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- 07.01.2018
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Die Ungewünschten
Amanda Friese will das Tabu brechen. Ihr Leben lang hat es sie und ihre Geschwister beschützt. Sie hätten die Wahrheit nicht ertragen. Vielleicht hätten sie auch Papa nicht mehr ertragen. Aber jetzt ist Papa nicht mehr da.
Das Wetter ist der Beerdigung angemessen, dem Gewühl in Amandas Innerem: Regen, schwarze Wolkenfetzen, über den Himmel eilend, ein schneidender Wind. Die Friese-Geschwister bringen die Zeremonie hinter sich und steigen in Frau Peters’ Bus. Frau Peters fährt nicht mehr; sie ist ängstlich geworden in den letzten Jahren. Marko schwingt sich auf den Fahrersitz und dreht die Musik auf, während das Auto sich einen Weg durch den Stadtverkehr sucht.
I’m gonna go, go, go, there’s no stopping me.
»Findest du das angemessen?«, fragt Lydia.
Frauke, die mit angezogenen Knien auf dem Beifahrersitz kauert, schaltet die Musik ab. Marko protestiert nicht.
Amanda presst den Kopf gegen die Fensterscheibe, das Vibrieren des Fahrzeugs rüttelt am Schädel. Sie blinzelt die flimmernden Schlieren vor den Augen weg; vielleicht bekommt sie heute noch Migräne. Wäre passend.
Carls Atem klingt so laut. Sie blickt zu ihm hoch, und er zwinkert ihr zu. Manchmal fragt sie sich, ob er auch das Tabu bewahrt.
Sie bewahren alle das Tabu. Carl erklärt ihr das Wort, damals, als sie im Keller hocken, er klebt winzige Figuren an eine Haltestelle seiner Modelleisenbahn, sie bessert Tanzkleidung aus. Stundenlang können sie im Keller miteinander schweigen. Und eines Tages fragt Carl: »Weißt du, was ein Tabu ist, Nanda?«
Sie schüttelt den Kopf. Wie alt mag sie gewesen sein? Zwölf vielleicht.
»Wenn du Papa fragst, wie es auf Arbeit war, und Frau Peters sagt, du sollst still sein — dann hast du ein Tabu aufgespürt«, sagt Carl.
Da bemerkt sie es das erste Mal: Es knackt im Gebälk, haucht ihr seinen kalten Atem in den Nacken. Das Tabu. Es lebt in Papas großem Haus, umgibt sie von allen Seiten.
»Ist alles in Ordnung, Nanda?«, fragt Carl leise.
»Klar«, sagt sie. Lehnt den Kopf wieder an die Scheibe, lässt sich das Gehirn durchschütteln.
Er streicht sich eine silbrige Haarsträhne aus dem Gesicht. Das Graumelierte steht ihm, Amanda mag ihn so.
Seine Eltern wollten ihn nicht, weil sein Haar rabenschwarz war. Aber das sagt Amanda ihm nicht.
Frau Peters ist eine sorgfältige Haushälterin, in ihrer Küche gibt es alles neunzehnmal: Teller, Tassen, Gläser. Amanda und Johannes tragen acht Gedecke hinüber ins Esszimmer. Die lange Tafel erscheint leer mit so wenigen Leuten.
Sie essen schweigend, bis Carl sagt: »Total lecker, der Kuchen.«
Frau Peters lächelt und nickt. Dabei schlackern die Falten an ihrem Hals; sieht aus, als wäre die Haut ein paar Nummern zu groß für sie. Früher war sie nicht so dürr.
Nach dem Essen bringt Amanda Frau Peters auf ihr Zimmer. An der Wand neben dem Schminktisch hängt ein Foto mit allen siebzehn Kindern darauf. Thomas kniet ganz vorne auf dem Rasen und präsentiert grinsend eine Zahnlücke.
»Hast du die anderen erreicht?«, fragt Amanda. Sie hält Frau Peters’ Arm, während die Haushälterin sich langsam im Sessel vor dem Fernseher niederlässt.
Frau Peters nickt, und die Haut am Hals wabert.
Amanda runzelt die Stirn. »Also ja?«
»Steffi und Gregor können nicht kommen«, sagt Frau Peters. »Die Kinder …« Sie lächelt. »Die Reise ist zu weit. Auch für Thomas, das hat seine Betreuerin gesagt. Und Mila erst recht. Die ist ja auf der anderen Seite der Welt. Eva will noch kommen. Übermorgen.« Sie stößt einen tiefen Seufzer aus und bettet die Füße auf einem Schemel. »Vielleicht.«
Amanda reicht ihr die Fernbedienung, schließt die knorrigen Finger um das Gerät.
»Von Camilla und Malte habe ich nichts gehört. Und die Zwillinge …« Nun lacht Frau Peters, und auch auf Amandas Gesicht stiehlt sich ein Lächeln, so schnell, sie ist selbst davon überrascht.
»Du weißt ja, wie die beiden sind«, sagt Frau Peters.
Über Darius muss sie nichts sagen. Bei seiner Beerdigung sind dreizehn von sechzehn Geschwistern aufgetaucht. Und Papa war noch dabei, eine hochgewachsene Gestalt mit Hut und Schnurrbart, Frau Peters am Arm.
»Möchtest du noch etwas trinken?«, fragt Amanda.
»Weißt du, ich habe siebzehn Kinder großgezogen«, sagt Frau Peters. Sie streckt die Fernbedienung Richtung Fernseher, und knisternd erwacht der alte Flachbildschirm zum Leben. »Und ich kann dir genau sagen, welches das süßeste, das aufmerksamste, das klügste, das schnellste, das kreativste, das mutigste Kind ist.«
Amanda nickt, als hätte sie verstanden. Sie atmet tief ein, streicht sich über die Schläfe. Dahinter grummelt bereits der Kopfschmerz, bereitet sich auf den Migränesturm vor. »Denkst du, wir sollten es den anderen sagen?«
»Hast du dich je ungewünscht gefühlt, Amanda?«
Sie muss für einen Moment die Augen schließen, das Flimmern vertreiben.
»Er hat euch mehr als alles andere geliebt«, sagt Frau Peters, »aber er war nicht besonders mutig.«
Amanda beugt sich hinunter und drückt einen Kuss auf die Papierhaut. »Ich bin nebenan, wenn du etwas brauchst.«
Lautlos schließt sie die Tür hinter sich.
Sie liegt in der Dunkelheit, die Füße ans Bettende gestemmt. Schon als Vierzehnjährige hat sie nicht mehr ins Bett gepasst. Ob ihre Eltern sie wohl behalten hätten, wenn sie gewusst hätten, dass sie zwar nie ein Junge, dafür aber über einsachtzig groß sein würde?
Die Kopfschmerzen rauben ihr den Schlaf. Und über ihr hat Marko sein Kinderzimmer wieder bezogen, spült Musik durchs Haus. Sie kann die Worte mitsprechen, vor allem diese Worte, die Papa immer gemurmelt hat, wenn eines der Geschwisterchen einen Trotzanfall hatte: »Oh, oh, oh, oh, oh, explode …«
Marko spielt den Song in Dauerschleife. Papas Lieblingssong.
Ein Klopfen an der Tür schreckt Amanda auf. Sie will den Kopf heben, doch ein stechender Schmerz schickt sie zurück in die Waagerechte.
Sie ächzt, ruft: »Herein!«
»Dunkel hier.« Carl lacht leise. »Migräne?«
Amanda brummt. »Mach die Tür zu.«
Er setzt sich auf die Bettkante und zieht ihre Füße auf seinen Schoß. Beginnt sofort, die Sohlen zu kneten. So wie früher. »Bist du wirklich okay?«, fragt er.
Sie hält die Augen geschlossen. Den Mund auch. Hat sowieso keine Antwort. Zumindest nicht die richtige. Denn was sollte sie sagen? Die Wahrheit? Das Tabu brechen?
»Fühlt sich komisch an, das Haus ohne Papa«, sagt Carl.
»Und Frau Peters …« Jedes Wort verstärkt das Hämmern im Schädel. »… sollte nicht allein bleiben.« Allein mit dem Tabu, das in den alten Rohren zischt, an den Wänden kratzt. Alle Geschwister haben davor Reißaus genommen.
»Willst du hier einziehen?«
Sie beißt sich auf die Unterlippe. Ein Sechzehntel des Hauses gehört jetzt ihr. An den Gedanken kann sie sich nicht gewöhnen. Es ist Papas Haus, voller Geheimnisse und verbotener Orte.
Das Geheimnis hat sie schon immer angelockt. Amanda ist das aufmerksamste Kind. Sie kümmert sich um alle, denkt an alles — aber sie will auch alles wissen. Und das Verbot konnte sie nicht von Papas Arbeitszimmer fernhalten.
Sie bereut, sich dorthin geschlichen zu haben, als Papa damals nach den streitenden Zwillingen schaut. Amanda späht aus ihrem Zimmer, und am Ende des Flurs fällt ein Lichtstrahl durch die angelehnte Arbeitszimmertür. Das Geheimnis winkt ihr zu, und sie schlüpft durch ihre Zimmertür, eilt auf bloßen Füßen über den dicken Teppichboden. Auf das Licht zu.
Wie einfach wäre ihr Leben gewesen, ohne es zu kennen. Sie hätte sich nie ungewünscht gefühlt.
»Frau Peters könnte ausziehen«, sagt sie.
Carl knetet weiter ihre Fußsohlen. Schweigt einen Moment. »Das Haus verkaufen?«
Sie antwortet nicht. Die Stille muss reichen.
Er seufzt. »Dann müssen wir das Arbeitszimmer ausräumen.«
Etwas kratzt im Hals, kitzelt auf ihrer Zunge. Wie ein Krümel Brausepulver. Das Tabu. Es will hinaus. Amanda schluckt und streicht mit den Fingerspitzen über die Kehle. Denkt an die Falten an Frau Peters’ Hals. Vielleicht kommen die vom Tabu, das sich immer wieder nach oben zwängen will.
Es ist da, um Carl zu beschützen. Er soll sich nicht ungewünscht fühlen. Das hat Papa ihr eingebläut. Verrate es niemandem, Amanda!
»Ich könnte das machen«, sagt Carl.
»Nein!« Ihre Stimme — ein Krächzen. Sie hustet.
»Was?«
»Ich mache das.«
»Ich weiß nicht, Nanda.« Er schiebt ihre Füße weg. »Das scheint dich mitzunehmen.«
Sie setzt sich auf und blinzelt die flimmernden Lichter von der Netzhaut. Versucht, sein Gesicht klar zu sehen. »Ich habe Migräne. Na und?«
»Du musst dich nicht um alles kümmern.«
Einen Moment starren sie einander an. Bis Amanda die Augen wieder schließt.
»Carl.« Sie atmet tief ein, presst die flache Hand aufs Gesicht. »Erinnerst du dich daran, was du über das Tabu gesagt hast?«
Sie sieht ihn nicht, doch sie weiß, er runzelt die Stirn. Weiß genau, wie sein Gesicht dabei aussieht. Sie kennen einander so gut.
»Klar«, sagt er schließlich.
»Das Arbeitszimmer ist tabu.«
Es bleibt still zwischen ihnen. Carl streckt sich neben ihr auf dem schmalen Bett aus, und sie lauscht dem ruhigen Atem. Bis sie endlich einschläft.
Bei Frau Peters läuft das Frühstücksfernsehen. Amanda leistet ihr Gesellschaft, während sie neue Riemen an die Tanzschuhe näht. Frau Peters beachtet den Fernseher nicht, schaut auf Amandas Finger, den Faden, die Naht.
Sie nickt. »Gut machst du das.«
»Das mache ich schon, seit ich sechs Jahre alt bin.«
Frau Peters lächelt. »Du bist besser geworden. Ich würde dich gerne wieder tanzen sehen.«
Bei diesen Worten zittern Amandas Hände so sehr, sie muss die Nadel senken. »Frau Peters, ich habe nachgedacht. Du kannst hier nicht allein wohnen bleiben.«
Frau Peters legt den Kopf schief, mustert Amanda aus den scharfen Augen. Sie sieht alles. Direkt in Amanda hinein. »Wer räumt Papas Arbeitszimmer aus?«, fragt sie.
»Vielleicht … ist es das beste, wenn ich zu dir ziehe.«
»Hast du Angst, es deinen Geschwistern zu sagen?«
In Amandas Kopf ist keine Antwort, nichts. Angst? Auch keine Angst. Nur das Tabu, das keinen Platz für etwas anderes lässt.
»Dein Vater und ich, wir waren nie besonders mutig.«
»Ihr habt siebzehn Kindern ein Zuhause gegeben!«
»Wir haben wohl zu viel Liebe in uns.« Frau Peters hebt die Fernbedienung, und das Frühstücksfernsehen erlischt. »Aber keinen Mut. Weißt du, wer das mutigste von meinen Kindern ist?«
Die Antwort fällt in Amandas Kopf, einfach so. Der Migräneschmerz war schon am Morgen verschwunden, doch endlich klaren auch die Gedanken auf. Sie kennt die Antwort.
Carl hat sich vor seiner Modelleisenbahn aufgebaut, Hände in die Hüften gestemmt. Die Konturen seiner Silhouette schimmern gelblich in der funzligen Lampe. Amanda verharrt neben ihm, blickt auf die Landschaft, die winzigen Figuren, die stehenden Züge.
»Muss entstaubt werden«, sagt Carl.
»Ich kümmere mich drum.«
Er wendet sich ihr zu, leckt sich über die Lippen. »Ich habe nachgedacht. Es ist wohl das beste, wenn ich hier einziehe.«
Sie presst die Fingerknöchel auf die Augenlider, erwartet für einen Moment den Kopfschmerz zurück. Der aber bleibt aus. »Damit niemand von uns das Arbeitszimmer ausräumen muss?«, fragt sie.
»Nanda …«
»Du weißt längst Bescheid«, sagt sie. »Ich auch.«
Er fährt sich durchs Haar. Sagt nichts.
Das Tabu kratzt wieder im Hals, prickelt auf der Zunge. Sie glaubt, sein Summen im Raum zu hören, das Zischen unter der Decke. Dies ist sein Revier, sein Zuhause, es geht nicht weg. »Du musst es den anderen sagen.«
»Müssen sie es wissen?«
»Hat Papa dir je einen Grund gegeben, dich ungewünscht zu fühlen?«, fragt sie. Mutig. Sieht ihm direkt ins Gesicht.
Carl hebt die Hände. Lässt sie wieder herunterflattern, und da baumeln sie an seinen langen Armen.
»Als ich es herausgefunden habe, dachte ich, ich überlebe das nicht«, sagt Amanda. Vor dem inneren Auge sieht sie wieder die Ordner, ganz oben in Papas Aktenschrank. Und die Beschriftung: Rückgabeverfahren Amanda Schreyer 2036. »Aber ich bin immer noch hier. Carl? Ist das fair?«
Er verschränkt die Arme vor der Brust. Vielleicht, damit die Hände nicht mehr baumeln müssen. Zieht die runden Schultern hoch. »Tabus erfüllen einen kulturellen Zweck. Wusstest du das?«
Mit verschränkten Armen liegt Amanda auf dem Bett, lauscht der Musik aus Markos Zimmer. I’m a rocket ship on my way to Mars on a collision course …
Schritte vor der Zimmertür. Sie setzt sich auf. Jemand eilt vorbei, den Flur entlang. Am Ende des Flurs ist das Arbeitszimmer. Dort ist das Summen, Kratzen, Atmen am lautesten. Die Quelle des Tabus. Papas Heiligtum.
Amanda springt aus dem Bett und reißt die Tür auf. Im Arbeitszimmer zerrt Carl die Ordner aus dem Schrank. Er beachtet sie nicht, jagt die Unterlagen durch den Schredder. Siebzehn Rückgabeverfahren.
Ob irgendeine Behörde wissen muss, dass sie Ungewünschte sind?
»Geh ins Bett, Nanda«, sagt Carl.
Als sie sich umdreht, steht Frau Peters hinter ihr, an den Türrahmen gestützt. Amanda nimmt ihre Hand und drückt sie ganz fest, die zarten Knochen, die weiche Haut.
Zwei Tage nach Papas Beerdigung ist auch Eva da, zu neunt sitzen sie an der Frühstückstafel. Vielleicht werden sie nie wieder alle zusammenkommen. Amanda isst nichts, im Magen rumort das Tabu.
Frauke und Marko überlegen, eine Playlist mit Papas Lieblingsliedern zusammenzustellen und an alle zu schicken, die nicht kommen konnten. Oder nicht kommen wollten. Die anderen hören zu oder hören nicht zu — Amanda starrt Carl an, die Papierschnitte an seinen Fingern.
Schließlich erhebt sie sich. Acht Augenpaare richten sich auf sie, und Frauke hört mitten im Satz zu sprechen auf. Das Tabu ist wieder da, rinnt kribbelnd durch Amandas Körper, fließt aus ihr hinaus auf die Tischplatte. Erfüllt die Luft mit brummender Elektrizität.
»Nanda«, zischt Carl.
Sie öffnet den Mund. »Papa hat euch immer geliebt, so wie ihr seid.« Die Stimme zittert, und sie muss tief einatmen, bevor sie weitersprechen kann: »Aber eure Eltern nicht.« Ihr Blick wandert von Frauke, zu Lydia, zu Marko, zu Jenny, zu Eva, zu Johannes. Zu Carl.
Sie sind nicht überrascht.
Frauke erhebt sich und schlingt die Arme um Amanda, zieht sie an sich. Der Geruch von Erdbeerwaschmittel steigt in Amandas Nase. Nur für einen Moment schließt sie die Augen.
Oh, oh, oh, oh, oh, explode.
- Quellenangaben
- "Don't stop me now" von Queen (Album: Jazz (1978))