noch auf den Satz gewartet: "Wo du wollen? ... jetzt fahre Memphis".
Zu dem "Schätzchen" und seinem Freund: Es war wohl nicht deine Absicht, aber die beiden kommen so richtig gemein und klischeehaft als "Tucken" rüber. Ich denke, die gleichgeschlichtlich Veranlagten werden über deine Story auch nicht so begeistert sein. Und dass Schwule Heteros anbaggern kann ich mir nicht so vorstellen.
Wie ich sehe, bist du noch nicht so lange bei kg.de. Was deiner Geschichte fehlt, ist der selbstironische Abstand zum Prot.

Gruß
Leia4e

 

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