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Die unglaubliche Geschichte des Casper Bender
1. Der Anfang ist dunkel
Casper erwachte und sah nichts außer Finsternis. Verwundert blinzelte er einige Male. Es roch nach Holz. Als er sich aufsetzten wollte, schlug sich den Kopf an.
„Au, verflixt! Wo bin ich?“
Vorsichtig tastete er umher und wurde sich schnell bewusst, in einer Kiste zu liegen.
„Hallo? Hört mich jemand?“, rief er panisch. Nun war er hellwach. Wie war er nur hier hinein geraten? Er konnte sich nicht erinnern. Seine Fingerkuppen suchten nach Anhaltspunkten. Die Oberfläche war rau und unbehandelt. Er klopfte mit den Fingerknöcheln gegen den Deckel. Ein dumpfer, hohler Ton, nicht so, als seien ein paar Zentner Erde über ihn aufgeschichtet worden.
„Ganz ruhig bleiben“, sagte er sich selbst und atmete langsam aus.
Casper war ein rationaler Mensch. Bei Problemen oder Schwierigkeiten hatte ihm seine Besonnenheit stets hilfreich zur Seite gestanden. Er verachtete es, unkontrolliert Gefühlen wie Hysterie oder Zorn ausgeliefert zu sein und betrachtete dies als ein Zeichen von Unreife. Auch ein Grund, warum ihn seine Mitmenschen als unnahbaren Zeitgenossen erlebten. Er selbst sah sich als Arbeitsmensch, das war eben seine primäre Aufgabe. Und was hatten bitteschön Gefühle in der Gerichtsmedizin verloren? Sie sind einfach unangebracht, wenn man einem toten Menschen den Brustkorb öffnen muss.
Casper strich sich durchs Gesicht. Er bemerkte Bartstoppeln. Sein Magen fühlte sich leer, die Mundhöhle ausgetrocknet an.
Auf einmal wurde die Kiste mit einem Ruck in Bewegung gesetzt. Sein Kopf machte wieder Bekanntschaft mit dem Deckel. Er versuchte, mit Armen und Beinen Halt zu finden, was sich als äußerst schwer herausstellte, da die Kiste nun samt ihm kippte und kopfüber stand. Casper keuchte. Alles schwankte hin und her.
„Hilfe! Hören Sie sofort auf damit, wer immer Sie sind!“, schrie er so laut er konnte.
Die Kiste fiel zur Seite, ohne aber dabei hart aufzuschlagen. Dann wurde es still.
Casper rang nach Luft. Sein Herz raste. Er schmeckte Blut, da er sich auf die Zunge gebissen hatte. Die Nase voll von diesem Spielchen rief er:
„Lassen Sie mich hier raus!“, wobei er einige Male kraftvoll gegen die Fußseite der Kiste trat.
„Hallo?“, hörte Casper endlich eine tiefe Stimme antworten.
„Ist jemand da draussen?“, fragte er.
Die Kiste setzte sich in Bewegung, weniger ruckartig, eher wie ein Aufzug.
„Ja ... und ist da jemand drin?“, vernahm Casper wieder die mächtige Stimme.
„Ich bin hier drin! Holen Sie mich bitte hier heraus!“
„Das gibt’s doch nicht!“
„Was soll's nicht geben, öffnen Sie jetzt endlich die verdammte Kiste!“
Casper spürte, wie sich jemand am Deckel zu schaffen machte. Der öffnete sich erst einen Spalt und wurde dann weg gerissen. Gleißendes Tageslicht blendete ihn, doch langsam gewöhnten sich seine Augen daran.
„Um Gotteshimmelswillen!“, entfuhr es Casper, denn er schaute auf ein gewaltiges Gesicht, das mindestens zwei Meter im Durchmesser betrug und ihn ungläubig betrachtete.
Es begann ohrenbetäubend zu lachen.
Casper kauerte sich vor Angst zusammen. Dies alles konnte doch nur ein Traum oder eine Halluzination sein.
Das Gelächter verstummte und das Gesicht sagte sanft:
„Keine Angst, Kleiner, ich tue dir nichts.“
Casper blickte vorsichtig in seine gütige Augen.
„Ich heiße übrigens Kalle.“
2. Freund oder Feind?
Casper hatte sich aufgesetzt. Er lugte über den Rand der Kiste. Dort ging es rund 10 Meter nach unten. An ein Entkommen war nicht zu denken. Sein Verstand übernahm wieder die Kontrolle.
„Gut, … Kalle, was jetzt? Bist du ein Riese oder so etwas Ähnliches?“, fragte Casper.
„Ha-ha, Riesen!“, dröhnte Kalle. „Die gibt’ s doch nur in Märchen. Ich bin ein Gigant.“
„Ach so!“ Casper war nicht wirklich schlauer geworden. „Weshalb lässt du mich nicht erst mal auf den Boden runter? Ich leide nämlich ein klitzekleines Bisschen unter Höhenangst.“
„Und dann rennst du mir weg, gell?“, hallte es zurück.
Casper seufzte. Soweit er wusste, waren die Riesen in Märchen immer etwas einfältig gewesen. Aber er hatte es ja hier auch mit einem Giganten zu tun. Also versuchte er es mit einer neuen Strategie. Er räusperte sich und sagte:
„Vielleicht sollte ich mich erst mal vorstellen. Mein Name ist Casper Bender. Ich bin Gerichtsmediziner und komme aus Köln. Dürfte ich erfahren, warum ich in diese Kiste gesteckt wurde?“
„Wie du da rein gekommen bist, weiß ich auch nicht“, dröhnte Kalle. „Aber wir hier in Schuttland verschicken solche Kisten mit der Post. Und diese Paketkiste ist an mich adressiert.“
„Ich sitze in einem Paket?“, fragte Casper. „Wer sollte mich denn mit der Post verschicken? Und warum ausgerechnet an Sie?“
Der Gigant linste mit zugekniffenem Auge auf den Deckel, den er immer noch zwischen Daumen und Zeigefinger hielt. „Da steht der Name des Absenders: Konrad Kirschkernknacker.“
„Wer zum Teufel ist Konrad Kirschkernknacker?“, wollte Casper wissen.
Der Gigant schabte sich am Genick.
„Hmm, noch nie von ihm gehört. Weshalb sollte der mir auch so einen Winzling schicken?“
Sie kamen so nicht weiter. Casper schaute sich um. Dieses Schuttland schien nicht äußerst besiedelt zu sein. Keine Straße, kein Dorf. Kein Zeichen zivilisierten Lebens weit und breit. Nur Felsen, Steine und hier und da ein Strauch. Schließlich fragte Casper:
„Gibt es hier in Schuttland … Internet oder ein Telefonbuch, jemanden der diesen Kirschkernknackern kennen könnte?“
Der Gigant schaute ihn ratlos an, dann verzog er seinen Mund zu einem breiten Grinsen, sodass die gelben Zähne zum Vorschein kamen. Schließlich sagte er:
„Ich kenne da jemanden, der uns weiterhelfen kann!“ Sprachs und knallte den Deckel wieder auf die Kiste. Casper konnte sich gerade noch rechtzeitig ducken.
„He, was soll das, mach sofort den Deckel wieder runter!“, rief er empört.
Doch der Gigant hatte die Kiste bereits in seine Hemdtasche gesteckt und sich pfeifend auf den Weg gemacht.
3. Der Waise und sein Rätsel
„Professor Parkinson! Sind Sie da?“
Casper fuhr zusammen. Er hatte nach einer Weile seinen Protest aufgegeben und wollte seine Energie für die Lösung dieses Dilemmas sparen. Gefangen in einer Kiste. Versendet an einen Giganten. Wie konnte es nur so weit kommen?
„Pro-fes-sor Par-kin-sooon!“, dröhnte Kalle.
„Ja doch, ich komme ja schon, ein alter Mann ist doch keine Dampflok!“, hörte Casper eine Stimme krächzen.
„Was störst du meinen Mittagsschlaf, langer Hansel?“
„Ich habe da ein Problem. Mir wurde heute ein Winzling mit der Post zugeschickt.“
„Was interessiert mich das? Ich friere mir hier draußen den Sitzbock ab!“
„Na ja, ich habe mir halt gedacht, dass Sie vielleicht den Absender kennen, Konrad Kirschkernknacker. Sie wissen doch immer alles ...“
Casper hatte genug von diesem Hörspiel. Er schrie aus Leibeskräften:
„Dürfte ich mich auch mal zu dieser Angelegenheit äußern?“.
„Ach so, ja“, murmelte Kalle, holte die Kiste hervor und öffnete den Deckel.
Vorwurfsvoll blitzen ihm Caspers Augen entgegen.
Kalle lächelte verlegen. Dann nahm er vorsichtig Casper aus der Kiste und setzte ihn auf seine Schulter.
Sie standen vor einer gewaltigen Buche. Auf einem ihrer Äste ruhte ein prunkvolles Anwesen, dass dem Professor gehören musste. Türme mit Fähnchen auf den Spitzdächern verliehen dem Haus einen schloßartigen Charakter, was durch Erker und bunte Glasfenster noch verstärkt wurde. Casper glaubte sogar einen Aufzug zu erkennen und eine Art Hubschrauberlandeplatz. Der Professor schien ein gefragter Mann zu sein, wenn er sich all dies leisten konnte.
Er selbst war ein vornehmer, älterer Herr mit Bart, der einen rosa schimmernden Samtmantel trug. Ein dazu passendes Filzhäubchen zierte seinen Kopf. Dieser Farbton schien es ihm angetan zu haben, denn auch seine Villa war größtenteils in dieser Farbe gehalten. Seinen Namen trug er auch nicht zu unrecht, denn er zitterte zum Erbarmen.
„War' s das?“, fragte der Professor. „Dann kann ich ja wieder zurück ins Warme, ihr Luschen. Tschüß!“
„Halt, warten Sie noch“, rief Casper. „Ähm, darf ich mich vorstellen?“
Der Professor seufzte.
„Mein Name ist Casper Bender, ich bin Gerichtsmediziner und komme aus Köln.“
Der alte Mann klatschte sich die Hand auf seine Stirn. „Hab' s doch gleich gewusst!“
„Ja?“, fragte Casper verdutzt. „Woher …“
„Eine schöne Stadt! Liegt am Obowompo.“
„Obowompo? Nein, am Rhein.“
„Ich war da ein, zwei Mal, zusammen mit meiner Frau. Ich glaub mit der dritten.“
„Ähm, sind Sie sicher, dass wir über das selbe Köln sprechen?“
„Oder mit der vierten?“
„Ich weiß jetzt nicht, auf was sie hinaus wollen. Aber warum haben Sie eigentlich gleich gewusst, dass ich aus Köln komme?“
„Weil in Köln am Obowompu nur Nervensägen wohnen, die einem die Zeit stehlen wollen!“, schrie der Professor , dass ihm beinahe das Gebiss herausfallen wäre. Fluchend ging er Richtung Haus zurück.
„Vielleicht hätten wir warten sollen, bis er seinen Mittagsschlaf gehalten hat“, flüsterte Casper dem Giganten zu, der mit den Schultern zuckte.
„Bitte, sagen sie uns nur, wo wir diesen Kirschkernknacker finden können und wir sind weg“, versuchte es Casper nochmals.
Der Professor blieb stehen, es schüttelte ihn einige Male heftig, dann drehte er sich schließlich um und raunte:
„Na gut, ihr lasst mir ja sonst keine Ruhe.“
Er kam bis zum Rande des Astes gewackelt und zwirbelte nachdenklich seinen Bart. Dann sagte er:
„Hört gut zu und befolgt, was ich sage, ja?“
Casper und der Gigant nickten zuversichtlich.
Plötzlich kam ein Sturm auf. Die Blätter des Baumes rauschten, Äste knarzten und rosa Fensterläden schlugen auf und zu. Der Himmel verdunkelte sich und der Donner grollte. Casper hielt sich am Rand der Kiste fest.
Der Professor hob seine Arme empor und es ertönte eine gewaltige Stimme, die von allen Seiten gleichzeitig zu kommen schien:
Such des Kirschbaums Schatten nun
dort im düst'ren Tannenwald.
Zahl dem Wirt die Zeche nicht,
dann wirst du ihn treffen bald.
Es hilft dir kein Zähn-Geklapper,
wenn er kommt, der Kirschkernknacker.
Die Stimme verhallte und das Unwetter verzog sich, bis die Sonne wieder schien und die Vögel zwitscherten.
Mit offenen Mund standen der Gigant und Casper da und schauten dem zitternden, alten Mann hinterher, als er auf seinem Stock gestützt in sein Anwesen humpelte und schließlich die Tür hinter sich zuknallte. Aber dann öffnete sie sich nochmals, der Professor streckte seinen Kopf heraus und rief:
„Und jetzt packt euch, ihr Luschen!
4. Der düstere Tannenwald und ein Abschied
Kalle wusste, welcher Tannenwald in dem Rätsel gemeint war. Nur 5000 Meilen weiter östlich – für einen Giganten ein Verdauungsspaziergang - lag das Wichtelgebirge, dessen gletschergekrönte Gipfel von dunklen Nadelwäldern umsäumt wurden. In diesem Gebiet hauste allerhand Gesindel: Hexen, Scherenschleifer und andere Tagediebe. Ohne die Gesellschaft eines Giganten hätte man dort nicht unbedingt Urlaub machen sollen. Aber da Casper nun mal sich in genau einer selbigen befand, konnte er es sich getrost auf Kalles mächtiger Schulter bequem machen. Sie hatten sich darauf verständigt, die Paketkiste diesmal nicht zu befüllen.
„Schöne Gegend hier“, fand Casper.
Kalle rümpfte die Nase.
„Sag mal, wie heißt denn dieses grenzenlose Reich hier eigentlich?“, wollte Casper wissen.
„Ja, weißt du das denn nicht, wir sind hier in ...“ Weiter kam er nicht, denn er wurde durch einen Mark erschütternden Schrei unterbrochen.
„Nicht schon wieder!“, brummte Kalle.
Giganten litten in der Regel unter gewaltigen Komplexen, da sie im Laufe ihres Lebens nicht wenige vernunftbegabte Kreaturen aus Unachtsamkeit zertraten, von den Sachschäden mal abgesehen. Diesmal hatte es ein zotteliges Kerlchen erwischt, das gerade ein Nickerchen gemacht hatte. Nun lag es auf dem Boden und jammerte und fluchte vor sich hin.
„Tschuldigung!“, dröhnte Kalle.
„Meine Beine, plöder Riese!“, schrie das Kerlchen.
„Aber er hat es doch nicht mit Absicht getan“, verteidigte ihn Casper. „Im Grunde können Sie froh sein, dass es nur die Beine ...“
„Halt teine Klappe, sonst komm iß gleich hoch zu tir!“ Drohend fuchtelte es mit seinem Wanderstock. Casper war davon wenig beeindruckt.
„Soll ich mir die Verletzung einmal anschauen? Ich habe nämlich Medizin studiert und könnte ...“
„Is hap dis gewarnt, is hap dis gewarnt!“ Das Kerlchen machte tatsächlich Anstalten, Kalles Schuh zu erklimmen. Dieser machte eine kleine Fußbewegung und das schreiende Kerlchen flog in hohen Bogen weit in den tiefen Wald hinein.
„Aber Kalle“, meldete sich da Casper, „der wird sich ja sämtliche Knochen brechen!“
„Und wenn schon. War doch eh schon kaputt“, raunte Kalle.
Sie schauten eine Weile in den Wald.
„Weißt du, was es mit „Kirschbaums Schatten“ auf sich haben könnte?“, beendete Casper das unangenehme Schweigen.
„In dem Gedicht? Nö.“
„Ich schätze, in der Nähe eines Kirschbaums muss ein Wirtshaus oder ähnliches sein. Wo sollte man sonst die Zeche prellen können. Du weißt nicht zufällig, wo ...“
„Wir sollten jemanden aus der Gegend fragen“, fand Kalle. Er schaute sich um. „Oh, da fliegt ja einer. Hallo!“
Ein Hexer kam auf seinem Besen daher geflogen. Sein dürres Gesicht mit den glühenden Augen wirkte nicht gerade vertrauenserweckend.
„Kannst du uns sagen, wo sich hier das nächste Gasthaus befindet?“, dröhnte der Gigant.
Der Hexer flog näher und ließ den Besen direkt vor Kalles Nase schweben.
„Mag sein, dass ich euch helfen kann...“, murmelte er, nahm Zigaretten aus seinem Mantel und steckte sich eine mit Hilfe seines Zauberstabs an. „.... kostet aber ne Kleinigkeit.“
Casper war ratlos. Schließlich hatte er leere Taschen.
„An was hast du so gedacht?“, wollte Kalle wissen.
„Unter fünf Mark kommen wir nicht ins Geschäft“, sagte der Hexer, ohne ihn anzublicken.
„Ich hab noch etwas Zahngold von Opa.“
Der Hexer fiel fast vom Besen, als Kalle den Zentnerbrocken aus der Tasche geholt und ihm eine Ecke abgebrochen hatte. Er setzte seinen Spitzhut wieder zurecht, rieb sich die Nase und sagte auf Casper deutend: „Abgemacht, ich bringe den da hin. Aber du kannst nicht mit! Giganten sind hier in der Gegend nicht gern gesehen.“
„Ja, lieber Kalle, mit so etwas haben wir früher oder später rechnen müssen“, meldete sich Casper zu Wort.
Der Gigant blickte traurig auf die untergehende Sonne. Dann sagte er: „Eigentlich will ich nicht, dass du gehst. Ich hab mir immer schon immer so einen kleinen Freund für die Hosentasche gewünscht.“ Er schniefte. „Du weißt ja nicht, wie einsam ich bin. Die meisten laufen weg von mir oder werden zertreten.“
Casper senkte den Kopf. Dann ging er rüber zu Kalles Ohr und flüsterte:
„Also, wir hatten da am Anfang unsere Probleme, aber du bist eigentlich ganz in Ordnung. Es liegt auch wirklich nicht an deiner Person. Wenn dich jemand richtig kennenlernt, dann ...“
„Hört auf, bitte, bitte!“ Der Hexer kämpfte mit den Tränen, was ihm äußerst peinlich zu sein schien. „Äh, wir sollten dann los!“ Schnell setzte er wieder seine Visage auf, denn bei einem Hexer geht Image über alles.
„Du kommst hinter mir auf den Besen!“
„Da drauf?“ Casper war nicht sehr begeistert.
„Ich hab noch einen zweiten Sturzhut“, beruhigte ihn der Hexer.
„Also“, sagte Kalle zu Casper, „ich setz mich jetzt hier hin. Lass mich wissen, wenn du was in Erfahrung gebracht hast und … pass auf dich auf!“
„Ich werde wieder kommen“, versprach Casper, setzte sich den Spitzhut auf und stieg auf den Besen.
Der Hexer nickte dem Giganten zu und Kalle schaute den beiden wehmütig nach, wie sie über die dunklen Wipfel des Waldes davon flitzten.
5. Die Spelunke und die Tunke
Die volle Mondscheibe lugte über die kantigen Gipfel des Wichtelgebirges, als der Hexer zielgenau eine Lichtung ansteuerte und den Besen sachte hinab schweben ließ. Endlich wieder festen Boden unter den Füßen fragte ihn Casper erleichtert:
„Gibt es in der Nähe dieses Gasthauses zufällig Kirschbäume?“
„Nein, hier stehen nur Tannen und Fichten. Aber die Kneipe dort hinten gehört Alfons Kirschbaum.“ Der Hexer deutete auf einen Lichtschimmer, der sich unweit der Lichtung durchs Gehölz abzeichnete. Jetzt konnte Casper auch die Geräusche eines Gelages aus der Richtung wahrnehmen.
„Na dann, das wird’s wohl sein. Kommst du auch mit?“, wollte Casper wissen.
„Ähm, lieber nicht“, sagte der Hexer durch die Zähne, „ich hab dort noch ne offene Rechnung.“
„Und?“
„Die machen hier kurzen Prozess.“ Der Hexer zog sich den langnägligen Daumen über die Gurgel. Casper musste schwer schlucken.
„Kennst du zufällig einen Kirschkernknacker?“, fragte er schnell, um sich eventuell die Geschichte mit dem Zechprellen ersparen zu können.
Als der Hexer diesen Namen vernahm, riss er die ohnehin großen Augen voller Schreck noch weiter auf, ging einige Schritte rückwärts und zischte ohne sich nochmals Umzublicken mit seinem Besen davon.
„Anscheinend schon“, sagte sich Casper und machte sich auf den Weg zum Wirtshaus.
Die Spelunke war gut besucht. Zwielichtige, in Mäntel gekleidete Gestalten saßen in den Ecken und leerten lethargisch ihre Humpen. Ein hagerer Kerl mit Elfenohren lieferte mit seiner Quetschkommode die passende Hintergrundmusik.
Casper steuerte den Tresen an, hinter dem ein Berg von einem Kerl stand und einen Holzbecher polierte. Allem Anschein nach musste das Alfons Kirschbaum sein.
„Einen schönen guten Abend“, grüßte Casper den Wirt.
Dieser schaute ihn gelangweilt an, dann nahm sich einen neuen Becher aus dem Regal. Casper setzte sich auf einen der hölzernen Hocker. Er hatte sich vorgenommen, strickt nach der Anweisung des Professors vorzugehen, um weiter Verzögerungen zu vermeiden.
„Ich hätte gerne ein alkoholfreies Bier.“
„Gibt' s hier nicht“, brummte Kirschbaum.
„Ähm, dann geben sie mir das gleiche, wie der da hat!“ Casper deutete auf das Getränk seines schnarchenden Nachbarn.
Der Wirt stellte ihm einen vollen Becher hin. Casper roch vorsichtig an der braunen Brühe. Schließlich fragte er:
„Entschuldigen Sie, wie nennt man dieses Gebräu nochmal?“
„Nu, das ist Hexendunke, en Aufguss aus Zauberbilzen und erlesenen Kräudern des Schwarzholzdals“, murmelte der Nachbar plötzlich, gefolgt von einem tiefen Rülpsen.
„Was frägsd'n so blääde?“, wollte er wissen und musterte ihn mühevoll mit seinen roten Augen.
Casper war sich der brenzligen Situation voll und ganz bewusst. Er zog es vor, kein weiteres Aufsehen mehr zu erregen, setzte einen, seiner Meinung nach, sehr hinterhältiges Gesicht auf und raunte:
„Fragen kostet ja nichts, … Alter!“ Dann nahm er einem tiefen Schluck. Es schmeckte nicht mal so schlecht, wie eine Mischung aus kaltem Kaffee und Gemüsebrühe.
Es wurde Zeit für Phase Zwei.
„Ich muss mal austreten“, sagte Casper laut und erhob sich. Da es nun mal seiner Erziehung entsprach, Teller und Gläser vollständig zu leeren bevor er aufstand, so tat er dies jetzt auch und knallte den Becher demonstrativ auf die Theke. Er brauchte ja nicht nach dem Weg zur Toilette fragen, sondern nur die Zeche zu prellen, also ging er direkt zum Ausgang.
Die Türe war aus einem schimmernden Wurzelholz gefertigt und mit zahlreichen Ornamenten verziert. Casper war beim Hereinkommen gar nicht aufgefallen, wie außerordentlich kunstvoll ihre Verarbeitung war. Die Klinke bestand aus einem geschwungenen Stück vergoldetem Metall, dem Flügel eines Schwans gleich, wie von Meisterhand gemacht. Casper fragte sich, ob er jemals so etwas Schönes gesehen hatte.
Doch was war das? Diese Himmelspforte schien sich von ihm zu entfernen! Immer weiter flog sie davon und verschwand mehr und mehr in einem Strudel bunter Lichter.
„Halt, warte auf mich!“, rief Casper noch, dann sank er zusammen und es wurde schwarz um ihn herum.
6. Konrad Kirschkernknacker
Mit brummenden Schädel und schmerzenden Knöcheln erwachte Casper.
„Nie wieder Tunke“, murmelte er. Die Welt schien immer noch auf dem Kopf zu stehen. Da fiel ihm auf, dass er tatsächlich kopfüber und mit gefesselten Händen an dem Ast eines Baumes hing. Er versuchte sich zu befreien, aber ohne Erfolg. Erst jetzt wurde ihm klar, dass er nicht alleine war.
„Gib dir keine Mühe, du gehörst jetzt mir“, hörte er eine tiefe Stimme aus der Ecke der Lichtung. Dort stand mit dem Rücken zu ihm gewandt eine Gestalt, die in einem schwarzen Umhang gehüllt war.
„Lassen Sie mich doch herunter, wir sind doch erwachsene Menschen“, bettelte Casper.
„Ach, sind wir das?“
Casper wünschte es sich zumindest. Schließlich fragte er:
„Sie sind nicht zufällig Alfons Kirschkernknacker?“
Die Gestalt setzte die Kapuze ab und drehte sich langsam um.
Casper erschrak, denn was er nun sah, hatte er sich nicht in seinen finsternsten Fantasien vorzustellen gewagt. Zwei giftgrüne Augen blitzen ihm entgegen, dass heißt nur das eine, denn der Kirschkernknacker schielte. Unter seinem rotzigen Zinken hatte er den Mund zu einem teuflischen Grinsen verzogen. Sein von Motten zerfressener Mantel war über und über mit kleinen Messingglöckchen behangen.
„Ja, der bin ich. Und du solltest nicht hier sein. Das kannst du dir sicherlich schon denken.“ Er kam langsam näher. In seiner Rechten blitze eine rostige Klinge auf.
„Ich nehme an, Sie wollen damit nicht meine Fesseln durchschneiden, oder?“, fragte Casper vorsichtig.
„Na ja, Alfons hatte mich gerufen, damit ich dich zum Ausnüchtern in seinen Schuppen lege. Aber ich habe dich natürlich gleich erkannt“, sagte der Kirschkernknacker.
„Bitte, tun Sie mir nichts. Ich habe Sie gesucht und es war gar nicht so leicht, Sie zu finden. Können Sie mir nicht verraten, wie ich hier in diese fremde Welt gelangt bin?“
Er kam näher, direkt vor Caspers Gesicht. Dann flüsterte er mit seinem stinkenden Atem:
„Und warum sollte ich das tun? Du bist nichts weiter als ein Reinfall, du Witzfigur! Besser für alle, wenn ich dich gleich kalt mache.“
Diese Worte kränkten Casper, denn schließlich hielt er einiges auf sich.. Er war nun wirklich sauer.
„Moment“, fing er an, „ich erwache in einer Kiste, werden von einem Giganten durch die Gegend geschüttelt, muss auf nem Hexenbesen reiten, irgendwelche Drogen zu mir nehmen und dann kommen Sie daher und wolln mich so mir nichts dir nichts abmurksen? Sie werden mir jetzt sofort erklären was der ganze Schiet soll!“
„Das könnt ich dich auch fragen! Schließlich hab ich der alten Pockenfettl 20 Gulden für den Zauber bezahlt. Einen Dämonen, einen fleischfressenden Lindwurm hab ich bestellt. Und was bekomme ich? ... Was bist du überhaupt? Eine Nervensäge scheinst du mir zu sein. Mein Geld hab ich nicht mehr gesehen. Hab mir gedacht, versuch's halt mal und schick ihn mit der Post. Vielleicht ist er ja ansteckend.“
„Pockenfettel?“, fragte Casper.“ Der Kirschkernknacker hatte sich abgewandt und stampfte voller Zorn auf den Boden.
„Dieser verfluchte Gigant! Ich wollte sehen, wie er am Boden liegt, wie sein fetter Leib aufgerissen wird, seine Gedärme heraushängen, wie er unter Höllenqualen seinen verruchten Geist aufgibt!“ Er war auf die Knie gesunken und schrie, dass Geifer und Tränen flossen.
„Kalle? Was hat er denn getan?“, wollte Casper nach einer Weile wissen.
Der Kirschkernknacker drehte seinen Kopf und nun konnte man seine traurigen, grünen Augen sehen.
„Ich hab sie am liebsten gehabt. Sie hat mir alles bedeutet. Und er, er hat sie einfach zertreten. … Meine Anastasia.“
„Er hat Ihre Frau …“
„Hä? Nein, mein Wildschwein. Es hat mir aus der Hand gefressen. Abends haben wir's uns immer gemütlich gemacht. Wir haben zusammen ...“
Er blickte Casper wieder voller Zorn an. „Was erzähle ich dir das überhaupt?“
Er stand auf und schleckte die Klinge ab und stapfte entschlossen auf Casper zu, dass die Messingglöckchen wild klingelten.
„So, das war' s dann wohl“, dachte sich Casper. Er musste nun wohl sterben. Vor seinem geistigen Auge liefen die Höhepunkte seines Lebens nochmals ab. Viele waren es ja nicht gerade. Seine erste Obduktion. Die Gehaltserhöhung letztes Jahr. Vielleicht war es ja wirklich besser so …
7. Das Ende
Plötzlich ließ eine gewaltige Erschütterung die Erde erbeben. Dort wo eben noch der Kirschkernknacker auf ihn zugestürmt war, stand nun ein riesiger, brauner Schuh.
„Kalle?“, rief Casper erfreut.
„Ich wusste doch, dass du ein wenig Verstärkung gebrauchen kannst, Kumpel!“
„Mann bin ich froh dich zu sehen!“
Kalle kratze Konrads Überreste an einem Baumstumpf ab, dann befreite er Casper von seiner misslichen Lage.
„Und?“, brummte er lächelnd, „weißt du jetzt, warum er mir die Paketkiste gebracht hat?“
„Ja, also, da hat es einer wirklich gut mit dir gemeint“, sagte Casper. „Ach übrigens, kennst du eine gewisse Pockenfettel?“
„Nie gehört“, grübelte Kalle. „Denkst du auch, was ich gerade denke?“
„Na sicher!“ Casper zwinkerte ihm zu.
„Dann ab auf die Schulter und los geht’ s zum Professor!“, freute sich Kalle und hüpfte wie ein großes, ein sehr großes Kind.
„Du, das hat doch noch Zeit“, sagte da Casper. „Lass uns doch erst noch' n Becher Hexentunke leeren!“
„Unter drei Fässer läuft bei mir aber gar nichts!“
Und so begab es sich, dass ein Gigant mit seinem Freund auf der Schulter durch den dunklen Fichtenwald stampfte, auf der Suche nach Hexentunke und neuen Abenteuern.