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Die Truman Show
Es war nicht dasselbe Zeug wie sonst, das merkte man Toby auch an. Er war ganz anders drauf als bei den letzten Malen. Kein unkontrolliertes Lachen, kein ungläubiges Bestaunen von einfachen Gegenständen, kein Gerede, er könne Geräusche fühlen oder sein Geist habe sich von seinem Körper getrennt. Er starrte mit riesigen Pupillen auf den Laptop, sein Mund stand leicht offen.
Sein Körper war eiskalt, obwohl ich uns zugedeckt hatte. Ich lag dicht bei ihm, selbst wenn ich gewollt hätte, könnte ich in dem schmalen Bett in seinem kleinen Zimmer im Studentenwohnheim nicht von ihm weichen. Wir müssen eben etwas kuscheln, hatte er damals, als ich das erste Mal bei ihm übernachtete, mit einem scheuen Grinsen gesagt.
Ich bettete meinen Kopf auf seine Schulter, ich spürte sein Herz rasen.
„Alles in Ordnung, Schatz?“, fragte ich.
Toby regte sich nicht. Völlig gedankenleer sah er den Bildschirm an, gähnende Leere lag in seinem Blick.
„Verstehst du den Film denn überhaupt?“, hakte ich nach.
„Hm, was?“ Für einen Moment tauchte er aus seiner Trance auf und sah mich an.
„Wie viel hast du eigentlich geschmissen, Schatz?“
„Eine. Nur eine. Und du?“ Er sprach langsam, als müsste er jedes Wort mühsam aus den Tiefen seiner Erinnerungen kramen.
„Keine, hab ich dir doch gesagt. Die Frauenärztin sagt, das verträgt sich nicht mit der Pille.“
„Ah“, brummte er und drehte seinen Kopf wieder zum Bildschirm.
„Also, verstehst du, um was geht?“
Ich strich ihm eine Strähne aus dem Gesicht, er zuckte reflexhaft zurück, ließ mich dann aber gewähren.
„Der Typ findet gerade heraus, dass sein ganzes Leben nur eine Show ist“, erklärte ich. „Er wird seit seiner Geburt gefilmt und alle Menschen um ihn rum sind nur Schauspieler. Auch seine Frau und sein bester Freund. Er wird immer überall gefilmt, und das wird dann in die ganze Welt übertragen. Deswegen ja auch Truman Show, verstehst du?“
Er nickte, doch ich glaubte nicht, dass er tatsächlich begriffen hatte. Dann riss er plötzlich die Augen auf und blickte sich gehetzt im Zimmer um. Sein Körper verkrampfte, hektisch sah er zur Tür, dann zum Fenster, dann wieder zur Tür. Er zitterte.
„Und du hast echt nur eine genommen? Toby?“
„Ja, hab ich doch gesagt!“, antwortete er gereizt, während sein Blick immer noch unruhig durchs Zimmer schweifte.
„Okay, okay. Ist ja gut.“ Ich gab ihm einen Kuss auf die Wange und kuschelte mich wieder an seine Schulter. Er entspannte sich und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Film.
Ein paar Minuten später richtete er sich plötzlich auf und sah sich wieder im Zimmer um.
„Warum bist du denn so nervös, Schatz?“
Er blickte mich unverwandt an, dann rückte er so weit von mir weg, wie es in dem schmalen Bett nur ging.
Als der Film vorbei war, starrte er an die Decke. „Also haben es alle nur gespielt?“, fragte er lahm.
„Ja. Aber er ist ja zum Schluss rausgekommen.“
Toby richtete sich auf, stieg über mich herüber und wankte mit mechanischen Schritten zur Toilette. Als er zurückkam, öffnete er die oberste Schublade seiner Kochnische. Er wühlte kurz darin, dann zog er das große Küchenmesser heraus und wandte sich zu mir um.
„Schatz, leg das Messer weg. Das ist jetzt in deinem Zustand keine gute Idee.“
Er wankte auf mich zu, das Messer so fest umklammert, dass seine Fingerknöchel weiß anliefen. Ich erkannte ihn in seinen Augen nicht wieder. Er schien mich nicht zu erkennen, da lag nur ratlose Leere in seinem Blick. Dann flackerte ein Funke unverhohlener Hass auf.
„Ihr habt alles nur gespielt?“, brüllte er.
„Toby, was ist de…“, sagte ich, doch er unterbrach mich.
„Zeig mir die Kameras!“, schrie er.
„Welche Kameras? Scheiße, Toby, was redest du da?“
„Glaubst du, du kannst mich verarschen?“
„Toby, du machst mir Angst.“ Meine Stimme brach, ich weinte.
„Wo sind die Kameras?“, kreischte er und hob das Messer.
Ich stand auf, wich zurück, doch die Türe war hinter ihm.
„Es gibt keine Kameras! Toby, das war nur ein Film! Hörst du? Nur ein Film!“
„Das würdest du nur sagen, wenn es die Kameras in Wahrheit gibt!“
Er machte einen weiteren Schritt auf mich zu, die zitternde Hand mit dem Messer vor seine Brust gehoben, die Klinge auf mich gerichtet.
„Toby, bitte!“, heulte ich. „Du bist einfach high! Es war nur ein Film!“
„High?“, schrie er. „Warum solltest du das sagen, wenn es keine Kameras gibt? Hm? Ich hab‘ dich durchschaut, ich hab euch alle durchschaut!“
Ich stieß mit dem Rücken an die Wand. Er stand nur einen halben Schritt vor mir. Das Messer wenige Zentimeter vor mir auf der Höhe meines Halses.
„Toby, …“, wimmerte ich.
„Wo sind die Kameras?“, brüllte er.
Mit der freien Hand packte er meine Schulter, drückte zu.
„Du tust mir weh, Toby!“
„Wo sind die Kameras!“, wiederholte er.
„Scheiße, wovon sprichst du? Bitte, lass uns …“
„Sag mir, wo die Kameras sind, oder ich schwöre, ich stech‘ dich ab!“
Seine Augen ließen keinen Zweifel daran, dass er es ernst meinte.
Ich schluchzte.
Ich zeigte auf seine Kaffeemaschine, dann auf seine Schreibtischlampe, zuletzt auf sein Bücherregal.
Er folgte meinem Zeigefinger, nickte hektisch, dann packte er das Messer noch fester.
„Die Show ist vorbei!“, schrie er durchs Zimmer. „Hört ihr? Das war’s! Keine Kameras mehr, oder ich schwöre, ich stech‘ jeden von euch Schauspielern ab!“
Zur Betonung schüttelte er das Messer, dann wandte er sich wieder an mich. „Wer steckt da noch mit drin? Meine Mutter? Lenny und Simon? Marina?“
Ich sah zu Boden. „Alle. Alle stecken mit drin. Toby, bitte nimm das Mes…“
„Sam?“ Bei der Erwähnung seines Bruders stiegen ihm Tränen in die Augen.
„Auch Sam.“
Er begann noch stärker zu zittern, Verzweiflung schrie aus seinen geweiteten Pupillen. Er ließ das Messer fallen, japste nach Luft, dann heulte er. Er schluchzte und schrie, Tränen rannen seine Wangen herab.
Ich machte einen Schritt auf ihn zu und umarmte ihn. Er erwiderte meine Umarmung, drückte mich fest an sich, während er hemmungslos heulte. So standen wir eng umschlungen da. Eine kleine Ewigkeit verging, in der ich nur sein Schluchzen hörte.
Irgendwann hatte er sich beruhigt, sein Kopf war erschöpft auf meine Schulter gesunken.
Er schniefte. „Schatz?“, sagte er dann.
„Ja?“
„Das ist nur ein Film, oder?“
„Ja“, sagte ich. Und dieser Teil hat den Zuschauerrekord geknackt, fügte ich im Geiste hinzu.