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Die Tropfen
„Uihh!“, rief das kleine Mädchen, als es die Tropfen an der Scheibe entdeckte. Erst waren sie klein, wie Pünktchen, dann wuchsen sie und liefen schlussendlich wie kleine Bäche die Scheibe hinab. Sie versuchte vergeblich mit der Zunge die kleinen Tröpfchen aufzufangen aber sie stellte sich vor diese kleinen Bäche aufzulecken. Der Himmel war grau und von ihrem Kinderzimmerfenster aus konnte sie die Leute sehen, die mit bunten Regenschirmen die Straße entlangliefen. Die Scheinwerfer der Autos zeichneten weiße Streifen auf dem nassen Asphalt.
Hinter der Tür hörte sie die Eltern streiten.
Sie nahm ihren Adventskalender heimlich von der Wand und versuchte ein Türchen zu öffnen. Eigentlich durfte sie es nicht, denn morgen ist Nikolaus und das Türchen ist besonders groß. Es würde auffallen, wenn sie es vorher öffnete. Der Nikolaus wäre bestimmt sauer und würde ihr nur eine Rute in die Stiefel stecken.
Jetzt polterte es hinter der Tür und Mama schrie etwas. Sie hielt sich die Ohren zu und sang ein Lied. „Morgen Kinder wird’s was geben la, la, la, mmm, mm, mm!
Wenn sie ganz laut sang und sich dabei die Ohren zuhielt, hörte sie den Streit nicht mehr. Dann stand sie auf und baute sich eine Höhle in ihrem Zimmer. Sie stellte den Stuhl und den Tisch neben das Bett und warf zwei Decken darüber, prima. Jetzt holte sie das Bettzeug und ihre Kissen, den Teddy und ihre Kuscheltiere. Dann versteckte sie sich in der Höhle, darin war es dunkel aber gemütlich. Sie holte ihre Taschenlampe, jetzt war sie Urwaldforscherin und lebte mit dem Teddy im Dschungel. Sie mussten ganz leise sein, denn die wilden Tiere schlichen um die Höhle und wollten sie fressen. Manchmal hörte sie von fern das Gebrüll von gefährlichen Löwen und Bären. Aber sie passte auf Teddy auf, er war ja auch ein kleiner Bär, aber ein ganz lieber. Teddy war ihr einziger Freund. Wenn sie nicht einschlafen konnte, vergrub sie ihr Gesicht im Fell von Teddy, an der Stelle war schon viel von dem Plüschfell abgeschabt. Aber hier roch es so gut.
Immer wieder hörte sie die wilden Tiere auf dem Flur schreien und poltern, sie kamen jetzt näher. Nun schluchzte sie leise vor Angst. Nur keinen Lärm machen! Teddy hatte auch ganz doll Angst bekommen und die Kuscheltiere schlotterten. Sie schlich mutig zum Bücherregal und holte ihre liebsten Bilderbücher, dann schauten sie sich die Bücher zusammen an und sie erklärte den Kuscheltieren die Geschichten darin. So konnten sie zusammen den schlimmen Sturm überstehen. Vorsichtig löste sie drei kleine Türchen aus dem Adventskalender und nahm die Stückchen Schokolade heraus und teilte sie mit Teddy und dem Einhorn. Die süße Schokolade fühlte sich weich und klebrig im Mund an und schmeckte so gut. Sie drückte die Türchen wieder zu und strich sie mit den Fingern glatt.
Draußen auf dem Flur tobte die Schlacht weiter, es polterte und schrie immer noch. Ihre Eltern kämpften jetzt sicher mit den wilden Tieren. Sie war sich sicher, Papa würde Mama und sie verteidigen, wie ein tapferer Ritter aus den Märchen. Türen knallten, auch ihre Tür wackelte. Jetzt kommen sie rein! Sie versteckte sich unter ihrer Decke und machte den Ohrentrick nochmal. „In der Weihnachtsbäckerei la la la mm,mm mm!“
Sie musste jetzt pinkeln. Aber sie konnte doch nicht hinaus auf dem Flur, wo die wilden Bestien warteten. Sie waren jetzt ganz still geworden. Sicher warteten sie hinter der Tür, um sie zu fressen. Was sollte sie nun machen? Sie hielt sich die Hände fest zwischen die Beine und versuchte das Pipi aufzuhalten, zurück zudrücken. Aber dann musste sie nießen und bekam die warme Flüssigkeit über die Hände. Die Decken auf dem Höhlenboden waren auch nass. Sie schlich zum Kleiderschrank und holte sich frische Kleidung raus. Mit der nassen Hose versuchte sie die Decke trockenzureiben.
Als das nicht klappte, rollte sie die nasse Wäsche in die Decke und versteckte das Paket unter ihrem Bett. Oh weh, was würde Mama sagen, wenn sie die nasse Wäsche fände? Bestimmt würde sie wieder schimpfen, schreien und weinen, dass sie so viel Arbeit und Sorgen hätte, aber sie, ja sie allein machte ihr das Leben zur Hölle. Wie immer war sie wie schuld daran und musste Mama trösten. Wenn Papa das sähe, schimpfte er wieder mit Mama und das Unwetter ginge wieder von vorn los.
Im Kindergarten war es schön, da schien immer die Sonne. Dort konnte sie mit den anderen Kindern spielen und lachen. Ja, auch da wurde hin und wieder gestritten, doch Andrea und Claudia passten auf, dass niemand Angst haben und sich verstecken muss. Sie trösteten sie und es war schön bei Andrea auf dem Schoß zu sitzen und sich an sie zu kuscheln, wenn sie eine Geschichte vorlas. Andrea war weich und warm und roch so gut. Morgen darf sie wieder in den Kindergarten und sicher würde über Nacht das Unwetter vorbei sein. Ja, morgen scheint die Sonne wieder, sagte sie sich.
Sie schlief in ihrer Höhle ein. In der Nacht musste sie zur Toilette gehen und schlich sich aus dem Kinderzimmer. Ganz leise öffnete sie Badezimmertür, machte aber das Licht nicht an. Dann ging sie auf Zehenspitzen wieder in ihr Zimmer und versteckte sich in der Höhle. Eigentlich hatte sie Hunger und Durst, sie traute sich aber nicht in die Küche. Erstens konnte sie der Nikolaus erwischen und dann gab es Morgen keine Süßigkeiten und zweitens schliefen die wilden Tiere vielleicht noch in der Küche und würden sie fressen.
Teddy hatte außerdem noch immer ganz viel Angst und das Einhorn auch. Da war es besser, dass sie die Tiere beschützt. Morgen früh würden Papa und Mama die wilden Bestien schon weggejagt haben. Morgen früh würden sie zusammen frühstücken. Wie immer nach einer solchen Nacht, waren die Eltern ganz doll lieb zu ihr und sie würde viele Nutellatoast und Kakao bekommen. Mit diesen Gedanken konnte sie schnell wieder einschlafen.
Als sie am Morgen aufwachte, war die Wohnung ganz still. Die Eltern schliefen wohl noch und hatten vergessen sie zu wecken. Seltsam, Papa musste doch immer ganz früh zur Arbeit? Es war noch nicht ganz hell und sie macht sich für den Kindergarten fertig. Sie geht ins Bad und sieht Papa in der Wanne liegen, er schläft tief und fest. Sein Kopf liegt halb im Wasser. Komisch er hat noch Sachen an und das Badewasser ist ganz rot. Rote Tropfen rinnen über den Badewannenrand. Ganz leise putzte sie sich die Zähne und wusch sich das Gesicht, um ihn nicht zu wecken.
Sie rief nach Mama, doch sie war nicht da. Im Schlafzimmer nicht und auch nicht im Wohnzimmer. Überall lagen Sachen herum, im Schlafzimmer standen die Türen vom Schrank offen und Mamas Kleider lagen auf dem Bett. Ob sie jetzt wohl die Brötchen holt?
In der Küche ist ein großes Durcheinander. Scherben liegen auf dem Boden und sie musste aufpassen, um nicht hineinzutreten. Die wilden Tiere hatten hier schlimm gewütet. Leere Flaschen standen auf dem Küchentisch und in den Gläsern roch es scharf nach den Getränken. Sie machte sich ein Toastbrot mit Nutella und stellte den Abwasch auf den Geschirrspüler. Dann trank sie einen großen Becher Kakao. Der Nikolaus war noch nicht da gewesen. Schade.
Wann kommt Mama, um sie zum Kindergarten zu bringen? Sie muss doch jetzt los? Die schimpft jetzt bestimmt mit Nikolaus, weil er sich verspätet hat.
Sie zieht sich ihre roten Stiefel an und setzt die Mütze von Mama auf. Auf dem Boden liegt der Lippenstift von Mama. Sie bemalt sich die Lippen, genau wie Mama es macht und nimmt auch noch den Schal von Mama, der so gut nach ihrem Parfüm riecht. Sie nimmt ihren Rucksack will los, doch Teddy und das Einhorn jammern, sie wollen mitkommen, nicht allein sein. Na gut, ausnahmsweise. Sie muss jetzt los, Andrea wartet doch.
Den Weg zum Kindergarten kennt sie, er ist nicht weit und sie ist jetzt ein großes Mädchen. Dann steckt sie die Tiere in den Rucksack und zieht die Tür hinter sich zu.